key: cord-0035519-vrcwfn5j authors: Gross, Thomas title: Strategien der Distanzierung. Die späten Raumerkundungen date: 2016-10-04 journal: Alltagserkundungen DOI: 10.1007/978-3-476-03465-6_4 sha: 4346f2b16514cd8f95bd2e6ac1a0ce60c1872031 doc_id: 35519 cord_uid: vrcwfn5j Der Anspruch ist dick unterstrichen: “Noch einmal anfangen: ganz unten, mit Fakten.”(1) Rolf Dieter Brinkmanns nach 1970 geschriebene Texte sind das Dokument einer Umorientierung, die freilich nur den immer schon vorherrschenden empirischen Aspekt des Schreibens ins Extrem treibt. Mit den Collage-Bänden Rom, Blicke (1972/73 entstanden und 1979 veröffentlicht), Erkundungen zur Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand (1971 und im Mai 1973 entstanden, 1987 veröffentlicht) und schließlich Schnitte (März 1973 bis Juni 73 entstanden und erst 1988, 13 Jahre nach dem Tod des Autors, zur Veröffentlichung freigegeben) fand Brinkmann zu einer Form, die jegliche Rücksichtnahme darauf, wie ein ’literarischer’ Text auszusehen hat, hinter ein striktes Ziel zurückstellte: Materialien zu einer “Grundlagenforschung der Gegenwart”(2) beizutragen. Vorsto8e aDS der Schreibzelle "Ich, ich, ich, ich, iell "12 Rolf Dieter Brinkmanns spate Texte gehen von einem Zustand aus, in dem die Utopie der Unmittelbarkeit auf bedriickende Weise Wirklichkeit geworden ist. Das Ich verfiigt tiber keine verIaBliche Instanz der Reizorganisation mehr. Es kann sich weder auf intakte Werte, noch auf eine fraglos hingenommene Institution Literatur zuruckziehen, "Ah, hatte ich eine Ideologie, einen Glauben, eine Stilisierung", heiBt es in Ein unkontrolliertes Nachwortzu meinen Gedichten, "wie leicht fieIe mir, Gedichte zu verkaufen, Sonderangebote, Glauben, Hoffnung, Menschlichkeit, Worter, Antworten auf die Ratlosigkeit, ja, hatte ich eine Ideologie, einen Glauben, eine Stilisierung, hatte ich auch Zitate, und ich konnte eine Zukunft verhokern [...] . "13 Die Konjunktive unterstreichen, was inhaltlich gesagt wird: der Rekurs auf kanonische Sprechhaltungen ist nicht mehr moglich , Das Schreiben der spaten Texte ist mehr denn je ein Schreiben "ohne Netz",14 ohne vorgegebene Struktur und Ordnung. Es richtet sich ganz am Material aus. Die Materialitat der Welt ist nach dem Ende des graBen Aufbruchs aber gerade das Bedriickende. Das Ich sieht sich umzingelt von Schockmomenten, in deren Kreuzfeuer es die Fahigkeit zur Selbstlokalisierung verloren hat. "Das ist Krieg. Jeden Augenblick. Jede Sekunde."15 Von iiberall her dringt ein total gewordener Funktionszusammenhang auf den Korper ein und unterwirft ihn seinen Gesetzen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit erscheint als "riesiges Konzentrationslager der Arbeit"16 oder auch buchstablich als "Holle",17 ein graBangelegtes System von Uberwachen und Strafen, das aile individuellen und sponta nen Regungen im Keirn erstickt. Fremd und bekannt zugleich ist diese Welt der spaten Raumerkundungen. Letztlich be schreiben sie nichts an de res als einen ganz 12 Rom gewohnlichen AIltag, in dem das Ich einer subtilen behavioristischen Konditionierung unterliegt. Der AIltag ist ein problematisches Erkenntnisobjekt -schwer zu begreifen und noch schwerer zu systematisieren. In der Regel ist er "so grau wie die Theorie, die nicht zu ihm vordringt, weil er ihr nicht fein genug ist. Zum AIltag gehort das Beschrankte und Endlose, das Langweilige und Aufreizende, das Offensichtliche und nicht Erkannte, das Unauffallige und eigentlich nicht Wissenschaftswurdige.v'f Und doch ist es der AIltag -streng genommen sogar nur der AIltag -, in dem das, was eine Gesellschaft in ihrer Totalitat ausmacht, konkret sich durchsetzt. 'AIltag' ist nur ein anderes Wort fiir das nichtmetaphysische Leben schlechthin, das reale Sein mit seinen realen, diffusen Strukturen. Deshalb ist der AIltag ebenso schwer zu entbehren wie qualend und endlos; er kann Sicherheit, Ordnung, 'Identitat' verleihen, weil erst in der Wiederkehr bestimmter Prozesse, Verrichtungen und Rituale die soziale Position eines Individuums sich bestatigt und festigt. Gleichzeitig aber ist das alltagliche Dasein an die Wiederkehr des Immergleichen gebunden, an die Herrschaft einermechanisierten, entqualifizierten Zeit, die der unablassigen Verwandlung von lebendiger Arbeit in tote entspricht. 