key: cord-0034661-1ooo1vwd authors: Sommer, Norbert title: Multiple Sklerose — eine neuroimmunendokrine Erkrankung date: 2007 journal: Gehirn und Geschlecht DOI: 10.1007/978-3-540-71628-0_15 sha: de3e3ab3ddd971e4f01e6bac3e7fcf3544f1a7f4 doc_id: 34661 cord_uid: 1ooo1vwd Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische, entzündlich-demyelinisierende Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS), betrifft also Gehirn und Rückenmark, wobei heute eine autoimmune Ätiologie allgemein angenommen wird. Sie ist die häufigste Entmarkungserkrankung des ZNS in Nordeuropa und Nordamerika (Prävalenz 1:1000) und die häufigste chronisch-neurologische Erkrankung, die bei jungen Erwachsenen zu bleibender Behinderung führt. > »Wir dürfen jedenfalls die praktische Folgerung daraus ziehen, dass wir uns da für berechtigt halten, die Schwangerschaft zu vermeiden, wo eine multiple Sklerose schon vorliegt. ... Ist das Leiden während einer Gravidität entstanden, oder hat es sich während einer solchen verschlimmert, so wird man die Möglichkeit eines artifiziellen Aborts bzw. die Sterilisation denken müssen.« (R. Beck 1913) »Die Beobachtung, daß etwa bei 20% unserer Patientinnen die ersten Zeichen ihrer Multiplen Sklerose sich während oder nach ihrer Schwangerschaft entwickelt hatten, entspricht den in der Literatur niedergelegten Zahlen.« (K. Kulig 1956) »Insgesamt jedoch -so haben Untersuchungen gezeigt -haben Schwangerschaften und Entbindungen keinen ungünstigen Einfluss auf den Gesamtverlauf der MS. Nach neuesten Studien soll eine Schwangerschaft nach Ausbruch der MS den Verlauf sogar günstig beeinflussen.« (U. Schäfer u. S. Poser 2002) 15.1 Einführung Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische, entzündlich-demyelinisierende Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS), betrifft also Gehirn und Rückenmark, wobei heute eine autoimmune Ätiologie allgemein angenommen wird. Sie ist die häufigste Entmarkungserkrankung des ZNS in Nordeuropa und Nordamerika (Prävalenz 1:1000) und die häufigste chronisch-neurologische Erkrankung, die bei jungen Erwachsenen zu bleibender Behinderung führt. Geschlechtsspezifische Elemente lassen sich bei der MS auf mehreren Ebenen nachweisen. Die Erkrankung ist bei Frauen etwa doppelt so häufig als bei Männern, wie dies für viele Autoimmunerkrankungen typisch ist, ohne dass eine genaue Ursache dafür bekannt wäre. Außerdem wird der Verlauf einer MS durch eine Schwangerschaft beeinflusst, was einen hormonellen Einfluss sehr wahrscheinlich macht. Schließlich haben bestimmte Krankheitssymptome und -folgen bei Frauen und Männern unterschiedliche Auswirkungen, was zu Unterschieden in Wahrnehmung, Diagnosestellung und Lösungsansätzen führt. Diese geschlechtsspezifischen Aspekte werden hier im Kontext einer allgemeinen Übersicht über die MS dargestellt. Bei den meisten Patienten (etwa 80%) beginnt die Erkrankung schubförmig, wobei sich anfangs die neurologischen Ausfälle oft vollständig zurückbilden. Im weiteren Verlauf sind die Remissionen häufig inkomplett. Der schubförmige Verlauf kann in eine chronisch-progrediente, also schleichende Verschlechterung übergehen (sekundär-progredient). Bei den restlichen Patienten verläuft die Erkrankung von Beginn an progredient (primärprogredient) . Eine Einteilung der verschiedenen Verlaufsformen zeigt ⊡ Abb. 15.1. Die Symptomatik der MS ist äußerst vielfältig, da praktisch jede Region des ZNS vom Krankheitsprozess betroffen sein kann. Besonders häufig sind Sehstörungen (z. B. bei einer isolierten Sehnerventzündung), Sensibilitätsstörungen, Paresen (Lähmungen), Koordinationsstörungen (z.B. bei Beteiligung des Kleinhirns), Blasen-und Sexualfunktionsstörungen (v. a. bei Rückenmarksbeteiligung) . Häufige und typische Symptome sind in ⊡ Tab. 15.1 zusammengefasst (Poser et al. 1979) . Neben diesen, meist fokal gut lokalisierbaren Symptomen, kann es bei einer MS auch zu weniger spezifischen zerebralen Symptomen wie Depression, Abgeschlagenheit (sog. Fatigue) und kognitiven Störungen kommen (⊡ Tab. 15.2). Depression. Eine Depression tritt bei MS-Patienten dreimal häufiger als in der Allgemeinbevölkerung auf. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei etwa 50% der MS-Patienten (Siegert u. Abernethy 2005; Haupts 2005 ). Auch wenn die Ursache der Depression bei MS-Kranken multifaktoriell ist, gibt es 15.3 · Symptomatik 15 251 ⊡ Abb. 15.1. Verlaufstypen der Multiplen Sklerose. Bei etwa 80% der Patienten beginnt die Erkrankung schubförmig (RR-MS, relapsierend-remittierende MS) mit kompletten (A) oder inkompletten (B) Remissionen. In etwa 50% der Fälle ist der schubförmige Verlauf nach 10 Jahren in einen sekundärprogredienten (SP-MS) Verlauf ohne (C) oder mit weiteren Schübe (D) übergegangen. Bei etwa 15% der Patienten be-steht von Anfang an eine schleichende Verschlechterung, also eine primär-progrediente MS (PP-MS) (E), bei der stabile Phasen und zeitweise leichte Verbesserungen (F) durchaus vorkommen können. Kommt es in seltenen Fällen bei einer PP-MS im späteren Verlauf erst zu einzelnen Schüben spricht man von einer relapsierend-progredienten MS (hier nicht dargestellt) sere Prognose im Vergleich zu Patienten mit multifokaler Erstmanifestation, Kleinhirnsymptomen, oder motorischen Ausfällen. Für eine längerfristig eher gute Prognose spricht auch ein großer zeitlicher Abstand zwischen den ersten Schüben, ein gutartiger Verlauf innerhalb der ersten 5 Jahre und eine geringe Läsionslast in der MRT. Die neuen Therapien werden zweifelsohne eine grundsätzliche Verbesserung der Prognose und damit eine Änderung der öffentlichen Wahrnehmung dieser Erkrankung bringen. Therapie Regelmäßig überarbeitete Grundsätze der MS-Therapie sind über die Leitseiten der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (www.dgn.org) und der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (www. dmsg.de) frei zugänglich. Die Therapiemöglichkeiten haben sich in den letzten 15 Jahren deutlich verbessert, was insbesondere auf die Einführung von nachgewiesenermaßen wirksamen Langzeitimmuntherapien zurückzuführen ist. Als Therapien der ersten Wahl werden Interferon-β und Daneben besteht die Langzeitbetreuung dieser chronisch Kranken in einer adäquaten symptomatischen Therapie. Diese besteht aus Physiotherapie, Ergotherapie und medikamentöse Therapien zur Besserung von Spastik, Schmerzen, Blasenstörungen, Sexualfunktionsstörungen, Koordinationsstörungen, Fatigue, Depression und kognitiven Störungen. Rehabilitationsmaßnahmen sind außerdem, in Abhängigkeit vom Erkrankungsstadium, prinzipiell sehr hilfreich, um eine langfristige physische und psychische Stabilisierung der Patienten zu unterstützen. Im Rahmen des großen finanziellen Drucks auf allen Ebenen des Gesundheitssystems ist es sehr zu begrüßen, dass auch diese nicht ursächlich, sondern rein symptomorientierten Therapieansätze in kontrollierten klinischen Studien untersucht werden, um die Wirksamkeit dieser zum Teil kostenintensiven Maßnahmen wissenschaftlich eindeutig zu belegen oder verwerfen zu können. Als Beispiel sei angeführt, dass Behandlungsmethoden der Physiotherapie und Rehabilitation, die bisher in der Regel aufgrund persönlicher Erfahrungen angewandt