key: cord-022178-4oh02tlr authors: Markl, Jürgen; Sadava, David; Hillis, David M.; Heller, H. Craig; Hacker, Sally D. title: Evolution von Genen und Genomen date: 2018-10-12 journal: Purves Biologie DOI: 10.1007/978-3-662-58172-8_23 sha: doc_id: 22178 cord_uid: 4oh02tlr Der Erste Weltkrieg endete im November 1918. Die Zahl der Todesfälle in den vier Kriegsjahren wurde jedoch schon bald übertroffen von den Opfern einer massiven Grippeepidemie, an der weltweit über 50 Mio. Menschen starben – und damit mehr als doppelt so viele wie in den Schlachten des Ersten Weltkriegs. Die Pandemie von 1918/1919 war insofern bemerkenswert, als die Sterberate unter jungen Erwachsenen, die einer Grippe gewöhnlich mit viel geringerer Wahrscheinlichkeit zum Opfer fallen als Kinder und Greise, um das 20-Fache höher lag als bei den vorherigen und später folgenden Grippeepidemien. Warum erwies sich dieses Grippevirus speziell unter den normalerweise widerstandsfähigsten Menschen als so tödlich? Der Virusstamm von 1918 löste im menschlichen Immunsystem eine besonders starke Reaktion aus. Infolge dieser Überreaktion waren Menschen mit einem leistungsfähigen Immunsystem tendenziell stärker betroffen. Der Erste Weltkrieg endete im November 1918. Die Zahl der Todesfälle in den vier Kriegsjahren wurde jedoch schon bald übertroffen von den Opfern einer massiven Grippeepidemie, an der weltweit über 50 Mio. Menschen starben -und damit mehr als doppelt so viele wie in den Schlachten des Ersten Weltkriegs. Die Pandemie von 1918/1919 war insofern bemerkenswert, als die Sterberate unter jungen Erwachsenen, die einer Grippe gewöhnlich mit viel geringerer Wahrscheinlichkeit zum Opfer fallen als Kinder und Greise, um das 20-Fache höher lag als bei den vorherigen und später folgenden Grippeepidemien. Warum erwies sich dieses Grippevirus speziell unter den normalerweise widerstandsfähigsten Menschen als so tödlich? Der Virusstamm von 1918 löste im menschlichen Immunsystem eine besonders starke Reaktion aus. Infolge dieser Überreaktion waren Menschen mit einem leistungsfähigen Immunsystem tendenziell stärker betroffen. In der Regel können wir uns im Kampf gegen Viren schon auf unser Immunsystem verlassen. Die Immunreaktion bildet auch die Grundlage der Impfung. Seit 1945 haben spezielle Impfprogramme gegen Grippeviren dazu beigetragen, die Anzahl und Schwere der Grippefälle in Grenzen zu halten. Allerdings wirkt der Impfstoff eines bestimmten Jahres vermutlich nicht gegen die Viren des folgenden Jahres. Der Grund: Es entwickeln sich ständig neue Stämme von Grippeviren und sorgen für genetische Variabilität in der Population. Würden diese nicht evolvieren, könnten wir eine dauerhafte Resistenz gegen sie aufbauen. Das würde die jährliche Grippeimpfung überflüssig machen. Da die Viren aber evolvieren, müssen Pharmaunternehmen jedes Jahr einen neuen, anderen Grippeimpfstoff entwickeln und in ausreichender Menge bereitstellen. Die Immunantwort von Wirbeltieren wird ausgelöst, wenn das Immunsystem Proteine auf der Virenoberfläche erkennt. Demnach kann das Virus durch Veränderungen seiner Oberflächenproteine der Immunabwehr entkommen. Je größer die Anzahl der Veränderungen der Oberflächenproteine ist, desto eher werden die Virenstämme vom Immunsystem nicht erkannt, können ihre Wirte infizieren und haben damit einen Vorteil gegenüber anderen Stämmen. Biologen verfolgen, wie sich die Oberflächenproteine der Grippeviren von Jahr zu Jahr ändern. Dadurch beobachten sie die Evolution in Aktion. Mit diesen Erkenntnissen können sie dann wirkungsvollere Impfstoffe entwickeln. Durch die Erforschung von rasch evolvierenden Organismen hat man sehr viel über die molekularen Grundlagen der Evolution gelernt. Die Ergebnisse molekularer Evolutionsstudien finden wiederum Anwendung in der Praxis, etwa bei der Entwicklung besserer Strategien zur Bekämpfung tödlicher Krankheiten. In "Experiment: Warum war die Grippepandemie von 1918/19 so schlimm?" in 7 Abschn. 