key: cord-0010916-ao5vr6tr authors: Heudorf, Ursel; Gottschalk, René title: Meldepflichten für Infektionskrankheiten und Infektionserreger in Deutschland: Entwicklung und Verbesserungsvorschläge date: 2020-05-12 journal: Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz DOI: 10.1007/s00103-020-03150-7 sha: d43e72a2dec6399e72ad3a3f9b7b942506d9ee23 doc_id: 10916 cord_uid: ao5vr6tr With the entry into force of the Infection Protection Act (IfSG) in 2001, the reporting obligations for infectious diseases and infectious agents were placed on a new foundation. For the first time, a distinction was made between an obligation for the notification of infectious diseases by physicians and a notification obligation for infectious agents by laboratories. The aim was to reduce the notification burden on physicians and thus to improve the quality of the notifications. Since then, numerous new obligations for notifications have been added. The aim of this work is to describe and discuss the mandatory notification of infectious diseases in Germany on the basis of their development – compared to previous regulations in Germany (Federal Communicable Diseases Act) as well as international and Europe-wide recommendations (IHR; decisions of the EU Commission 1999, 2018) – and to submit suggestions for improvement. Regarding the considerable increase in reporting requirements and reports in recent years, and the fact that the IfSG provides other surveillance systems in addition to mandatory reporting, the mandatory reporting system should be focused on the necessary reporting requirements. In a first step, the proposed abolition of the mandatory reporting of noroviruses and rotaviruses could relieve both the notifiers and the health authorities, thus enabling more efficient reporting and more intensive and better investigation by the health authorities. Im Jahr 2001 trat das Infektionsschutzgesetz (IfSG; [1] ) in Kraft. Es brachte zahlreiche Neuerungen, unter anderem neue Meldepflichten für Infektionskrankheiten. So wurde beispielsweise die Zahl der zu meldenden Krankheiten reduziert und es wurden Labormeldepflichten für Nachweise von Krankheitserregern eingeführt. Nach fast 20 Jahren IfSG soll hier in Bezug auf die Meldepflichten für Krankheiten ( § 6 Abs. 1 IfSG) und Krankheitserreger ( § 7 IfSG) ein Rückblick und eine kritische Bestandsaufnahme aus Sicht einer betroffenen Behörde gegeben werden -auch vor dem Hintergrund der vorherigen Regelungen in Deutschland (Bundesseuchengesetz BSeuchG; [2] ) sowie internationaler und europaweiter Empfehlungen [3] [4] [5] . Vorläufer des Infektionsschutzgesetzes wardasBundesseuchengesetz(BSeuchG) von 1961, einschließlich verschiedener Änderungsgesetze [2, 6, 7] . Die Meldepflichten für den Arzt waren umfangreich und komplex: Es wurde unterschieden zwischen Krankheiten, die nur bei Tod meldepflichtig waren, solchen, die bei Erkrankung und Tod, sowie solchen die bereits bei Verdacht zu melden waren. Darüber hinaus mussten Ausscheider verschiedener Erreger von Darminfektionen gemeldet werden. Sexuell über-tragbare Krankheiten und speziell das humane Immundefizienzvirus (HIV) waren in weiteren Rechtsgrundlagen geregelt ( [8, 9] ; . Tab. 1). Das gesamte, im Wesentlichen aus den 1960er-Jahren stammende Seuchenrecht wurde im Jahr 2000 grundlegend novelliert. In Umsetzung der Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Schaffung eines Netzes für die epidemiologische Überwachung und die Kontrolle übertragbarer Krankheiten in der Gemeinschaft [4] trat am 01.01.2001 das Infektionsschutzgesetz in Kraft [1] . Dieses fasste nicht nur den gesamten Regelungsbereich des BSeuchG, sondern auch die Laborberichtsverordnung für positive HIV-Bestätigungstests, verschiedene weitere Verordnungen über die Ausdehnung der Meldepflicht für das enteropathische hämolytisch-urämische Syndrom (HUS), Infektionen durch enterohämorrhagische Escherichia (E.) coli (EHEC) sowie das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in einem einheitlichen Regelwerk zusammen [10] . Das Infektionsschutzgesetz unterscheidet erstmals zwischen meldepflichtigen Krankheiten ( § 6) und meldepflichtigen Nachweisen