wurden, inzwischen in kontrollierten Studien eine deutlich besseres wissenschaftliches Fundament haben als noch vor wenigen Jahren (Liu et al. 2003 , Craig et al. 2003 . In den letzten Jahren, insbesondere seit Anfang der 1990er-Jahre ist eine enorme Fülle an pathogenetischen Daten zur Multiplen Sklerose zusammengetragen worden. Dennoch sind letztlich Ursache und genauer Entstehungsmechanismen nicht bekannt. Im Prinzip ist heute unbestritten, dass die MS eine ▬ entzündliche und degenerative (wahrscheinlich Autoimmun-) Erkrankung ist, bei der ▬ Umgebungsfaktoren bei der Manifestation eine wichtige Rolle spielen und ▬ eine eindeutige genetische Komponente vorliegt. Hauptargumente für die Autoimmunhypothese sind: ▬ Entzündlich-demyelinisierende und degenerative histopathologische Veränderungen ▬ Ansprechen auf immunmodulatorische Therapien ▬ Ähnlichkeit zum Tiermodell der MS, der sog. experimentell autoimmunen Enzephalomyelitis (EAE) Erbliche Faktoren spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung der MS. Die Tatsache, dass die MS familiär gehäuft auftreten kann, ist seit Ende des 19. Jahrhundert bekannt (Sommer et al. 1996 Carter, 1917 Carter, -1984 , der typischerweise bei polygenen Erbgängen auftritt, wird damit erklärt, dass das weniger betroffene Geschlecht eine schwerere genetische Belastung tragen muss (»Männer sind resistenter gegen MS«), damit die Erkrankung überhaupt zum Ausbruch kommt. Dadurch werden die Nachkommen stärker genetisch belastet (Kantarci et al. 2006 Die MS ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des ZNS, bei der es durch die Entzündungsreaktion zur Demyelinisierung und somit zum Funktionsverlust kommt. Bereits früh im Verlauf ist aber auch eine degenerative Komponente in Form eines massiven axonalen Verlusts in frischen ZNS-Läsionen nachweisbar (Lassmann 2003) . Seit einiger Zeit gibt es auch Hinweise, dass autoimmune T-Zellen in verletzte ZNS-Areale einwandern können und eine Art Schadensbegrenzung vermitteln können (Moalem et al. 1999) . Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass humane T-und B-Zellen und Makrophagen in der Lage sind, den brain-derived neurotrophic factor (BDNF) zu produzieren. BDNF gehört neben nerve growth factor (NGF), Neurotrophin 3 (NT3) und Neurotrophin 4/5 (NT4/5) zu den klassischen Neurotrophinen. Diese kleinen endogenen Proteine haben antiapoptotische Effekte, die bei der Entwicklung des Nervensystems eine entscheidende Rolle spielen (Kerschensteiner et al. 2003) . Andererseits konnte durch eine Gabe von exogenem NGF die Entzündungsreaktion und die klinischen Symptome im Tiermodell der EAE abgeschwächt werden (Arredondo et al. 2001 ). Zusammengefasst ergeben sich also erste Hinweise, dass die Interaktion zwischen Immun-und Nervensystem nicht nur einseitig aus Schutz und konsekutiv Zerstörung des Nervensystems durch Bestandteile des Immunsystems besteht. Vielmehr sind die Wechsel-wirkungen komplexer und das Immunsystem kann neurotrophe/protektive Eigenschaften wahrnehmen, während das Nervensystem seinerseits immunmodulatorisch/suppressiv tätig werden kann. (Brown et al. 2006) . Endokrine Untersuchungen zu biologischen Stressparametern zeigen, dass bei MS-Patienten, eine Veränderung des Steroidstoffwechsels gefunden wird, wie dies für Patienten mit Depression seit langem bekannt ist (Heuser et al. 1994) . So fanden Grasser et al. (1996) bei 10 von 19 MS-Patienten eine Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse. Mittels des kombinierten Dexamethason-Suppression/Corticotropin-releasing-hormone-Stimulationstest (Dex-CRH-Test) zeigten die Autoren, dass