23.4 und in 7 "Faszination Forschung" am Ende dieses Kapitels finden Sie Antworten auf diese Frage. Das Genom eines Organismus oder Virus setzt sich zusammen aus der Gesamtheit aller seiner Gene sowie sämtlichen nichtcodierenden Abschnitten der Erbsubstanz. Bei Eukaryoten finden sich die meisten Gene auf den Chromosomen im Zellkern, es gibt aber auch Gene in den Mitochondrien und Chloroplasten. Bei Organismen mit sexueller Fortpflanzung vererben sowohl die männlichen als auch die weiblichen Individuen Gene der nucleären DNA, hingegen werden Mitochondrien-und Chloroplastengene in der Regel nur über das Cytoplasma der Eizellen weitergegeben. Durch Sequenzalignments können Biologen bei einzelnen Individuen oder Arten auftretende Nucleotid-oder Aminosäuresubstitutionen nachweisen. Wird alleine die Anzahl der Nucleotidsubstitutionen oder Aminosäureaustausche zwischen Sequenzen ermittelt, führt dies häufig dazu, dass die tatsächliche Zahl der zugrunde liegenden Veränderungen unterschätzt wird. Damit Genome von Eltern an die Nachkommen weitergegeben werden können, müssen sie zunächst repliziert werden. Die Replikation der DNA verläuft jedoch, wie Sie bereits wissen, nicht ohne Fehler. Fehler bei der DNA-Replikation -Mutationenliefern einen Großteil des Ausgangsmaterials für evolutionäre Veränderungen. Mutationen sind eine Grundvoraussetzung für das langfristige Überleben von Organismenpopulationen, denn sie bilden die eigentliche Quelle für die genetische Variabilität, die es Populationen ermöglicht, als Reaktion auf Veränderungen ihrer Umwelt zu evolvieren. Ein bestimmtes Allel eines Gens kann erst dann an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, wenn ein Individuum, das dieses Allel besitzt, überlebt und sich fortpflanzt. Das betreffende Allel muss in Kombination mit zahlreichen anderen Genen des Genoms funktionieren, sonst wird es von der Selektion rasch ausgelesen. Darüber hinaus werden das Ausmaß und der Zeitpunkt der Expression eines Gens streng reguliert. Aus diesem Grund kann man die Gene eines einzelnen Organismus als interagierende Mitglieder einer Gruppe betrachten, unter denen Arbeitsteilung herrscht, aber auch starke wechselseitige Abhängigkeiten bestehen. Ein Genom ist also nicht einfach eine willkürliche Ansammlung von Genen, die auf den Chromosomen in zufälliger Reihenfolge angeordnet sind. Vielmehr handelt es sich dabei um eine komplexe Zusammenstellung miteinander interagierender Gene, Regulationssequenzen und Strukturelemente. Dazwischen liegen Abschnitte aus nichtcodierender DNA, die vermutlich kaum eine direkte Funktion erfüllen. Die Positionen der Gene unterliegen genau wie ihre Abfolge einem evolutionären Wandel; das Gleiche gilt für den Umfang und die Lage der nichtcodierenden DNA-Abschnitte. All diese Veränderungen können sich auf den Phänotyp eines Organismus auswirken. Mittlerweile haben Biologen die Genome einer großen Zahl von Organismen einschließlich des Menschen vollständig sequenziert. Die in diesen Sequenzen enthaltenen Informationen tragen dazu bei, dass wir heute besser verstehen, wie und warum sich Organismen unterscheiden, wie sie funktionieren und wie sie sich im Verlauf der Evolution entwickelt haben. Das Fachgebiet der molekularen Evolutionsforschung beschäftigt sich mit der Erforschung der Mechanismen und Konsequenzen der Evolution von Makromolekülen, insbesondere von Nucleinsäuren (DNA und RNA) und Proteinen. I I I I I I I I I I I I I I I T V I I I L L L L I I I I I 1 5 10 15 20 25 30 Zahl der Aminosäuren an dieser Position I I T T T T T T I T T T T I T V T T T T T L E T E