key: cord-0031873-ypv3c564 authors: Poczka, Irene title: Eindeutige Unterschiede auf Kosten vieler kleiner Details date: 2022-05-19 journal: Neue Polit Lit DOI: 10.1007/s42520-022-00438-7 sha: 447debc8cafe0c7d9a3554a596182c73768fef75 doc_id: 31873 cord_uid: ypv3c564 McCoy’s comparative study focuses on the different styles and reasonings by which the United States and Great Britain responded and continue to respond to epidemics. While disease control in Britain focused on the environment, comparatively later efforts in the United States concentrated on quarantine and control of the infected. Drawing on the concept of path dependence, McCoy argues for the continuing importance of the historical factors surrounding the emergence of the first disease control structures. In doing so, he considers the centralisation of the state, a coherent theory of disease, pressures of civil society, and the idea of the population as a social body to be crucial. However, his pleasantly lucid study inevitably omits some important research areas and questions. Der Professor für Soziologie an der State University of New York at Plattsburgh kritisierte 2013 und 2014 die Reaktionen der USA auf die Ebolaepidemie in Westafrika und verwies schon damals in Presseartikeln auf die historischen Kontinuitäten der US-amerikanischen Seuchenpolitik. Seit dieser Zeit liegen McCoys Forschungsschwerpunkte im Bereich Medizin sowie Gesundheits-und vergleichenden historischen Soziologie. In seinem Buch "Diseased States" geht er der Frage nach, warum "Industrienationen" wie das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten von Amerika so unterschiedliche Stile und bevorzugte Techniken im Umgang mit Epidemien aufweisen. Für beide Staaten untersucht er die Entstehungsbedingungen und die -geschichte der Strukturen zur Kontrolle von Seuchen. Auch wenn McCoy die politischen Reaktionen auf das SARS-CoV-2-Virus nicht berücksichtigen konnte -sein Manuskript stammt noch aus der Zeit vor der Corona-Pandemie -hätte der Autor kaum einen besseren Zeitpunkt für seine Fragestellung wählen können. Seine Studie regt zum Nachdenken darüber an, wie die Erfahrungen mit der Pandemie und mit den divergierenden Strategien und Techniken zu ihrer Bewältigung den zukünftigen Umgang mit Infektionskrankheiten dauerhaft prägen werden. In vier Kapiteln und weniger als 200 Buchseiten arbeitet sich McCoy entlang verschiedener Epidemien, die die britischen Inseln und die Vereinigten Staaten zwischen 1793 und 2015 bedrohten, durch die Geschichten der Seuchenbekämpfung der beiden Staaten und achtet dabei vor allem auf die großen Unterschiede. Im Zentrum steht die Frage, unter welchen Umständen Erfahrungen mit Seuchen nicht nur zu kurzfristigen Reaktionen, sondern zu der dauerhaften Einrichtung staatlicher Strukturen führten. War etwa die Einrichtung von Kommissionen und die Errichtung spezieller Krankenhäuser zunächst nur Reaktion auf einen Seuchenausbruch oder eine Epidemie, so konnte diese jedoch eine sich selbst verstärkende Rückkopplungsschleife in Gang bringen, die, wie McCoy argumentiert, eine Stabilisierung und Verstetigung der zu Beginn etablierten Strukturen und Ansätze der Seuchenbekämpfung zur Folge hatte. Das britische Modell bildete sich, wie der Autor veranschaulicht, entlang der Erfahrungen mit den ersten Choleraepidemien sowie Pocken-und Typhusausbrüchen in den 1840er bis 1860er Jahren heraus. Die Ausbrüche fielen in eine Zeit beschleunigter Urbanisierung, Industrialisierung und gravierender sozialer Probleme. Der Einfluss der Theorie einer miasmatischen Ätiologie von Krankheiten führte laut McCoy dazu, dass die Regierung in Großbritannien sich bei der Eindämmung und Prävention von Epidemien auf die Umwelt konzentrierte. Schließlich gelang es durch eine breite Definition der als allgemeine Quellen der Krankheitsentstehung ausgemachten "nuisances" (S. 86), das Problem der individuellen Freiheitsrechte, die das Regierungshandeln einschränkten, zu umgehen. Die Beseitigung der "nuisances", selbst in den sonst durch dieses Recht im Kontrast zu den starken Verallgemeinerungen, die er aus ihnen für seine Thesen zieht. Jenseits der Theorien der Pfadabhängigkeit finden sich kaum Hinweise darauf, dass McCoy seine Studie noch weiter theoretisch untermauert hat. Zwar verweist er immer wieder beiläufig auf den von Michel Foucault geprägten Begriff der "Biomacht": "[t]he United States uses a more direct and coercive form of biopower" (S. 32), "Britain [...] using a subtiler and indirect form of biopower" (S. 145). Weder nutzt er aber Foucaults historische Studien noch dessen Konzepte von Diskurs oder Macht, um seine Aussagen zu stützen. Die großen Unterschiede zwischen Großbritannien und den USA sieht McCoy durch seine Vergleiche durch den Verlauf der Geschichte entlang verschiedener Epidemien und Ausbrüche immer wieder bestätigt: Während Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung in Großbritannien auf die Umwelt und deren ,Reinigung' zielen, konzentrieren sich die Maßnahmen in den USA auf Techniken der Isolation und Quarantäne. Während in Großbritannien weniger mit Zwängen auf die einzelnen Individuen eingewirkt wurde, standen in den USA die infizierten Körper und deren rigide Kontrolle im Zentrum. So eindrücklich diese Unterschiede an seinen Beispielen auch veranschaulicht werden, so bleiben manche Kategorien, die McCoy bildet, oberflächlich und wirken im Detail nicht konsistent. Auch in den USA existierten Strategien, die auf die Umwelt zielten. Als Maßnahme, die der Sterblichkeit durch Typhus entgegenwirken sollte, wurde ab den 1860er Jahren die Trinkwasserversorgung in den USA ausgebaut, wie Werner Troesken ausführlich in den Blick genommen hat. 6 Strategien zur Beseitigung stehender Gewässer zur Kontrolle von Gelbfieber zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie Bemühungen zur Bekämpfung der Malaria(mücken) und Kontrolle von Legionellen im 20. Jahrhundert lassen sich nicht leicht von der für Großbritannien spezifischen Konzentration auf die Umwelt abgrenzen. Auch dort verzichtete man im 19. Jahrhundert nie ganz auf die Anwendung von Isolation oder Überwachung. So schreibt Baldwin: "Despite their sanitationist reputation and practice, the British in fact refused to choose absolutely between the two approaches at logger-heads in the battle of prophylactic strategies. Their approach to public health remained two-pronged." 7 Wenn es um den Umgang mit sogenannten ,Landstreicher_innen' ging, wenn Kranke gegen ihren Willen ins Krankenhaus oder außerhalb der Stadt gebracht wurden oder ihnen zumindest die Teilnahme am öffentlichen Leben untersagt wurde, setzten auch die britischen boards of health Praktiken zur Kontrolle der Individuen und ihrer infizierten Körper um. Dies war nicht immer konsistent mit den Ideen der sanitaristischen Bewegung. Die K Vertreter_in des wissenschaftlichen Fortschritts. Als kontagiös galten zunächst alle ,pestartigen' Krankheiten. Maßnahmen wie die Quarantäne, die angesichts der Pest Jahrhunderte zuvor eingeführt worden waren, wurden ohne Unterschied auf all diese Krankheiten angewandt. Die Antikontagionist_innen, wie Erwin Ackerknecht in seiner bekannten "Fielding H. Garrison Lecture" 1948 hervorhob, sahen sich selbst (oft zu Recht) als fortschrittliche liberale Empiriker, die sich den Dogmen vergangener Zeit und der auf ihnen basierenden Techniken mit wissenschaftlichen Beobachtungen entgegenstellten. 10 Die Sanitarist_innen in Großbritannien waren, auch wenn Formulierungen Edwin Chadwicks zu einer anderen Annahme verleiten mögen, keine blinden Anhänger_innen der alten Miasma-Theorie, wie sie etwa noch im 17. Jahrhundert von Thomas Sydenham oder Robert Boyle vertreten wurde. Dies hat auch Frank Snowden kürzlich bestätigt und auf die Unterschiede der von den Sanitarist_innen wie Thomas Southwood Smith vertretenen "filth-theory of disease" und der alten Theorie des Miasma hingewiesen. 11 Als die Cholera in den 1830er Jahren erstmals auf der britischen Insel ausbrach, waren die Kontagionist_innen, die von der Ansteckungs-und Übertragbarkeit der Cholera überzeugt waren, zunächst noch in der Überzahl. Erst nach einigen Wochen nahm die britische Regierung schließlich von generellen Maßnahmen der Quarantäne Abstand. Sie tat dies kaum, weil sie sich plötzlich auf die Miasma-Theorie berufen konnte, sondern unter dem Druck antikontagionistischer wissenschaftlicher und ziviler Gruppen. Diese verfolgten mit ihrer Ablehnung der Quarantäne zwar auch ökonomische Interessen, sahen aber auch tatsächlich keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass die Cholera von Mensch zu Mensch übertragbar sei und argumentierten entsprechend. Ausschlaggebend waren dabei die Berichte von medizinischem Personal und Mitgliedern des britischen Militärs, die Erfahrungen mit Ausbrüchen in britischen Kolonien gesammelt hatten. 