1m AIltag erscheint Vergesellschaftung als Schicksal, als negative Identitat oder auch als sekundare Haut, aus der keiner kann. Der AIltag ist somit die unauffalligste, gleichzeitig aber auch die wirksamste Form sozialen Zwangs. Zumal im Spatkapitalismus unterwirft er die Individuen einem klebrigen 'Irgendwie' , einer Fremdbestimmung, die sich in der konkreten Erfahrung als schwer zu ortender Druck bemerkbar macht.l? "Ein grauer Regen von Notwendigkeiten fiel",20 heiBt es in Schnitte. Brinkmann problematisiert das Zwangsmoment des AIltags und begehrt gleichzeitig dagegen auf. "Was ist dagegen zu setzen, wenn nicht der Einzelne, der radikal, heftig, auch mit einer gewissen Riicksichtslosigkeit und Aggression, sich selbst dagegensetztr'v! In dem MaBe, in dem sich die sinnliche Welt zu einem nicht zu durchdringenden "elektrische[n] Labyrinth"22 zusammengezogen hat, wird Schreiben zum Medium der Selbstbehauptung. "AIles was ich will, ist in eine "Nun gehen sie aile in die Pizzerias und Ristorantes und quatschen."28 In der Absage an die Konvention greift Brinkmann auf Traditionen der antiutilitaristischen Boheme zuriick, schockt riicksichtslos, wo er bloB noch sattes juste milieu wittert, urn sich anschlieBend befriedigt vor die Maschine zuriickzuziehen. 29 Das romische Atelier wird zur Schreibklause, zu einer Art Sinnesentzugskammer.P die in grimmiger Askese sowohl gegen die legere GenuBkultur und den Gemeinschaftsgeist der Mitstipendiaten (die Boheme von gestern), als auch gegen jede Art von Medienimpulsen verteidigt wird. "Sie, die meisten, woIlen immer nur empfangen, 'empfangen', passiv, sie sind die Empfanger, wie bei Postwurfsendungen",31 heiBt es nun nur no ch abfallig zum Thema 'Medienkonsum' und 'Involvement'. Von sich selbst dagegen behauptet der 28 Ebenda, S. 86. 29 Es ist die alte Philisterschelte, die Brinkmann reaktiviert. Bereits bei Clemens Brentano erscheint der Philister als "ein mit allerlei liul3erlichen Leben szeichen behangener Leichenbitterstock". In der Beschimpfung von Kollegen als "stumpfe Stocke" (Rom , Blicke, S. 21), "Biertrinker" (S. 336) und "dickfellige allgemeinmenschliche Haut " (S. 387) schopft Brinkmann aus einem reichen Fundus der Brandmarkung des Philisters als "Fettbiirger", "Freflhans" und "Mastschwein der Geselligkeit" bei Richard Huel senbeck und anderen Dada-Provokateuren. "Sie wollen ein Amt, sie wollen eine Ausstellung, sie kampfen urn eine bessere Marktchance, sie sind eigentlich namenlose Arschlocher." (Rom , Blicke, S. 320); solche Satze entsprechen in ihrem antiutilitaristischen Affekt aufs genaueste Bretons Ekel vor den Auswiichsen eines "widerlichen materi ellen Wohllebens ", und wenn Brinkmann, iiber einer Lessing-Stelle in Tranen ausbrechend, das "Job-Gehabe der Kiinstler" (Rom, Blicke, S. 89) verflucht , so offenbart das dieselbe empfindsame Kehrseite, wie wenn Franz Werfel gegen die "Ausgepichten, Neunmalgewitzten, Schlauaugigen, Beutegierigen" polemi siert und zu dem Schlul3 kommt: "Sie kennen Deine Tranen nicht. Dreck, Berechnung und Ellenbogenwut beten sie an." (zu den Zitaten vgl. Helmut Kreuzer : Die Boheme, Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1968/1971, insbesondere S. 141-154). Es ist aber noch ein anderer Anachronismus, den Brinkmann inmitten der hedonistischen Mediengesells chaft wiederbeleb t. Ohne noch Intellektueller zu sein , zieht er sich auf eine Position zuruck, die Adorno -unter dem Eindruck der deutschen Geschichte • als die angestammte und verpflichtende Position des Intellektuellen beschrieben hat : gegen den "bosen Hintersinn des Behagens" anzukampfen, dem "lose]n], gesellige[n) Wort" zu mil3trauen: "Fiir den Intellektuellen ist unverbriichliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidaritat etwa noch zu bewahren vermag. AIles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist blol3e Maske furs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen." (Minima Moralia , a.a.O., S.21122) . 30 Brinkmann hat diese Versuchsanordnung sehr bewul3t herbeigefuhrt: "Entzieht man sich einmal den Reizen der Umwelt, reduziert man die Umwelt, an die man angeschlossen ist wie an eine riesige Schalttafel=Grol3stadt, deutet sich ein Effekt an wie in der Sinnesentzugskammer, dem absolut dunklen, schalltoten Raurn." (Rom, Blicke, S. 406). Die 'Kulturwas serh ahne' (Giinther Anders), die den Einzelnen unablassig mit Information berieseln , sollen gleichsam wieder zugedreht werden . 