I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P P T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T T M M M M I I I I I I I I I I I I I V I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I V I I I I I I V I I I I I I hoch konserviert 6 1 2 3 1 2 5 1 2 2 5 3 3 2 5 1 5 4 5 2 2 5 3 1 1 3 1 1 1 1 1 1 1 1 1 3 1 2 2 1 1 1 5 1 6 9 2 1 7 2 2 2 3 2 2 2 6 4 4 5 4 Die Genome aller Organismen evolvieren im Laufe der Zeit. Evolutionäre Veränderungen lassen sich durch einen Vergleich der Nucleotid-und Aminosäuresequenzen verschiedener Arten nachweisen. Durch Analyse der molekularen Evolution im Laborexperiment unter kontrollierten Bedingungen können Biologen viele Evolutionsprozesse direkt erforschen. Sie sollten . . . ein Sequenzalignment durchführen und dazu eine Matrix erstellen können, in der die Ähnlichkeiten und Unterschiede der Sequenzen miteinander vergleichend gegenübergestellt sind. zeigen können, warum anhand der ermittelten Zahl der Nucleotid-oder Aminosäureunterschiede zwischen zwei Sequenzen häufig unterschätzt wird, wie viele Veränderungen tatsächlich zwischen den Sequenzen stattgefunden haben. ? 1. Führen Sie ein Sequenzalignment der folgenden Sequenzen durch und erstellen dann eine Distanzmatrix, in der die Zahl der identischen Nucleotide und der Unterschiede (einschließlich Insertions-und Deletionsereignissen) verglichen werden. 2. Erklären Sie, warum durch einfaches Zählen der abweichenden Nucleotide zweier Sequenzen die tatsächliche Zahl der Nucleotidsubstitutionen seit der Auseinanderentwicklung der Sequenzen häufig zu gering eingeschätzt wird. Verwenden Sie dazu als Beispiel einen Vergleich Ihres Sequenzalignments der Sequenzen a und b aus Aufgabe 1. Wie Sie gesehen haben, befasst sich die molekulare Evolutionsforschung mit der Evolution von Genen und Proteinen, vergleicht Nucleotid-und Aminosäuresequenzen verschiedener Organismen miteinander und rekonstruiert, welche Veränderungen während der Stammesgeschichte stattgefunden haben. Als Nächstes werden Sie erfahren, wie sich Genome verändern, und einige der Folgen dieser Veränderungen näher betrachten. Wie Sie in 7 Abschn. 12.2 erfahren haben, versteht man unter einer Mutation jegliche Veränderung des genetischen Materials. Eine Mutationsform, die sich in einer Population etablieren kann, ist die Punktmutation, der Austausch eines einzelnen Nucleotids. Viele solcher Nucleotidsubstitutionen in der DNA haben keine Auswirkung auf ein Protein -selbst dann nicht, wenn die Veränderung an einem proteincodierenden Gen erfolgt, denn für die meisten Aminosäuren gibt es mehr als ein Codon (7 Abb. 14.4). Eine Substitution, die nicht zu einer anderen Aminosäure führt, bezeichnet man als synonyme, neutrale oder stille Substitution (7 Abb. 23.4a). Synonyme Substitutionen wirken sich nicht auf die Struktur und Funktion eines Proteins aus (können allerdings andere Auswirkungen haben, wie in 7 Abschn. 15.1 beschrieben) und unterliegen daher wahrscheinlich weniger dem Einfluss der natürlichen Selektion als andere Formen der Substitution. Eine neutrale Evolution unterscheidet sich von einer negativen (reinigenden) und positiven Selektion dadurch, dass sie sich nicht auf die Überlebensfähigkeit und Fortpflanzung des betreffenden Organismus auswirkt. Die Fixierungsrate neutraler Nucleotidsubstitutionen innerhalb von Populationen ist unabhängig von der Populationsgröße. Durch Vergleiche der Raten synonymer und nichtsynonymer Substitutionen kann man eine positive und negative Selektion in Proteingenen erkennen. Die Genome von Organismen zeichnen sich durch eine sehr unterschiedliche Größe aus, dagegen ist die Zahl der proteincodierenden Gene deutlich weniger variabel. Der genetische Code legt fest, welches Codon welche Aminosäure codiert (7 Abb. 14.4). Eine