die gefundenen Störungen heterogen waren. So fand sich bei sechs Patienten eine überschießende Kortisolantwort, bei vier Patienten dagegen überhaupt keine Stimulierbarkeit. Dieser Befund war unabhängig von vorausgehenden Steroid-oder Immuntherapien und vom psychopathologischen Befund und wird als Störung auf der Glukokortikoidrezeptor-Ebene interpretiert. Darauf aufbauend fanden Schumann et al. (2002) , dass die Kortisolantwort im Dex/ CRH-Test bei 53 MS-Patienten negativ mit der Anzahl an kontrastmittelaufnehmenden (also frischen aktiven) Läsionen im Kernspintomogramm, korrelierte. Dies könnte bedeuten, dass dieser endokrine Regulationsmechanismus eine wichtige Rolle bei der Kontrolle und Begrenzung der immunologischen Aktivität im ZNS spielt. Zusammenfassend könnte Stressbegrenzung, sei es mittels verbesserter psychologischer Krankheitsverarbeitung (Coping) oder mit Hilfe biologisch-pharmakologischer Ansätze, ein wichtiger Aspekt für zukünftige Therapiestrategien sein. Die MS ist keine ausgesprochene Frauenerkrankung. Frauen sind jedoch häufiger betroffen als Männer, wie dies auch bei den meisten anderen Autoimmunerkrankungen der Fall ist. Der Grund für die Geschlechtspräferenz bei Autoimmunerkrankungen ist nicht bekannt, nicht zuletzt, da dieses Phänomen noch kaum Gegenstand der Grundlagenforschung ist. Autoimmunerkrankungen sind häufig und betreffen mindestens 3% der Bevölkerung der westlichen Industriestaaten. Prävalenz und Inzidenz einiger Autoimmunerkrankungen und deren Geschlechterverteilung sind in ⊡ Tab Immunantwort bei Multipler Sklerose Interferon-g Interleukin-2 Tumor-Nekrose-Faktor-a Tumor-Nekrose-Faktor-b Interleukin-4 Interleukin-5 Interleukin-10 Interleukin-13 S c h w a n g e rs c h a ft S c h u b re d u k ti o n * Th2 Th1 Th2 Th1 Th1 Th2 Th2 Th1 nicht abgestoßen wird. Hierfür wird das mütterliche Immunsystem in Richtung einer Th2-Immunantwort moduliert (Raghupathy 1997) . Dies ermöglicht eine erfolgreiche Schwangerschaft und stabilisiert parallel dazu eine vorliegende Multiple Sklerose, die klassischerweise als Th1-Erkrankung gesehen wird (s. oben) und durch einen Th2-Shift abschwächt werden kann. So plausibel und schlüssig diese Erklärungen klingen mögen, sollen sie nicht darüber hinweg täuschen, dass erst ein Teil davon durch konkrete molekulare Daten nachgewiesen ist und ein substantieller Anteil dieser Befunde in tierexperimentellen Modellen erhoben wurde. Noch mindestens bis in die 1950er-Jahre hinein wurde eine Multiple Sklerose als Kontraindikation für eine Schwangerschaft angesehen (s. oben). Heute ist es allgemein verbreiteter und gut fundierter Kenntnisstand, dass Schwangerschaften keinen ungünstigen Einfluss auf den Gesamtverlauf der Multiplen Sklerose haben. Diese auffallende Kehrtwende der Auffassungen ist nicht leicht zu erklären. Vermutlich hat das Auftreten von MS-Schüben nach Ende der (früher ohnehin häufigeren) Schwangerschaften dazu geführt, dass dieser Zusammenhang stärker wahrgenommen wurde, als das Ausbleiben von Schüben während einer Schwangerschaft. Letztlich hat sich erst mit der Durchführung konkreter klinischer Studien die heute etablierte Auffassung durchgesetzt. Heute ist klar, dass das Schubrisiko im Laufe einer Schwangerschaft abnimmt und in den ersten drei Monaten postpartal vorübergehend zunimmt. Der Langzeitverlauf einer Multiplen Sklerose wird durch eine Schwangerschaft jedoch nicht beeinflusst. In einer der größten Studien wurden in 12 europäischen Ländern die Schubhäufigkeiten bei 254 Frauen mit MS vor, während und nach insgesamt 269 Schwangerschaften verglichen (Confavreux et