31 Rom , Blicke, S. 355. Bewohner von Atelier 11: "Ich bin auch ein geschlossenes System, nicht nur ein auf die AuBenwelt bezogenes System. " 32 Es ist der "totale, absolute Anspruch auf ein Ich",33 der in solchen Forrnulierungen zum Ausdruck kommt. Die Spannung, unter der die spaten Texte stehen, resultiert zu einem groBen Teil daraus, daB inmitten einer fur das Ich scheinbar aussichtslosen Lage noch einmal mit aller Vehemenz am Autonomiegedanken festgehalten wird. Die Aufbruchsbewegungen der sechziger ... Schreibzelle Jahre haben die Befreiung vom Alltag durch den Alltag nicht einlosen konnen, aber der Autor bleibt unversohnt, "Hebt das Entzucken nicht erst da an, wo das Gefiihl der eingeschrankten Ichheit mit allen seinen Qualen aufhort, und ein hoheres, edleres Leben seinen Anfang nimmt?", heillt es in einem apokryphen Bandchen von Karl Philipp Moritz, das Brinkmann gleich seitenweise (in fotokopierter Form) seinem eigenen Schreibstrom einverleibt hat. 34 32 Erkundungen, S. 176. 33 Rom spricht sich aus ihr Mut zu. "Am Ende komme ich zu mir seiber", heiBt es denn Natiirlich ist dieser Avantgardismus auch ein Avantgardismus aus Not; Brinkmann gelingt es nieht, die Wirklichkeit einfach auszugrenzen. DaB er, was die realistische Funktion der unmittelbar-sinnlichen Wahrnehmung anbelangt, auch gar keinen Wert darauf legt, erklart sich aus einer aggressiven Leugnung der Angst, ist gleichsam 'Pfeifen im Walde'.47Die Empirie der spaten Texte bezieht den Korper mit seinen Sinnen heroisch in die Versuchsanordnung mit ein -einen bewegten Korper, der "zitternde Membran"48 ist, gerade nieht geschlossenes System. Paradox daran ist alIerdings, daB der Weg zum selbstmachtigen Ich so doch nur wieder iiber das Material selbst fiihrt, iiber die Kenntnis der Binnenstrukturen des Augenblicks, die gleiehermaBen erkannt wie gebannt werden miissen. "Ich muB den Augenblick auseinanderbrechen",49 hellit es in Rom, Blicke. Der Sinnesdatenwirbel solI gleieh an der Wahrnehmungsbasis erfahren und im selbst-behauptenden Schreiben dingfest gemacht werden. Tatsachlich finden so Erfahrungen statt, die einem zielgerichteten BewuBtsein entgehen miissen. Es wird im folgenden noch deutlich werden, daB Brinkmanns Beobachtungen an 'Tiefenscharfe' kaum zu iiberbieten sind. Allerdings bringt das Ich der Raumerkundungen sich auch in immer die gleiche Kollision mit der Umwelt: IIl1 erschopfen", ja, erschopfen; das ist es oft in den Dingen."SO Die Praxis der spaten Texte ist eine Praxis der Verausgabung. Das Ich bereiehert sich nieht an der Welt, es verliert sich an sie. Auch hier eroffnet sieh eine interessante Parallele zu einer Form des 18. Jahrhunderts: zum biirgerlichen Tagebuch. Brinkmanns Schreiben Iiest sich wie eine spate Replik auf die Konstituierung von Innerlichkeit, fast als deren unfreiwillige Parodie. Denn der Konigsweg nach innen ist fiir ihn versperrt; davor baut sich unablassig und drohend die Welt auf. Der Vergleieh des tagebuchartigen Schreibens mit der (Gewinn verbuchenden) okoncmischen Buchfiihrung, der fiir den biirgerlichen Ursprung der Form gegolten haben mag,S1 trifft fiir sein Schreiben so nur noch auf das auBerliche 47 Die Psychoanalyse nennt diese Psycho-Logik 'kontraphobisches Verhalten'; das Ich sucht die Situationen, vor denen es Angst, hat, urn sich aggressiv in ihnen zu bewlihren . 48 Erkundungen, S. 117. An anderer Stelle heiBt es: "und wieder spielte so ein Lied ohne Worte und Musik auf meiner Haut dabei war die Haut gar nicht da denn ich war jetzt bloB so ein zitternder Geleeklumpen." (S. 99). Brinkmann fehlt die sprichwortliche 'dicke Haul'. Jeder Eindruck schreibt sich gewissermaBen direkt in den Kerper ein. 49 Rom (wenngleich verzweifelt vorgetragene) Moment der Willenserklarung zu. Zwar inventarisiert auch Brinkmann Eindruck fiir Eindruck; zwar will auch er vordergriindig zu einem Ausgleich kommen. Doch dem Ich gelingt es nicht, die Energiebetrage iiber das Schreiben wieder einzutreiben, die es auf seinen Gangen bestandig veraufiert, Am Modell einer idealtypischen 'Gesundheit' gem essen, ist sein psychischer Haushalt schwer gestort. Der Raum dominiert ein Ich, das nieht mehr zu einer biirgerlichen Ordnung zuriickfindet; es halt auf widerspriichliche Weise an 'biirgerlichen' Utopien fest, urn sie zugleieh zu verabsehieden. Man kann den heroiseh vorgetragenen Ansprueh auf Autonomie tatsachlich als spate Wiederholung einer historisehen Forderung lesen, die von Anfang an zutiefst widerspriiehlieh war . Heinz Sehlaffer hat gezeigt, daB die Ideale der Selbstbestimmung, des Organischen und Ganzen, die die Avantgarden des 18. Jahrhunderts ihrerseits im Riiekgriff auf die heroisehe Antike formulierten, in Widersprueh nieht nur zum Adel, sondern aueh zu den Auswirkungen der eigenen Produktion treten muBten: "Das Bild der heroisehen Existenz liefert der Kritik den Hintergrund, vor dem sieh die Wirkung der kapitalistisehen Okonomie, das Geheimnis der biirgerliehen Gesellschaft abhebt: Entfremdung." 