12 Wie Jim Downs in einem allerdings erst 2021 erschienenen Buch besonders eindrücklich darlegt, bestand ein umfangreiches koloniales Informationsnetz, in welchem die Praxis der Berichterstattung nach London über Ausbrüche in den Kolonien mit ausführlicher Aufstellung der Zahlen von Erkrankten und Verstorbenen und anderer Umstände bereits lange vor der Einführung ähnlicher Meldewesen in Großbritannien etabliert wurde. 13 Die von McCoy als besonders effizient hervorgehobene Praxis der Berichterstattung durch Ärzt_innen aus kleineren Orten und später der lokalen boards an das zentrale board of health in London entstand nicht erst in den 1840er Jahren in Großbritannien, sondern bereits im Rahmen kolonialer Machtstrukturen, wie Downs schreibt: The cholera epidemics that ravaged London in the mid-nineteenth century are often regarded as the spark that ignited the emergence of epidemiology, but the spread of infectious diseases throughout among formerly enslaved, colonized, and subjugated populations significantly shaped the field. [ Wie Matthias Bohlender neben anderen dargelegt hat, hatten die Reform der Armengesetze und die mit ihr verbundenen Maßnahmen aber wenig mit solch hehren Zielen zu tun: Die von Adam Smith verfasste Theorie über den Wohlstand der Nationen ging davon aus, dass Menschen im Zustand der Freiheit nach ökonomischem Wohlstand streben und alle diesem Ziel entgegenstehenden Verhaltensweisen von allein vermeiden würden. Die Existenz der pauper strafte diese staatsbildende Theorie Anfang des 19. Jahrhunderts Lügen und stellte laut Bohlender gerade deshalb eine soziale und politische Bedrohung dar. 17 Die britischen Sanitarist_innen und Sozial-reformer_innen, die sich intensiv mit der Armengesetzgebung und den ungesunden Lebensumständen der armen und arbeitenden Schicht beschäftigten, argumentierten, dass die ,Verdorbenheit' dieser sozialen Klasse nicht aus ihrer Freiheit resultiere, sondern aus ihrer Unfreiheit von den schlechten hygienischen Bedingungen, die sie umgaben. Die liberale Intention der Sanitarist_innen hat jüngst auch Frank Snowden in seinem Buch "Epidemics and Society" betont 18 : Das Ziel war, die arbeitsfähigen Armen dazu zu bringen, unter allen Umständen, notfalls in workhouses, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Statt wohlfahrtsstaatlichen Interessen zu dienen, war die Armenpolitik ein Instrument zur Kontrolle und Regulierung von Verhaltensweisen unter den Ärmsten. Krankheit war in erster Linie deshalb ein Problem, weil sie zu Arbeitsunfähigkeit führen konnte. Die neuen Gesetze zielten auf den Körper des jungen männlichen Arbeiters und den Erhalt seiner Produktivität. Other possible meanings of public health were never broached. Women, children, and elders, together with their diseases were of no major interest in the Sanitary Report. Even the middle classes were largely ignored. Chadwick intended that "middling sorts" should benefit from the sanitary revolution, but he said little about their burden of disease. The middle-class gains that he stressed were social stability, an improved urban environment, and an economy strengthened by a healthy workforce. 19 Die Bürokratie der Armengesetz-Reform, die Chadwick vorantrieb, ermöglichte eine genauere Untersuchung des Zusammenhangs von Epidemien und den schlechten Lebensbedingungen der armen arbeitenden Bevölkerung. 20 Das Eingreifen des Staates in diese Bereiche wurde damit gerechtfertigt, dass es die Folgen einer früheren falschen Politik -der alten poor laws -beseitigen würde. In den USA konnte man, wie Charles Rosenberg schreibt, nicht trotz, sondern gerade wegen der großen Bedeutung liberaler und republikanischer Weltanschauung nicht auf eine solche Rationalisierung staatlicher Eingriffe zurückgreifen. Die Vorstellung, dass diese Art der ,Unfreiheit' als Relikt der ,Alten Welt' gerade die Emigranten anfällig für Seuchen und verdächtig machte, diese in die ,Neue Welt' einzuschleusen, war dafür in den USA verbreitet. 