Nucleotidsubstitution, die zu einer Veränderung der von einem Gen codierten Aminosäuresequenz führt, bezeichnet man als nichtsynonyme Substitution ( Teil VI 2. Die Unterschiede in den Aminosäuresequenzen wurden jeweils paarweise in eine Tabelle eingetragen. Anschließend wurden die Aminosäureänderungen in den evolutionären Stammbaum eingetragen und die Zahl der konvergenten Ähnlichkeiten zwischen jedem der Artenpaare ermittelt. Die Ergebnisse können dann als Distanzmatrix dargestellt werden. Die Matrix zeigt oberhalb der Diagonalen für jedes Artenpaar die Anzahl der Aminosäureunterschiede und unterhalb die Anzahl der konvergenten Ähnlichkeiten. An den Lysozymsequenzen der beiden Arten mit einer Gärkammer zur Verdauung lässt sich die Mehrzahl der konvergenten Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Artenpaaren nachweisen; dabei zeigt sich einhergehend mit der unabhängigen Evolution einer Gärkammer zur Verdauung eine molekulare Konvergenz. Abb. 23.6 In der Anzahl der Gene pro Genom gibt es enorme Unterschiede. Diese Abbildung zeigt die Zahl der Gene einer Auswahl von Organismen, deren Genome schon vollständig sequenziert wurden, angeordnet nach ihren bekannten evolutionären Verwandtschaftsbeziehungen. Bakterien und Archaeen weisen im Normalfall weniger Gene auf als die meisten Eukaryoten. Unter den Eukaryoten besitzen vielzellige Organismen mit organisierten Geweben (Pflanzen und Tiere; die dunkelgrünen und blauen Zweige) mehr Gene als einzellige Organismen (türkisfarbene Zweige) oder vielzellige Lebewesen ohne eine auffällige Organisation der Gewebe (gelbe Zweige) entstanden. Obwohl also die Hoatzins und die Säugetiere mit Gärkammer in den letzten paar Hundert Millionen Jahren keinen gemeinsamen Vorfahren hatten, haben sie ähnliche Anpassungen ihres Lysozyms entwickelt, die es ihnen ermöglichen, ihren der Gärung dienenden Bakterien Nährstoffe zu entziehen. K L K E Y D N Q N V Pavian I R L R Q Y N D Q N V Mensch V R M R R Y N D Q N V Ratte T R M Y Q Y N D K N V Rind V K L K E W D N R D L Pferd V A M G G W N E K D L ursprünglicher Zustand V R M R Q W N D K N V Durch In der Größe der Genome gibt es bei verschiedenen Organismen bekanntlich erhebliche Unterschiede. Betrachtet man die großen taxonomischen Kategorien, so ist eine gewisse Korrelation zwischen Genomgröße und Komplexität der Organismen zu erkennen. Das Genom des winzigen Bakteriums Mycoplasma genitalium umfasst nur 470 Gene. Aus 634 Genen besteht das Genom des Bakteriums Rickettsia prowazekii, dem Erreger des Fleckfiebers. Hingegen besitzt Homo sapiens ungefähr 21.000 proteincodierende Gene. 7 Abb. 23.6 zeigt die Zahl der Gene einer Auswahl von Organismen, deren Genome bereits vollständig sequenziert wurden, angeordnet nach ihren bekann-ten evolutionären Verwandtschaftsbeziehungen. Wie Ihnen die Abbildung zeigt, bedeutet ein größeres Genom nicht eine höhere Komplexität des Phänotyps. (Vergleichen Sie beispielsweise den Reis mit den anderen Pflanzen.) Es überrascht nicht, dass für den Bau und die Aufrechterhaltung der Funktionen eines großen, vielzelligen Organismus mehr und komplexere genetische Informationen erforderlich sind als bei einem kleinen, einzelligen Bakterium. Überraschend ist jedoch, dass einige Organismen, etwa Lungenfische, manche Schwanzlurche und Lilien, rund 40-mal mehr DNA im Zellkern aufweisen als beispielsweise der Mensch. Natürlich ist ein Lungenfisch oder eine Lilie nicht 40-mal komplexer aufgebaut als ein Mensch. Warum variiert die Genomgröße dann so stark? Die Unterschiede in der Genomgröße sind nicht so groß, wenn man nur jenen Anteil der DNA betrachtet, der tatsächlich Proteine codiert oder Sequenzen anderer RNAs als mRNAs festlegt. Die Organismen mit der größten Menge an Kern-DNA (einige Farne und Blütenpflanzen) weisen zwar 