al. 1998) . Die durchschnittliche Schubrate im Jahr vor der Schwangerschaft war 0,7, fiel während der Schwangerschaft kontinuierlich ab und erreichte im dritten Trimenon 0,2 (hochgerechnet pro Jahr) im Mittel. In den drei Monaten nach Ende der Schwangerschaft kam es zu einem vorübergehenden Anstieg der Schubhäufigkeit auf 1,2 mit anschließendem Abfall auf die Frequenz vor der Schwangerschaft (⊡ Abb. 15.4). Patientinnen, die stillten, hatten im Jahr nach der Entbindung eine leichte, aber statistisch signifikante Reduktion ihrer Schubrate. Die Schubrate im Gesamtverlauf der 33-monatigen Beobachtungszeit war durch die Schwangerschaft nicht verändert und ebenso fand sich kein Einfluss der Schwangerschaft auf die insgesamt langsam fortschreitende Behinderung. Ähnliche Ergebnisse wurden im Prinzip in allen neueren gut durchgeführten Studien gefunden, wobei ein Einfluss des Stillens in den meisten Studien nicht nachweisbar ist. Eine schwedische Studie mit 153 Frauen zeigt darüber hinaus, dass bei Frauen, die geboren haben, ein niedrigeres MS-Erkrankungsrisiko besteht und dass im Falle des Auftretens einer MS, diese nach einer durchgemachten Schwangerschaft ein geringeres Progressionsrisiko hat als bei Nulliparae (Runmaker et al. 1995) . Untersuchungen zu immunologischen Veränderungen bei Schwangerschaften, mit oder ohne MS, sind bisher leider spärlich. Gesunde Frauen zeigen in einer Schwangerschaft einen Anstieg der Blutleukozyten, insbesondere der Population der T-Zellen, ohne dass sich wesentliche Unterschiede bei einzelnen Subpopulationen im Vergleich zu nicht schwangeren Kontrollpersonen nachweisen lassen. Bei MS-Patientinnen wurden in einer Studie eine Reduktion der CD8-positiven Lymphozyten und des CD4/CD8-Verhältnisses gefunden, ohne dass ein Zusammenhang mit der klinischen Krankheitsaktivität vorlag (Birk et al. 1990 In einer Therapiestudie an 10 Patientinnen mit MS (sechs mit schubförmigem, vier mit sekundärprogredientem Verlauf) wurde das Schwangerschaftsöstrogen Östriol in einer Dosis von 8 mg/ Tag oral über einen Zeitraum von sechs Monaten verabreicht. Unter dieser Therapie wurden Serumöstriolspiegel erreicht, wie sie im sechsten Schwangerschaftsmonat auftreten. Es kam zu einer Reduktion der zellulären Immunantwort (nachgewiesen mittels Hauttestung und Interferon-γ Produktion in der Zellkultur) und zu einer Reduktion der kernspintomographisch messbaren Krankheitsaktivität. Eine Änderung der Schubrate wurde nicht gefunden, was bei Phase-I/II-Studien dieser Größe praktisch kaum möglich ist (Sicotte et al. 2002) . Weitere klinische Studien mit diesem Ansatz sind sicherlich gerechtfertigt. Es darf aber nicht darüber hinweg gesehen werden, dass eine Langzeitanwendung von Östrogenen erhebliche Nebenwirkungen haben kann. Neben einem erhöhten Thromboserisiko wird auch die Entstehung hormonabhängiger Tumoren begünstigt. Durch Kombination der Östrogene mit Gestagenen sinkt zwar das Risiko eines Gebärmutterschleimhaut (Stenager et al. 1992) . In diesem Zusammenhang ist auch die Beobachtung von Bedeutung, dass MS-betroffene Männer deutlich mehr von einer Ehe oder Partnerschaft profitierten als Frauen. Auch wenn in dieser Studie (Harrison et al. 2004 ) kein Zusammenhang zwischen Akzeptanz der Erkrankung und Grad der Behinderung bestand, waren bei Männern sowohl ein geistiger als auch ein körperlicher Gewinn aus einer Partnerschaft nachzuweisen. MS-betroffene Frauen profitierten nicht von einer Partnerschaft, stattdessen entwickelte sich eine zunehmende Krankheitsakzeptanz im Laufe der Zeit unabhängig von Familienstand oder Partnerschaft. Geschlechtsunterschied