21 Anders als in Großbritannien sah man sich hier jedoch nicht in der Verantwortung, diese Fehler, die ja aus der ,Verdorbenheit' der europäischen Gesellschaften und Staatsformen resultierten, auszugleichen. Wer nach Amerika kam, war per Definition frei und damit auch für sich und seine Gesundheit selbst verantwortlich, stellte Dorothy Porter mit Verweis auf Thomas Jefferson fest: According to Jefferson, despotism produced disease, democracy liberated health. Jefferson believed that a life of political "liberty and the pursuit of happiness" would automatically be a healthful one. He told his co-signer of the Declaration of Independence, the physician and patriot Benjamin Rush, that the iniquity of European absolutism was reflected in its people's wretchedly unhealthy and demoralized condition. Democracy was the source of the people's health. Democratic citizens, self-educated in exercising their political judgment, would secure a healthful existence. In den USA setzte die Institutionalisierung nationaler Strukturen der Seuchenbekämpfung und -prävention deutlich später ein. McCoy betont hier die Bedeutung der germ theory, die als breit anerkannte medizinische Theorie dem Staat nun als Handlungsgrundlage dienen konnte. Die Bedeutung der germ theory ebenso wie die Tatsache, dass sich diese Institutionalisierung aus dem "Marine Hospital Service", also einer militärischen Struktur der Seuchenabwehr an den Grenzen, heraus entwickelte, sieht der Autor als Grund dafür, dass sich Quarantäne und Zwang dauerhaft in die public-health-Praxis der USA einschreiben konnten (S. 110 f.). Die besondere Konzentration auf Quarantäne in den USA lässt sich -neben den von McCoy nur wenig berücksichtigten geografischen Gründen -möglicherweise aber auch (Stichwort Kolonialgeschichte) aus Strategien der Konstituierung nationaler Identität in Abgrenzung zum britischen ,Mutterland' und der ,Alten Welt' stichhaltiger erklären. Alison Bashford hat diesen Zusammenhang etwa für Australien herausgearbeitet: Part of the effect of quarantine was the imagining of Australia as an ,island nation', in which island stood for purity but was also therefore vulnurability to invasion by infectious diseases. The maritime quarantine line was seen to secure the nation at its border: it was a major measure of defense at the frontier. 24 licher Krankheiten und ,Unreinheit' auf die Einwanderer_innen. 25 Eine größere Anerkennung der bestehenden medizin-und wissenschaftshistorischen sowie kulturwissenschaftlichen Forschung hätten McCoys Ergebnisse mit mehr Widersprüchen und offenen Fragen konfrontiert, ihnen aber auch größere Aussagekraft verliehen. Wenn es darum geht, Erkenntnisse zu produzieren, die uns vielleicht auch aus politikwissenschaftlicher Sicht und mit Blick auf das aktuelle Jahrhundert der neuen und wieder vermehrt auftretenden Infektionskrankheiten und Pandemien weiterhelfen könnten, ist Interdisziplinarität besonders gefragt. Denn wie McCoy richtig bemerkt, stellen die nationalen Pfadabhängigkeiten der Strategien im Umgang mit Epidemien eine Herausforderung für die dringend benötigte inter-und transnationale Kooperation in diesem Bereich dar. Interessant wäre es vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie, zu untersuchen, inwiefern die Unbeweglichkeit solcher staatlichen Strukturen ein gemeinsames Handeln zur Kontrolle von Infektionskrankheiten behindert, oder auch, ob angesichts der aktuellen Bedrohung und intensiven öffentlichen und politischen Diskussion möglicherweise vielfältige neue Pfade beschritten werden, die die Pandemiepolitik des begonnenen Jahrhunderts langfristig zeichnen werden. McCoy, Charles Allan: Diseased States. Epidemic Control in Britain and the United States, 224 S. , Massachusetts UP, Amherst, MA 2020. Irene Poczka promovierte 2013 an der Freien Universität Berlin zur Geschichte von Gesundheitspolitik in Europa. Ihre Dissertation ist 2017 unter dem Titel "Die Regierung der Gesundheit" bei transcript erschienen. Bis 2021 forschte sie an der Universität Tübingen im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin zu zeitgeschichtlichen Programmen von gesundheitlicher Prävention und Seuchenbekämpfung und im Rahmen des SFB 923 "Bedrohte Ordnungen" als Bearbeiterin des Teilprojekts "Resistente Mikroben: Die Bedrohung und Neuordnung der ,Medizinischen Ordnung' durch Antibiotikaresistenzen seit den 1990er Jahren". Seit Kurzem ist sie selbstständig als Wissenschaftlerin und Mitglied des Politologinnen-Institut tätig. Wie Alexandra Minna Stern, die ihren Blick auf die Einwanderungspolitik und Quarantäne an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze zu Beginn des 20 Cholera Years (wie Anm. 10) Alison: Imperial Hygiene. A Critical History of Colonialism, Nationalism and Public Health Buildings, Boundaries, and Blood. Medicalization and Nation-Building on the Porter: Health (wie Anm. 22), S. 194 The Beginnings of the Public Health Movement in the United States S. 151; Costa, Dora L.: Health and the Economy in the United States from 1750 to the Present