80.000-mal so viel DNA auf wie die Bakterien mit den kleinsten Genomen, aber keine der Arten besitzt mehr als 100-mal so viele proteincodierende Gene wie ein Bakterium. Daher beruhen die meisten Wie im vorherigen Abschnitt erwähnt, besitzen die meisten vielzelligen Organismen sehr viel mehr Gene als der größte Teil der einzelligen Arten. Aber die vielzelligen Lebewesen sind aus einzelligen Vorfahren hervorgegangen. Wie kam es zu der Zunahme der Anzahl der Gene innerhalb des Genoms von vielzelligen Organismen im Laufe der Evolution? Eine solche Zunahme kann vor allem durch zwei Mechanismen zustande kommen: Es können Gene von anderen Arten übertragen oder innerhalb einer Art dupliziert werden. Bisweilen können Gene zwischen entfernt miteinander verwandten Zweigen am Stammbaum des Lebens ausgetauscht werden. Die Duplikation eines Gens bietet Gelegenheiten für die Evolution neuer Funktionen. Manche Gene liegen im Genom in multiplen Kopien vor; diese evolvieren im Laufe der Zeit häufig gemeinsam. In 7 Viele Genduplikationen betreffen jeweils nur ein Gen oder wenige Gene, bei polyploiden Organismen (darunter zahlreiche Pflanzen) wurden jedoch komplette Genome dupliziert. Bei einer Duplikation sämtlicher Gene ergeben sich unzählige Möglichkeiten, neue Funktionen zu evolvieren. Genau das ist offenbar bei der Evolution der Wirbeltiere passiert. Das Genom der Gnathostomata (Kiefermünder -das sind alle Wirbeltiere mit einem beweglichem Unterkiefer) scheint von vielen wichtigen Genen vier diploide Sätze aufzuweisen. Aufgrund dieser Erkenntnis gelangten Biologen zu dem Schluss, dass sich bei dem Vorfahren dieser Gruppe zwei Duplikationen des gesamten Genoms ereigneten. Diese Duplikationen ermöglichten eine beträchtliche Spezialisierung einzelner Wirbeltiergene, deren Expression heute in hohem Maße gewebespezifisch erfolgt. Zwar haben sich die Vertreter der Globingenfamilie in ihrer Form und Funktion diversifiziert, die Mitglieder vieler anderer Die Ziffern geben die geschätzte Anzahl an Änderungen der DNA-Sequenz entlang des betreffenden Astes im Stammbaum an. Durch ein Duplikationsereignis entstanden die und -Globingen-Cluster. Abb. 23.9 Ein Genstammbaum der Globingenfamilie. Eine Analyse mittels der Methode der molekularen Uhr legt nahe, dass sich die 'und "-Globingen-Cluster (blau bzw. grün) vor ungefähr 450 Mio. Jahren auseinanderentwickelt haben -also relativ bald nach der Entstehung der Wirbeltiere Genfamilien evolvieren hingegen nicht unabhängig voneinander. So besitzen beispielsweise fast alle Organismen zahlreiche Kopien (bis zu mehrere Tausend) der Gene für ribosomale RNA. Ribosomale RNA (rRNA) bildet das Hauptstrukturelement der Ribosomen und erfüllt als solches eine wichtige Rolle bei der Proteinsynthese. Sämtliche Lebewesen müssen -oft in großen Mengen -Proteine synthetisieren (vor allem während ihrer frühen Entwicklung). Durch den Besitz zahlreicher Kopien der rRNA-Gene wird gewährleistet, dass die Organismen rasch viele Ribosomen produzieren und dadurch eine hohe Proteinsyntheserate aufrechterhalten können. Die Gene für ribosomale RNA evolvieren wie alle anderen Teile des Genoms, und so sammeln sich in den rRNA-Genen verschiedener Arten mit der Zeit Unterschiede an. Innerhalb einer Art sind sich die zahlreichen Kopien der rRNA-Gene hingegen sowohl strukturell als auch funktionell sehr ähnlich. Diese Ähnlichkeit ist auch sinnvoll, denn im Idealfall sollte jedes Ribosom einer Art auf die gleiche Weise Proteine synthetisieren. Mit anderen Worten, innerhalb einer Spezies evolvieren die vielen Kopien dieser rRNA-Gene gemeinsam. Dieses Phänomen bezeichnet man als konzertierte Evolution. www.Life11e.com/a23.1 Wie kommt es zu einer solchen konzertierten Evolution? Offensichtlich liegen ihr zwei verschiedene Mechanismen zugrunde. Einer davon ist ungleiches Crossing-over. Während der Replikation der DNA eines diploiden Organismus im Zuge der Meiose lagern sich die homologen Chromosomenpaare aneinan-der, und es kommt zu einer Rekombination durch Crossing-over (7 Abschn. 