52 So gesehen zehrte Brinkmanns Autonomieverlangen immer noeh von jenem "Uberschuf an Kritik und -ihr komplementar -an Idealitat",53 den das Biirgertum sich einhandelte, indem es sein heroisches Antrittsprogramm formulierte. Doeh anders als noeh bei den 'groBen' Exponenten biirgerlicher Individualitat haben die Ide ale der Selbstbestimmung, der freien Produktivitat und des Organisehen bei ihm, obwohl sie trotzig hoehgehalten werden,54 jede positive Realitat verloren. Brinkmann gelingt es nieht, sieh im Strudel der Dinge zu lokalisieren und als tatiges, produktives Subjekt zu begreifen. So sehr das unterworfene Ich sieh auch an der Herstellung einer Metaebene zur direkten Wirklichkeit interes-52 Schlaffer: Der Burger als Held. Sozialgeschichtliche Auflosungen literarischer Widerspruche . Frankfurt/M, 1973, S. 136. Schlaffer prazisiert den Riickgriff der burgerlichen Intelligenz folgendermaBen: "Historische und ahistorische Gedankengange verbinden sich zu dem Versuch, einen fiktiven Ursprung fiktiv zu wiederholen. Ahistorisch ist der Gedanke, Vergangenes normativ in die Gegenwart einzufiihren ; historischem Denken gemau jedoch ist, wie diese Einfiihrung motiviert ist: aus dem strikten Gegensatz der Vergangenheit zur Gegenwart, also aus einer historischen Differenz, die freilich nach Aufhebung trachtet." (S. 130). Die Gegenwart aber ist zunehmend die kapitalistische Gegenwart. 53 Der Burger als Held, a.a.O., S. 129. 54 Die Nahe zu dem vernanten "Gothe", in die Brinkmann sich begibt, wenn er schreibt siert zeigt, so gerne es einen imaginaren Thran namens Ich besteigen will, faktisch bleibt es auf seinen labyrinthischen Exkursionen in jeder Sekunde mit dem AuBeren verklammert. Es existiert nur die konkrete Situation des Gehens und der Wahrnehmung, einen 'anderen art' gibt es nicht. Auch die Zeitlichkeit ist auf den Augenblick zusammengeschrumpft, in dem das Ich festsitzt. '''Was ist los? Was ist los?' permanentes Gefiihl einer wortlosen Bedrahung [...]."55 -"Wo war war ich? In einem Gefangnis? Ausfalle zu machen sinnlos. "56 Was in dieser Situation noch bleibt, ist die punktuelle Fixierung einer Bedrahung, die Problematisierung der unmittelbaren Wirklichke it als Gefangnis . Verfiigungsgewalt iiber Raum und Zeit wird so aber gerade nicht erreicht. Das horrende Auseinanderklaffen von Anspruch und konkreter Praxis hat Brinkmann freilich nur zu immer neuen, verzweifelten Selbstbehauptungen getrieben; "in die Pfanne hauen lassen geschieht bei mir nicht",57 versichert er in Rom, Blicke -"I am! I am! I am!"58 Auch der erstaunliche Plan , einen zeitgenossischen Entwicklungsraman zu schreiben, hat hier seine WurzeJ. 59 Stets 55 Erkundungen, S. 55. 56 Rom Individualitat hat es geradezu zur Voraussetzung, daB keine Begegnung mit der Welt durch Ironic abgemildert ist, Andernfalls ware auch die (unfreiwillige) Komik gar nicht zu erklaren, die der Text nicht selten ausstrahlt. Es ist eine Komik, die Tradition hat . Brinkmann kampft mit heiligem Ernst gegen die 'Tiicke des Objekts', eine fremd gewordene Welt: "Keine Moglichkeit, die verdammte aufgedrehte Heizung abzustellen. Ich suchte in allen Ecken nacho, stohnt er, schwitzend und auf dem Boden eines Zugabteils herumkr iechend. Komisch daran wirkt, was schon an anderen (Anti-)Helden -von Don Quijote bis Charlie Chaplin -zum Lachen reizte: der offenkundige Widerspruch zwischen Anspruch und Realitat, Je trotziger der Anspruch auf Autonomie , desto komischer das Scheitern an einer Realitat, die dicsem Anspruch ein Bein stellt . Das Ich, das noch glaubt, die Dinge unter Kontrolle bringen zu konnen, ist in Wahrheit schon Hingst Objekt undurchsichtiger Verhaltnisse, Der Knopf, der alles abstellt ist nicht mehr zu finden. Keine Ironic also. AIlerdings bleibt der geplante Roman nicht zufallig ungeschrieben. Wenn die Heiden von Brinkmanns Texten immer Brinkmann heillen, wenn er im Grunde immer nur den Roman seines eigenen Lebens schreibt, dann ware seine Vollendung gleichbedeutend mit der Niederschrift der eigenen Geschichte als einer gegliickten. Dazwischen aber stehl der Realismusanspruch. Und der sagt: "Der Entwicklungsroman, Koln, ist/verreckt" ,(Westwarts 1&2, S. 14); (zur Theorie des von neuem iibersieht der miBtrauische Feldforscher, daB das Beharren auf einem nichtbegriftlichen, antiselektiven Zugang zur Wirklichkeit auch Motor eines unablassigen crash landingist. Der Abwehrkampf gegen die Wirklichkeit (der auf widerspriichliche Weise stets auch als Annaherungsversuch zu verstehen ist) kann nicht gewonnen werden, weil der Konflikt sich unablassig reproduziert, und weil es sich urn ein Duell zwischen zwei zwangslaufig ungleichen Kontrahenten handelt. "Wie ist der Schrott jemals