von Krankheitserregern ( § 7). Die zur Meldung verpflichteten Personen sind in § 8 IfSG definiert. In den meisten Fällen der nach § 6 meldepflichtigen Krankheiten ist der feststellende Arzt meldepflichtig; bei den nach § 7 meldepflichtigen Nachweisen von Krankheitserregern ist es der Leiter der entsprechenden Untersuchungsstelle (zu weiteren Details siehe § 8 IfSG). Nachfolgend wird -vereinfacht -von einer Arztmeldepflicht nach § 6 und einer Labormeldepflicht nach § 7 gesprochen. Nach § 15 IfSG kann das Bundesministerium für Gesundheit die Meldepflichten auf weitere Krankheiten oder Krankheitserreger ausdehnen, "soweit die epidemische Lage dies zulässt oder erfordert", in dringenden Fällen auch ohne Zustimmung des Bundesrats. Darüber hinaus sind die Landesregierungen ermächtigt, eine Rechtsverordnung zu weiteren Meldepflichten zu erlassen, "sofern die Meldepflicht nach diesem Gesetz hierdurch nicht eingeschränkt oder aufgehoben wird" [1] . Gemäß § 6 Abs. Meldemodalitäten · Meldemoral · Übermittlungsverfahren · Bundesseuchengesetz · Gesundheitsämter With the entry into force of the Infection Protection Act (IfSG) in 2001, the reporting obligations for infectious diseases and infectious agents were placed on a new foundation. For the first time, a distinction was made between an obligation for the notification of infectious diseases by physicians and a notification obligation for infectious agents by laboratories. The aim was to reduce the notification burden on physicians and thus to improve the quality of the notifications. Since then, numerous new obligations for notifications have been added. The aim of this work is to describe and discuss the mandatory notification of infectious diseases in Germany on the basis of their development -compared to previous regulations in Germany (Federal Communicable Diseases Act) as well as international and Europe-wide recommendations (IHR; decisions of the EU Commission 1999, 2018)and to submit suggestions for improvement. Regarding the considerable increase in reporting requirements and reports in recent years, and the fact that the IfSG provides other surveillance systems in addition to mandatory reporting, the mandatory reporting system should be focused on the necessary reporting requirements. In a first step, the proposed abolition of the mandatory reporting of noroviruses and rotaviruses could relieve both the notifiers and the health authorities, thus enabling more efficient reporting and more intensive and better investigation by the health authorities. Terms of notifications · Morale of reporting · Transmission procedure · ActFederal law on epidemics · Health authorities Studien zum BSeuchG hatten gezeigt, dass die umfassenden Arztmeldepflichten nicht ausreichend wahrgenommen werden und es zu einer erheblichen Untererfassung kommt. Vor diesem Hintergrund wurde das Meldewesen im Jahr 2000 neu strukturiert, auch mit dem Ziel, die Arztmeldepflichten zu reduzieren, wodurch eine bessere Meldemoral erwartet wurde [11] . Das im Jahr 2001 in Kraft getretene Infektionsschutzgesetz unterscheidet erstmals eine Arztund eine Labormeldepflicht sowie eine namentliche und eine nichtnamentliche Meldepflicht und führt das Instrument der Sentinelerhebungen neu ein. Die namentliche Meldepflicht gemäß § 6 zu meldende Krankheiten (Verdacht, Erkrankung oder Tod) sowie die nach § 7 zu meldenden Nachweise von Krankheitserregern wurden auf solche Krankheiten oder Krankheitserreger beschränkt, deren Nachweis "eine unmittelbare Reaktion des Gesundheitsamtes erfordert, um Maßnahmen zur Eindämmung einer akuten Weiterverbreitungsgefahr ergreifen zu können" [11] Eine nichtnamentliche Meldepflicht wurde für Erreger, "bei denen das Gesundheitsamt im Einzelfall nicht unmittelbar tätig wird", festgelegt. "Bei Meldungen nach dem Geschlechtskrankheitengesetz sind in der Regel keine unmittelbaren Maßnahmen des Gesundheitsamtes angezeigt, sodass insoweit grundsätzlich eine nichtnamentliche Meldung ausreichend ist. Gleiches gilt für die nach Laborberichtspflichtverordnung erhobenen Daten, die der Beurteilung der epidemischen Lage und Ableitung allgemeiner Präventionsmaßnahmen dienen" [11] . Hier