liegt schließlich noch bei der Diagnosestellung. Die MS mit ihren vielfältigen Manifestationsmöglichkeiten wurde bis in die 1990er-Jahre hinein im Durchschnitt erst fünf Jahre nach Beginn der ersten Symptome diagnostiziert. Eine Untersuchung aus Israel (Levin et al. 2003 ) beschäftigt sich mit der Häufigkeit und Art von Fehldiagnosen bei 50 Patienten, bei denen schließlich eine MS vorlag. Die Rate an anfänglichen Fehldiagnosen lag bei den 33 Frauen mit 64% deutlich höher als bei den 17 Männern (47%). Während die Fehldiagnosen bei den männlichen Patienten meist orthopädische Erkrankungen oder Infektionen waren, wurden bei den Patientinnen oft psychiatrische Probleme (u. a. Angststörung, Somatisierung oder Konversion) oder medizinisch nicht erklärbare Störungen diagnostiziert. Dieses Phänomen erinnert stark an das 1991 erstmals beschriebene Yentl-Syndrom bei der koronaren Herzerkrankung. Frauen mit Herzinfarkt warten selbst länger zu, ihre Beschwerden werden ärztlicherseits oft als »atypisch« interpretiert und sie werden später therapiert. Auch wenn die MS, im Gegensatz zur »Männer-und Managerkrankheit« Herzinfarkt, eher eine Frauenkrankheit ist, finden sich zwischen beiden bemerkenswerte Parallelen. Der Terminus Yentl-Syndrom (Healy 1991) beruht auf einer Kurzgeschichte Isaac Singers und einem Film mit Barbra Streisand, in dem die junge osteuropäische Jüdin Yentl sich nicht mit ihrer Frauenrolle abfinden will, aber erst als Mann verkleidet auf eine Religionsschule gelassen wird. Die Multiple Sklerose ist eine chronische, entzündlich-demyelinisierende Erkrankung des Zentralnervensystems und die häufigste chronisch-neurologische Erkrankung, die bei jungen Erwachsenen zu bleibender Behinderung führt. Sowohl Erkrankungsmanifestation als auch -verlauf sind äußerst variabel, was die Einschätzung der Langzeitprognose im Einzelfall schwierig macht. Allerdings werden neue und laufend zunehmende Therapiemöglichkeiten ohne Zweifel das Bild der Erkrankung grundsätzlich verändern und ihre Prognose verbessern. In der Pathogenese der MS spielen sowohl genetische Faktoren als auch Umwelteinflüsse eine Rolle. Ein wesentlicher neuer Befund ist, dass MS-Läsionen histopathologisch in vier Muster unterteilt werden können. Bei zwei dieser Muster steht der entzündliche Prozess im Vordergrund, bei zwei weiteren Typen die degenerative Komponente. Es ist zu hoffen, dass eine Korrelation zwischen histopathologischen und kernspintomographischen bzw. klinischen Befunden zu individuelleren Therapien führt. Geschlechtsspezifische Elemente betreffen zahlreiche Aspekte der Multiplen Sklerose. Frauen sind häufiger betroffen, wie dies bei vielen (aber keinesfalls allen) Autoimmunerkrankungen der Fall ist. Hormonelle Einflüsse sind daher wiederholt postuliert worden, aber auf molekularer Ebene noch kaum konkret nachweisbar. Eindrücklich ist der Einfluss der Schwangerschaft auf die MS. In einer Schwangerschaft ist das Risiko für MS-Schübe deutlich reduziert; im letzten Drittel einer Schwangerschaft ist das Risiko sogar so gering, dass es die Effizienz der meisten heute verfügbaren immunmodulatorischen Therapie übertrifft. Eine gute (und zumindest durch Tiermodelle gestützte) Hypothese ist, dass es in der Schwangerschaft zu einer sog. Immundeviation, also einer Umstellung von einer Th1-zu einer Th2-Antwort, kommt, was sich günstig auf den Erkrankungsverlauf auswirkt. Ansätze, die mit Hilfe von Hormonen die Erkrankung abschwächen sollen, stecken allerdings erst in den Anfängen. Neben diesen molekularen Aspekten spielen aber auch eine Reihe allgemeiner klinische