wieder von diesem Planeten wegzukriegen?"6O klagt Brinkmann dementsprechend melancholisch. Statt in der Abgeschiedenheit der Schreibzelle das utopische autonome Ich zu verwirklichen, fixiert sein Schreiben in immer wieder neuen Konstellationen eine grundlegende Kontamination des BewuBtseinsraums, auf der das nomadische Ich des realen Textes in fasziniertem Ekel besteht. "Ich will ich werden, was immer das ist",61 eines von Brinkmanns expliziten Schreibzielen, bleibt so unerreicht. Allenfalls der Nachsatz ("was immer das ist") gibt einen Begriff davon, was sich im Text durchsetzt: nicht das Ich, sondern die Umgebung, das Environment. Intakte Subjektivitat ist nur als abwesende anwesend, als Spur einer Auseinandersetzung, in der sie unablassig aufgezehrt wird. Brinkmann will das nicht wahr-haben, und doch ist es immer das reale leh, das im Text durch die Landschaft pilgert, nicht das utopische. Das reale Ich ist stets auch das entfremdete leh . In einem der seltenen Momente, in denen Brinkmann den Druck der unmittelbaren Wirklichkeit einmal abstreifen kann, erweitert sich die obsessive Verschriftung von Sinnesdaten zu einer melancholischen Reflexion iiber Entfremdung als Selbstentfremdung, als Abwesenheit des (utopischen) Ichs im eigenen Korper, der von fremden Machten beherrscht wird. Aus Rom schreibt er an seine Frau Maleen: "WeiBt Du, was Entfremdungsgefiihle sind? (Man hat das Wort in den vergangenen Jahren so oft gehort, daB man sich darunter gar nichts mehr vorstellen kann!): eine Fremdheit, eine Entfernung seinem eigenen Leben und dem Gefiihl zu Ieben gegeniiber -obwohl man Iebt, atmet, verdaut, sich bewegt, sieht, sich umdreht, geht, die Hand bewegt, schlaft, aufwacht: eine Entfernung von einem seIber, die in einem seIber steckt -eine Fremdheit seinen eigenen winzigsten Impulsen und Regungen gegeniiber und eine Abwesenheit des Emp-findens zu leben, in einem Korper zu stecken, dieser Korper zu seindurch eine uniibersehbare Menge an Lichtem, Farben, Reklamen, Farmen und Namen wird das jede Sekunde betrieben, da man atmet, sich bewegt, verdaut, entspannt [...] "62 Spricht so ein Naiver? Einer, der nicht weill, was die Stunde geschlagen hat? Das Schreiben der spaten Texte ist mehr denn je ein entfremdungskritisches Schreiben, gerade wei! es 'naiv' ist; wei! es an dem anachronistischen Anspruch auf Autonomie festhat, und doch immerzu eine ganz andere Geschichte erzahlt. "Eigentlich bin ich immer noch nicht dart, habe ich mich noch nicht an den inneren notwendigen Schnittpunkt gebracht, wohin ich kommen will, namlich mich zu farmulieren, und nicht nur zu beschreiben, was ist",63 heillt es, wie verwundert, nach 410 Seiten wiist herausgetippter Rom-Notizenals wiiBte Brinkmann noch immer nicht, was der Leser langst weill: daB dieses Ziel auf diesem Weg kaum zu erreichen ist. Die Versuchsanordnung der spaten Texte ist so installiert, daB zwischem dem realen und dem utopischen Ich die Gesamtheit der sinnlichen Welt steht. * Ich will Brinkmanns Schreiben am Ende dieses Abschnitts noch kurz mit einem psychischen Vorgang in Verbindung bringen, den Freud 'Durcharbeiten' genannt hat . Vielleicht ist er dazu geeignet, eine grundlegende Differenz im Verhaltnis zur Welt zu beleuchten, die die moderne Subjektivitat nach Freud kennzeichnet (im Gegensatz zu derjenigen, die Gegenstand der 'klassischen' Psychoanalyse war) . Das Durcharbeiten, sagt Freud, stellt den wichtigsten Schritt in der psychoanalytischen Kur dar. Erst mittels dieses Vorgangs setzt der Patient sich in eine aktive, produktive Beziehung zu sich und seiner Umwelt. Er lernt, scheinbar fremdes Material (Symptome, Hinweise, 'Zeichen') als "Stuck seines Wesens'' zu begreifen, "aus dem es Wertvolles fiir sein spateres Leben zu holen gi!t. " Duster ware aber auch die Konsequenz fiir die jungere Vergangenheitetwa fiir die hedonistischen Uberwindungsutcpien der sechziger Jahre, von denen Brinkmann sich so viel versprach. Denn wenn der GesellschaftsprozeB mittlerweile die ihm gemaBen Subjekte instant-produziert, dann erzeugt er auch (als 'Motivation') die zugehorigen Hoffnungen und Wunsche; dann aber war der Aufbruch der sechziger Jahre tatsachlich im Wortsinn 'Systemopposition', ein Widerstand, der vom 'System' nicht nur toleriert, sondern geradezu produziert wurde, weil es zu seiner eigenen Erhaltung und Modernisierung des (konstruktiven) Widerspruchs bedarf. 