wurden als Beispiele Syphilis und HIV, Malaria sowie Röteln und Toxoplasmose genannt. Sentinelerhebungen "sind dann angezeigt, wenn eine Krankheit besonders häufig ist, die Meldung jedes Einzelfalls eine unzumutbare Belastung der Meldesysteme bedeuten würde und der Nachweis einer Krankheit beziehungsweise Infektion nicht das unverzügliche Handeln des öffentlichen Gesundheitsdienstes notwendig macht" [11] . Als durch Sentinelerhebungen zu erfassende Infektionskrankheiten kommen auch die Krankheiten oder Gesundheitsrisiken in Betracht, für die auf europäischer Ebene auf Grundlage der Entscheidung 2119/98/EG eine Surveillance erforderlich ist [11] . Mit Sentineluntersuchungen können Trends und Risiken ermittelt, Erfolge einer Prävention evaluiert sowie neue Gefährdungspotenziale frühzeitig erkannt werden [21] . Als typische Krankheiten für Sentinelerhebungen wurden Keuchhusten sowie die Gruppe der sexuell übertragbaren Krankheiten angeführt [11] . Im Hinblick auf nosokomiale Infektionen wurde auf die KISS-Erhebung (Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System) als Sentinel verwiesen [11] . Der Vergleich zwischen Meldepflicht nach IfSG und Sentinelerhebungen zeigt [30, 31] : Die Meldepflicht strebt die Totalerfassung an, die aber in der Regel nicht erreicht wird. Bei relativ hoher Sensitivität liegt bei der Meldepflicht eine geringere Spezifität vor, da klinische Details und weitere Hintergrundinformationen i. d. R. nicht vollständig erfasst werden. Da die Meldedaten im Bevölkerungsbezug gewonnen werden, können aber Inzidenzen berechnet werden und auch Ausbrüche erkannt werden. Sentinels sind demgegenüber Stichprobenerhebungen, deren Repräsentativität nicht immer gegeben ist. Sie haben eine höhere Spezifität, da eine systematische Abklärung von Verdachtsfällen erfolgt und auch präventionsrelevante Informationen systematisch erfasst werden. Die Berechnung der Untersuchungsrate (Anteil Untersuchter an Verdachtsfällen) und der Bestätigungsrate (Anteil bestätigter Fälle an Verdachtsfällen) ist möglich. Inzidenzberechnungen lassen sich nicht durchführen und Ausbrüche nicht immer erkennen [31] . Ein von der Meldepflicht unabhängiges Sentinelsystem lässt eine kritische Bewertung der Ergebnisse aus Meldepflichten zu. Auch Aussagen zu Impfdurchbrüchen können bisher besser anhand der guten Impfdokumentation im Sentinelsystem gemacht werden -woraus gefolgert wurde, dass die Impfdokumentation im Rahmen der Meldepflicht impfpräventabler Krankheiten verbessert werden müsse [32] . Mit sinkenden Fallzahlen verliert ein Sentinel an Sensitivität. Vor diesem Hintergrund wurde beispielsweise das Masernsentinel im Jahr 2011 eingestellt [31] . Bereits bei der Überarbeitung des Bundesseuchengesetzes im Jahr 1990 wurde betont, dass "die Einführung einer Meldepflicht wohlüberlegt werden [sollte]. Sie wird leider in der Öffentlichkeit oft als ein Allheilmittel gerade für neu auftre-tende übertragbare Krankheiten angesehen. Tatsächlich trägt sie aber nur dann etwas zur Verhütung und Bekämpfung einer Krankheit bei, wenn sie Ansatzund Ausgangspunkt für weitere Maßnahmen ist. Als Beispiel mag das erworbene Immundefektsyndrom (AIDS) dienen . . . muss bedacht werden, dass eine Meldepflicht gerade bei einer so eng mit der Sexualität verknüpften Erkrankung doch diesen oder jenen Patienten davon abhalten könnte, einen Arzt aufzusuchen. Auch hier ist also wie bei jeder Maßnahme der Seuchenbekämpfung abzuwägen zwischen Vor-und Nachteilen . . . " [33] . Die Gesamtzahl der gemeldeten Fälle nahm nach Inkrafttreten des IfSG im Jahr 2001 gegenüber dem Vorjahr um mehr als 10 % zu -mit einer erheblichen Arbeitsbelastung für die Labore und die Gesundheitsämter und mittelbar weiterhin der behandelnden Ärzte in Klinik und Praxis, wenn weitere Daten bei ihnen erhoben werden mussten. Erregernachweise aus Stuhlproben bei Magen-Darm-Erkrankungen alleine machten ca. Das RKI hat in aufwendigen Konsensusverfahren mit internen und externen, nationalen und internationalen Experten eine Priorisierung für eine Surveillance von Infektionserkrankungen vorgenommen [42] [43] [44] Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seuchenrechts-Neuordnungsgesetz -SeuchRNeuG) vom 20 Gesetz zur Verhütung undBekämpfungübertragbarerKrankheitenbeim Menschen (Bundes-Seuchengesetz). Vom 18. Juli World Health Organization (2005) International health regulations Dezember 1999 betreffend die von dem Gemeinschaftsnetz nach und nach zu erfassenden übertragbaren Krankheiten gemäß der Entscheidung Nr. 2119/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates /945 der Kommission vom 22 Viertes Gesetz zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes vom 18. Dezember 1979 -BGBl I S 2248 Gesetz zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes vom 12 Juli 1953 (BGBl. S 700), zuletzt geändert durch Artikel 7 des Gesetzes vom 12 Verordnung über die Berichtspflicht für positive HIV-Bestätigungstests (Laborberichtsverordnung) vom 18. Dezember 1987. BGBl I S 2819 -BGBl Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seuchenrechtsneuordnungsgesetz -SeuchR-NeuG Deutscher Bundestag 14 Infektionsschutzgesetz. Kommentar und Vorschriftensammlung, 2 SurvNet@RKI-a multistate electronic reporting system for communicable diseases Schwer verlaufende Infektionen mit Clostridium difficile: Zur Meldepflicht Clostridium difficile: Zum Stand der Meldungen schwer verlaufender Infektionen in Deutschland Schwer verlaufende Clostridium difficile-Infektionen. IfSG-Surveillancedaten von 2013 Verordnung zur Anpassung der Meldepflicht nach § 7 des Infektionsschutzgeset-zes an die epidemische Lage. (Labormeldepflichtanpassungsverordnung -Lab-MeldAnpV) vom 26.05 Gesetz zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005) und zur Änderung weiterer Gesetze Arzt-und Labormeldepflicht für Keuchhusten Verordnung zur Anpassung der Meldepflichten nach dem Infektionsschutzgesetz an die epidemische Lage (IfSG-Meldepflicht-Anpassungsverordnung -IfSGMeldAnpV) vom 18 Dengue-Virus, West-Nil-Virus, Zika-Virus und sonstige Arboviren, soweit der Nachweis auf eine akute Infektion hinweist 19 Jahresstatistik ausgewählter Infektionskrankheiten Infektionserpidemiologisches Infektionserpidemiologisches Infektionserpidemiologisches Infektionserpidemiologisches Infektionserpidemiologisches Infektionserpidemiologisches Infektionserpidemiologisches ?__ blob=publicationFile. Zugegriffen: 7. Dez ?__ blob=publicationFile. Zugegriffen: 7. Dez Überblick und Bewertung der verfügbaren Datenquellen zur Inzidenz impfpräventabler Krankheiten, zum Durchimpfungsgrad und zum Immunstatus in Deutschland Masern-Surveillance in Deutschland Die Epidemiologie der Varizellen in Deutschland unter Einfluß der Varizellen-Impfempfehlung Bundes-Seuchengesetz, 4. Aufl. Neue Kommunale Schriften, Bd. 43. Kohlhammer, Köln Befragung der Gesundheitsämter zur Umsetzung des Meldewesens nach dem Infektionsschutzgesetz Drucksache 299/09 (MRSA) Ergebnisse der Meldepflicht nach Infektionsschutzgesetz und Vorschläge zu ihrer Verbesserung Meldepflicht für Antibiotika-resistente Erreger. Was soll, was kann sie leisten? Die Bewertung in Bezug auf die jeweilige Einrichtung erscheint wichtig Meldepflichten für multiresistente Erreger -MRSA und CRE. Erfahrungsbericht und Verbesserungsvorschläge aus dem MRE-Netz Rhein-Main Evaluation of the statuory surveillance system for invasive MRSA infections in Germany Die Liste der meldepflichtigen Erkrankungen wurde kürzlich um Mumps, Pertussis, Röteln und Varizellen erweitert. Die Gesetzesänderung ermöglicht es, bundesweit verläßliche Daten zur Krankheitslast zu erheben Workshop-Bericht -Drei Jahre bundesweite Keuchhusten-Meldepflicht: Erfahrungsaustausch zwischen ÖGD, Ärzteschaft und beteiligten Laboren zur Identifizierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Surveillance Working group on prioritisation at the Robert Koch Institute. Prioritisation of infectious diseases in public health-call for comments Prioritisation of infectious diseases in public health: feedback on the prioritisation methodology Communicable diseases prioritized for surveillance and epidemiological research: results of a standardized prioritization procedure in Germany To notify or not to notify: decision aid for policy makers on whether to make an infectious disease mandatorily notifiable Abb. 1