11.4). Im Falle hochrepetitiver Gene wie der rRNA-Gene passiert es jedoch leicht, dass diese bei der Paarung der Chromosomen gegeneinander versetzt werden, weil so viele Kopien der gleichen Gene auf den Chromosomen vorhanden sind (7 Abb. 23.10a). Infolgedessen erhält das eine der beiden homologen Chromosomen beim Crossing-over zusätzliche Kopien des rRNA-Gens, während das andere Chromosom entsprechend weniger Kopien abbekommt. Erfolgt in einer der Kopien eine Punktmutation in Form einer Basensubstitution, kann diese durch das ungleiche Crossing-over schrittweise vermehrt und damit allmählich fixiert werden. Umgekehrt kann sie durch das ungleiche Crossing-over auch schrittweise verringert und schließlich eliminiert werden. So oder so bleiben die vielen Kopien des Gens einander sehr ähnlich. Den zweiten Mechanismus, der zu einer konzertierten Evolution führt, bezeichnet man als gerichtete Genkonversion. Dieser Mechanismus erfolgt mit viel höherer Geschwindigkeit als ein ungleiches Crossing-over und hat sich als primärer Mechanismus für die konzertierte Evolution von rRNA-Genen erwiesen. In DNA-Strängen kommt es häufig zu Brüchen, welche dann wieder repariert werden (7 Abschn. 13.4). Die Gene für die ribosomale RNA liegen während des Zellzyklus die meiste Zeit eng beieinander. Kommt es zu einer Beschädigung eines der Gene, kann eine Kopie des rRNA-Gens des homologen Chromosoms als Matrize zur Reparatur der beschädigten Kopie dienen; dabei ersetzt die als Matrize fungierende Sequenz die Originalsequenz (7 Abb. 23.10b). In vielen Fällen erfolgt diese Reparatur offenbar insofern recht einseitig, als häufig bestimmte Sequenzen als Matrizen verwendet werden. Dadurch kann sich Teil VI eine solche bevorzugt verwendete Sequenz rasch auf alle Kopien des Gens ausbreiten. Auf diese Weise kann es passieren, dass sich eine Veränderung, die in einer einzelnen Kopie auftritt, rasch auf alle anderen Kopien ausbreitet. Aber ganz gleich, welcher dieser Mechanismen der konzertierten Evolution im konkreten Fall zugrunde liegt: Durch sie evolvieren die Kopien eines hochrepetitiven Gens nicht unabhängig voneinander. Zwar treten nach wie vor Mutationen auf, aber wenn diese in einer einzelnen Kopie erfolgen, dann breiten sie sich entweder rasch auf sämtliche Kopien aus oder gehen vollständig aus dem Genom verloren. Dieser Prozess ermöglicht es, dass jede Kopie über die Zeit bezüglich Sequenz und Funktion ähnlich bleibt. Durch horizontalen Gentransfer können bestimmte Funktionen von Genen auch zwischen entfernt verwandten Arten übertragen werden. Genduplikation kann zur Evolution neuer Funktionen führen. Manche hochrepetitiven Gene durchlaufen eine konzertierte Evolution, wodurch ihre gleichförmige Funktionalität erhalten bleibt. Sie sollten . . . beschreiben können, wie es durch horizontalen Gentransfer zur Übertragung von Genen zwischen verschiedenen Linien kommen kann, insbesondere zwischen Bakterien. anhand eines Genstammbaums einer Genfamilie ableiten können, wann in der Stammesgeschichte einer Gruppe von Arten Genduplikationen stattgefunden haben. erläutern können, inwiefern ein dupliziertes Gen Gelegenheiten für die Evolution neuer Funktionen liefert. die beiden Prozesse, die einer konzertierten Evolution zugrunde liegen, grafisch darstellen und ihre Unterschiede aufzeigen können. ? Gentransfers für den Organismus, der durch diesen Mechanismus neue Gene erhält. Für die Ergebnisse von Untersuchungen der molekularen Evolution gibt es in der gesamten Biologie praktische