118 Duster ist so zuletzt auch der Schatten, den der ProzeB der integralen Vergesellschaftung auf Brinkmanns Widerstandsversuche selbst wirft -auf das, was Konstruktion, 'Kunst', Nicht-Identisches an ihnen ist. 119 Dessen Chancen waren auf ein A.uBerstes reduziert. Aus dem Text spricht nicht nur die gebrochene, sondern -auch und gerade in ihrem lautesten, 'vitalsten' Aufbegehrendie verstummende Stimme eines Subjekts, dem seine eigene Sprache nicht mehr gehort,120 117 Ebenda, S. 69. 118 Brinkmann hat diesen Zusammenhang ebensowenig (im analytisehen, reflektierten, 'durehgearbeiteten' Sinn) 'verstanden' wie seine eigene Verstriektheit in die Gesehiehte der sechziger Jahre. Doch noeh in der verwirrten Wut, mit der er sieh iiber die Ideen und Utopien, iiber die -etwa in Form von Kaninchenfellmanteln -im Alltag immer noch vorhandenen Auspragungen des Protest hermaeht, liegt ein richtiges Moment. Es liegt in der affektiven Ablehnung einer 'gelebten' Tagesordnung, die langst nur noeh die Tagesordnung des Konsums ist, 119 Kunst in der biirgerliehen Gesellsehaft, sehreibt Adorno , sei "Saehwalter des Nicht-Identisehen", d.h. Ausdruekgeber einer Spraehe, die sieh im Widerstand gegen die Auswirkungen teehnologiseher Rationalitat befindet : "Asthetisehe Identitat soll dem N.!ehtidentisehen beistehen, das der Identitatszwang in der Realitat unterdriiekt." (Asthetisehe Theorie, S. 14). Einem bekannten Satz Adornos zufolge ist "das Ganze" -der Gesellschaft, aber auch des Gedankens -"das Unwahre'i.! Daraus ergibt sich zunachst, daB dialektisches Denken und Handeln stets als Versuch zu begreifen sind, "den Zwangscharakter der Logik mit deren eigenen Mitteln zu durchbrechen'v' Aile Wahrheit liegt jenseits der falschen, der erzwungenen Totalitat, Der Satz sagt aber auch , daB der 'richtige' Gedanke, die 'richtige' Aktion von der Kategorie der Totalitat her determiniert bleiben muB, von der er sich zu befreien versucht. In der Situation allseitiger Vergesellschaftung kann der Widerstand si'ch nicht einfach in eine 'freie' Nische fluchten, er steht immer vor dem Zwang, direkt oder indirekt auf die objektive Tatsache der falschen Totalitat zu antworten. So auch Brinkmanns "Battle For The Mind".3 Der Autor nimmt den Kampf auf, indem er die diffuse Allgegenwart von Gesellschaft in sein Widerstandsprojekt integriert; sie bildet den antiutopischen Gegenhorizont des Subjekts, an dem es sich bestandig aufreibt. Wie ernst es Brinkmann mit seinem Eintreten gegen die Gesellschaft und fiir die Belange des (groBgeschrieben) "Einzelnen" war, zeigen die vielen Imperative, die sich in den spaten Texten in fast vorhersagbarer Folge wiederholen. Kategorisch wird zum Vollzeit-und Mehrfrontenkampf aufgerufen: "Man muB sich auf allen Ebenen jede Sekunde gegen dieses Sterben wehren.'" -"jetzt ist es an der Zeit/einen wilden, zerfetzten Aufstand des BewuBtseins zu machen'P Brinkmanns Weltsicht ab 1971 ist monomanisch und antipluralistisch. Mit 'jedejm] Mikrogramm der Energie'P wehrt sich der Autor seiner Haut. Agent dieses Sich-Wehrens aber ist, neben der unmittelbaren Wahrnehmung, das Schreiben. In den Erkundungen heiBt es: "Wenn heute schreiben noch einen Sinn hat, dann den, gegen den von auBen einem autgedrangten psychosomatischen Selbstmord zu schreiben.'? Schreiben ist ein An-Schreiben gegen den groBen Gegenspieler Wirklichkeit und seine Agenten: die 'Viren', die den Korper unablassig zum vergesellschafteten Korper machen. Der Kampf ist ein Kampf urn Autonomie. Totalitat aber meint die Totalitat der sinnlichen Welt, die sich zum Teil der Erfahrung entzieht. Hier zeigt sich noch einmal besonders deutlich, daB Brinkmanns Schreiben nicht primar mit abstrakten Aussagen iiber die Wirklichkeit arbeitet; der theoretische Zugang zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ist weitgehend preisgegeben; Form und Leser werden zweitrangig, jedes prodesse et delectare liegt dem Autor fern . Es handelt sich vielmehr urn eine Art Kampfschreiben, das immerzu die unmittelbar sinnlichen Momente eines gegebenen Wirklichkeitsausschnitts verschriftet. Schreiben reagiert auf die Bedrohung durch ein feindliches Allgemeines; insofern ist das Schreiben eine Funktion der Angst. Indem das Ich die Eindriicke fest-stellt, versucht es, sich vor der Ubermacht der Reize, die es umgeben, zu schiitzen . Man kann also zunachst von einem magischen, einem bannenden Schreiben sprechen. Das Ich mochte mit den Mitteln seines Textes die Wirklichkeit verzaubern, sie stillstellen in der Schrift. Doch bei naherern Hinsehen ist Brinkmanns Schreibziel wesentlich hoher gesteckt. In seiner wiisten und totalen Feindschaft gegen das Allgemeine stellt es stets auch den Versuch eines Befreiungsschlags gegen die Welt dar. "Mitleid?! N'Dreck!?"8 Der Kampf, dessen Agent der Text ist, ist ein Kampf urns Ganze, ein