Beobachtungen eine Rolle in der geschlechtsspezifischen Betreuung von MS-Patienten. So werden Sexualfunktionsstörungen bei Frauen deutlich weniger beachtet bzw. berichtet als bei Männern, wohingegen kognitive Einschränkungen und auch Suizide aufgrund einer MS-bedingten Depression bei Männern häufiger sind. Role of nerve growth factor in experimental autoimmune encephalomyelitis Sex differences in cognitive impairment in multiple sclerosis Multiple Sklerose The clinical course of multiple sclerosis during pregnancy and the puerperium Relationship between stress and relapse in multiple sclerosis: part I. Important features The spectrum of multiple sclerosis: new lessons from pathology Identification of Epstein-Barr virus proteins as putative targets of the immune response in multiple sclerosis Rate of pregnancy-related relapse in multiple sclerosis. Pregnancy in Multiple Sclerosis Group A randomised controlled trial comparing rehabilitation against standard therapy in multiple sclerosis patients receiving intravenous steroid treatment Efficacy of sildenafil in the treatment of female sexual dysfunction due to multiple sclerosis Multiple sclerosis among United Kingdom-born children of immigrants from the Indian subcontinent, Africa and the West Indies Cytokine mRNA expression in patients with multiple sclerosis and fatigue Rehabilitation of intimacy and sexual dysfunction in couples with multiple sclerosis Heterogeneity of hypothalamic-pituitary-adrenal system response to a combined dexamethasone-CRH test in multiple sclerosis Marriage, impariment, and acceptance in persons with multiple sclerosis Henze, T (Hrsg) Symptomatische Therapie der Multiplen Sklerose. Thieme The Yentl syndrome The combined dexamethasone/CRH test: a refined laboratory test for psychiatric disorders Men transmit MS more often to their children vs women. The Carter effect Neurotrophic cross-talk between the nervous and immune systems: Implications for neurological diseases Gestationsprozesse und Multiple Sklerose Axonal injury in multiple sclerosis Patterns of misdiagnosis of multiple sclerosis Does neurorehabilitation have a role in relapsing-remitting multiple sclerosis? The »gender gap« in autoimmune disease Autoimmune T cells protect neurons from secondary degeneration after central nervous system axotomy Association between stressful life events and exacerbation in multiple sclerosis: a meta-analysis TH1 and TH2 cells: different patterns of lymphokine secretion lead to different function properties Psychological stress as risk factor for exacerbations in multiple sclerosis Diagnostic criteria for multiple sclerosis: 2005 revisions to the »McDonald Criteria« Clinical data and the identification of spezial forms of multiple sclerosis in 1271 cases studied with standardized documentation system Th1-type immunity is incompatible with successful pregnancy Pregnancy is associated with a lower risk of onset and a better prognosis in multiple sclerosis Gender-related effect of clinical and genetic variables on the cognitive impairment in multiple sclerosis Multiple Sklerose Activity of the hypothalamic-pituitary-adrenal axis in multiple sclerosis: correlations with Gadolinium-enhancing lesions and ventricular volume Treatment of multiple sclerosis with the pregnancy hormone estriol Depression in multiple sclerosis: a review Der Einfluß genetischer Faktoren auf die multiple Sklerose Suicide and multiple sclerosis: an epidemiological investigation Clinical characteristics of cortical multiple sclerosis Sexual dysfunction in multiple sclerosis: a 2-year follow-up study