Anwendungsmöglichkeiten, etwa, um grundlegende Aspekte biologischer Funktionen besser zu verstehen, oder für Forschungen zur menschlichen Gesundheit. Die Evolutionsgeschichte von Genen liefert Informationen zur Funktion von Proteinen. Zebrafisch En2b Zebrafisch En2a Huhn En2 Maus En2 Mensch En2 Zebrafisch En1b Zebrafisch En1a Huhn En1 Maus En1 Mensch En1 En2 En1 Seeigel En Lanzettfischchen En Bei Wirbeltieren entstanden durch eine Genduplikation die beiden paralogen engrailed-Gene En1 und En2. In der zu den Zebrafischen führenden Linie traten weitere Genduplikationen auf. Anstatt mit Genstammbäumen arbeiten viele Biologen je nach Fragestellung auch mit Proteinstammbäumen, zum Beispiel um die Verwandtschaftsbeziehungen oder den Funktionswandel homologer Proteine zu analysieren. Entsprechend zu den Genen unterscheidet man orthologe Proteine (gleiche Funktion in unterschiedlichen Organismen) und paraloge Proteine (unterschiedliche Funktion im gleichen Organismus). So sind die 'und die "-Untereinheit des menschlichen Hämoglobins paralog (7 Abb. 23.9), die "-Untereinheiten von Mensch und Maus dagegen ortholog. Weiter vorne in diesem Kapitel haben Sie erfahren, wie Biologen Genabschnitte identifizieren können, die einer positiven Bei den verschiedenen duplizierten Genen für Natriumkanäle der vielen Kugelfischarten sind mehrere unterschiedliche Substitutionen erfolgt, die zu einer Resistenz gegen TTX geführt haben. In diesen Genen sind aber auch zahlreiche andere Veränderungen aufgetreten, die nichts mit der Evolution der TTX-Resistenz zu tun haben. Biologen, die sich mit der Funktion von Natriumkanälen befassen, können eine Menge über die Funktionsweise dieser Kanäle lernen (und auch über neurologische Krankheiten, die durch Mutationen in den Genen für Natriumkanäle verursacht werden), indem sie in Erfahrung bringen, welche Veränderungen für eine TTX-Resistenz selektiert wurden. Dazu vergleichen sie die Raten synonymer und nichtsynonymer Substitutionen bei den Genen der verschiedenen Linien, in denen sich eine Resistenz gegen TTX entwickelt hat. In ähnlicher Weise versucht man mithilfe der Prinzipien der molekularen Evolution die Funktion sowie die Diversifizierung der Funktion zahlreicher anderer Proteine zu verstehen. Bei ihren Untersuchungen der Zusammenhänge zwischen Selektion, Evolution und Funktion von Makromolekülen kamen Biologen schon bald auf die Idee, sich die molekulare Evolution in einer kontrollierten Laborumgebung zunutze zu machen, um neuartige Makromoleküle mit nützlichen Eigenschaften herzustellen. Das war die Geburtsstunde der Anwendungen der in vitro-Evolution ("Evolution im Reagenzglas"). Anschließend können sie feststellen, welche der gegenwärtig kursierenden Influenzastämme die größte Zahl von Veränderungen in diesen positiv selektierten Codons aufweisen. Diese Influenzastämme werden nämlich am ehesten überleben, sich vermehren und zukünftig Grippeepidemien verursachen -und bilden somit die logischen Ziele für neue Impfstoffe. Diese praktische Anwendung der Prinzipien der Evolutionstheorie führt dazu, dass wirkungsvollere Impfstoffe gegen Grippeviren entwickelt werden -und damit alljährlich weniger Menschen an Grippe erkranken oder gar daran sterben. Synapsenfutter: Wenden Sie an, was Sie gelernt haben Als Genom eines Organismus bezeichnet man die Gesamtheit seiner Gene, regulatorischen Sequenzen und Strukturelemente einschließlich der nichtcodierenden DNA. Das Gebiet der molekularen Evolution befasst sich damit, welche Zusammenhänge zwischen der Struktur von Genen und Proteinen und der Funktionsweise von Organismen bestehen. Mittels Sequenzalignment von Nucleinsäuren oder Proteinen verschiedener Organismen lassen sich diese vergleichen und homologe Positionen identifizieren. Siehe 7 Abb. 23.1; 7 Activity 23.