gnadenloser Showdown, in dem es am Ende nur einen Sieger geben kann. Dem Anspruch nach heiBt dieser Sieger Rolf Dieter Brinkmann. SchlieBlich akkumuliert der Text, indem er Daten fixiert, auch eine Form des Wissens. Er sammelt Indizien, urn AufschluB tiber die eigentliche, die wahre Natur der Gesellschaft zu erhalten. In dieser Dimension hat er die Eigenschaft eines sinnlichen Erkenntnisprojekts, das unablassig Beweis fiihrt gegen das Bestehende. Es gilt, dessen Feindliches und Versteinerndes herauszustellen. In Rom antwortet Brinkmann auf die Frage eines englischen Lyrikers, was sein 'Thema' sei, woran er denn gerade schreibe : "About People in Germany who live within an dead european aerea."9 Mich interessiert zunachst die Showdown-Funktion des Schreibens . "Zerschlagt endlich Alles, Was Da ist Und Habt keine Furcht",l1 lautet einer der Imperative aus den Erkundungen. Hinter dem Gestus des Bannens steht stets auch der Anspruch, die normative Kraft des Faktischen tatsiichlich zu brechen, Sieger zu bleiben in einem Kampf, der zwar im Grunde nicht zu gewinnen ist, der aber dennoch mit dem vollen Anspruch einer nie in Erfiillung gegangenen Geschichte im Riicken gefiihrt wird. Brinkmann beharrt auf Autonomie im Leben, nicht allein im Schreiben. "Leben zuerst? Schreiben? Zuerst? Wie kann man schreiben, wenn man nicht lebt?"12 Der Text solI allerdings Leben ermoglichen, er ist unmittelbarer Agent veranderter Verhaltnisse: "Ich will Leben! Intensitatl Arbeiten! Mittel! Moglichkeitenl'tl-' heiBt es in den Erkundungen. Zwischen diesem Anspruch und seiner Realisierung steht die Gesellschaft -jener Zeichenraum, in dem "der Schrecken [...J diinn verteilt ist, wie Gift." Schreiben ist so gesehen Ausdruck des ohnmachtigen Versuchs, eine "mentale Verseuchung'Tl zu bekampfen, Gesellschaft im Schreiben nicht nur abzuwehren, zu bannen, sondern sie 'real' abzustreifen, zu iiberwinden. 1m Riickblick auf die positive Raumwahrnehmung wird deutlich, daB Brinkmanns Schreiben immer noch ein putschistisches Schreiben ist; es will "raus hier".1 5 Allerdings ist der Weg, auf dem Entfremdung iiberwunden werden solI, grundverschieden von dem, den noch die Essays propagierten. Herrschte Ende der sechziger Jahre der Glaube vor, die Zeichen lieBen sich einem 'eigenen' Kontext einverleiben, so werden sie nun voller Wut vom Korper weggeschrieben. Wenn die Vergesellschaftung des Subjekts sich iiber 'Viren' vollzieht, so wird Schreiben zum Entgiftungsversuch. Ich will diese Befreiungsbewegung, in der der Text als Medium einer utopischen Absenz von Gesellschaft in Gang gesetzt wird, anhand von zwei Operationen des Schreibens konkretisieren. Sie fiihren sozusagen auf die Schauplatze, auf denen das entfremdete Ich seinen Kampf gegen die Welt fiihrt. Die erste Operation hat ihren Ansatzpunkt in einer 'Innerlichkeit', die dem Ich nieht mehr gehort, weil sie sich zu graBen Teilen oder sogar ganz aus Gesellschaft konstituiert. Das 'Innen' besteht aus Zwangen, verinnerlichten Wertvorstellungen, vor allem aber aus der Summe der in das Ich eingedrungenen Zeiehen. Dieser Zeichenvergiftung, von der das Ich sieh korperlich bedraht fiihlt, gilt die Bewegung des Schreibens. Es wird mit dem immer wieder neu vorgebrachten Anspruch begonnen, die "Parasiten [...J auszurauchern'J? oder auch "das BewuBtsein aus[zu]kehren"17 Dabei handelt es sich urn einen Vorgang, der fiir Brinkmann erkIartermaBen gleichbedeutend damit ist, "den ganzen Wusel an eingedrungenen Leuten und Bildern rauszuschrneilsenl'Jf Der Schreiber halt Kehraus. Die Buchstaben, die er aufs Papier hammert, sind gewissermaBen der Besen, mit dem der chaotische, vergesellschaftete Innenraum des modernen BewuBtseins ausgemistet werden soll. Das Bewegungsmoment, das hier zum Ausdruck kommt, ist kein bloB metaphorisches; es wohnt dem Schreiben tatsiichlich inne. In der Situation physischer Bedrahung wird Schre iben zu einem Instrument der Gegenwehr, hinter dem die Wucht der gesamten Korpermotorik steht. Nieht zufallig haufen sieh die Ausrufungszeichen hinter Brinkmanns Satzen, die jede Beob achtung, jede erinnerte Situation unter Nachdruck stellen. Brinkmann will sich immerzu "auf das Schreiben werfen",19 seine Feindschaft gegen das Allgemeine ohne Umwege und Energieverluste zu Papier bringen . Und das korperliche, innervierte Schreiben hat ein erklartes Ziel: Es soll die 'Viren', die das Subjekt in seiner Geschichte bestimmt haben, solange fixieren, "bis ieh die Engramme weghabe" .20Die Wucht des Verschriftungsprazesses 'Iebt' also tatsachlich von der Hoffnung, die Ein-Schreibungen der Gesellschaft in den Korper lieBen sieh ruckgangig machen, Schreiben wiirde das Subjekt wieder als sich selbst gehoriges herausgeben. Zweifel gibt es dieses Trieb-Stereo auch bei Brinkmann -man achte nur auf die Fiille von Aliterationen, die haufigen Zischlaute, das Hervorstottern der Silben und das Zerhacken der Syntax, in dem die (gewollte) Fehlleistung iiber die Konventionen der Sprache triumphiert, "Du mulst mit deinen Gefiihlen brullen, ganz erschreckend, sobald du schreibst", heillt es in den 'Erkundungen' (S. 197) . Die Suggestion von 'tierischem' Gebriill und Gebell (oder ist es das Heulen des einsamen Wolfs?) ist jedoch nur ein Effekt des Schreibens. Wichtiger noch -auch in den spaten Texten -ist das Vorbild des Blues-, Jazz-oder Rock-Sangers, der sich auf der Biihne in Ekstae singt. "Ja! Ja! Ja!" schreibt Brinkmann, von seinem eigenen Text berauscht, an den Freund Helmut Pieper, "Mensch, das zieht durch mich hindurch, und dann horst Du, was horst Du? Du horst ne Jungle Suite aus den Fiinfzigern [...J, Mann, Pieper, Du verstehst, und das ist, als ob genau jemand, ders kann, genau und exakt in die Tasten greift, und dann wirst Du hochgeschmissen, Ja! Ja! Ja!" (Erkundungen, S. 21012111). "Break on through to the other side" (The Doors) oder auch "Yeah! Yeah! Yeah!" (The Beatles): Die Schreibmaschine ersetzt Stimme und Gitarre des Rock-Rebellen, der auch nach dem Heldenzeitalter des Rock am Transzendieren der Wirklichkeit durch Sprache festhalt . Kollektiv und 'sprengend' ist die dabei erlebte Befreiung jedoch nicht mehr, es bleibt bei kleinen Fluchten. "Wieviel Wiiste man zu durchqueren hat , ehe man bei sich seIber angelangt", heiGt es in den 'Erkundungen' auf Seite 357 (das ist Bob Dylan: "How many roads must a man walk down..."), und in einem der letzten Gedichte wird das traurige Schicksal des Rock'n'Roll-Animal beschrieben; stellvertretend fiir die anderen agiert es auf der Biihne, ohne den Bannkreis der Kulturindustrie verlassen zu konnen: "Mein Lied/ist gewohnlich, mein Lied ist/ein Dreck, und ihr sitzt da/und seid ganz weg." (Westwarts 1&2, S. 9). 27 Rom, Blicke, S. 158. Zurichtung aufbegehrt. Der Text ist, indem er so zum "Negativ der verwalteten Welt" (Adorno)28 wird, Kritik. Oem Weltverlaufwird nicht Recht gegeben, auch wenn er sein faktisches Recht am vergesellschafteten Korper unablassig exekutiert. Das utopische Ziel, sich durch das Material zu sich selbst 'durchzu-schreiben' wird nicht erreicht. Doch etwas anderes leistet der Text in dieser ersten Operation des 'entgiftenden' Nieder-Schreibens: Er stellt die ganzen "Flitzefilme"29 still, die unablassig im Kopf ablaufen, fixiert die "negativen Programmierungen",30 die Engramme von Gesellschaft, die als fremde Gedanken im eigenen Kopf anwesend sind. Er breitet sie auf dem Papier aus . Vergangenheit wird so zwar nicht 'bewaltigt', aber sie wird gebannt: als Text, der palimpsestartig die 'wahre', namlich die verhinderte Geschichte des Ichs zur Lektiire darbietet. Brinkmanns Schreiben hat sein Wahrheitsmoment an dem, was Adorno "unbewuBte Geschichtsschreibung" genannt hat; Feind ..der Verhaltnisse ist es nicht durch den frei Haus gelieferten Nachweis biirgerlichautgeklarten BewuBtseins, sondern gerade in seinem melancholischen und verstrickten Biindnis "mit dem bis heute stets wieder Unterlegenen".31 Ich verfolge diese Spur nicht weiter, sandern komme zur zweiten Operation: einer Schreibbewegung, die aufs AuBere zielt. Sie ist die eigentlich interessante fur me in Thema, wei! sie sich direkt, nicht erst iiber das Herausschreiben von Vergangenheit, in den Gegenwartsraum hineinbegibt. Ansonsten hat sie jedoch groBe Ahnlichkeit mit der ersten, ist deren strikte auBere Parallele. Auch in der "Rebellion gegen alles, was ich sah und was mich umgab",32 antwortet das Schreiben auf den Bedrohungscharakter der Umgebung. Schreiben soli dem Ich die Welt vom Halse halten, indem die Bestandtei!e des Augenblicks in der Verschriftung unablassig kontrolliert werden. Nichts darf dem Ich entgehen, alles soli Schrift werden -Beute eines negativen Erfahrungshungers. Die Schreibmaschine mit ihren hektisch aufs Papier gehammerten Typen wird so zu einer Art Waffe gegen den DauerbeschuB der Wirklichkeit. Auch in der abwehrenden Nieder-Schrift von Wirklichkeit ist der Kerper anwesend. Es ist eben jener Gestus des Abund WegstoBens, mittels dessen die grundlegende Unvertraglichkeit von Ich und Welt immer wieder neu be- 1m Zu-Papier-Bringen von Wirklichkeits-Daten, so kann man jetzt schon sagen, leistet der Schreiber einen Beitrag zur Geschichte von Korper und Be-wuBtsein im zwanzigsten Jahrhundert. Es ist eine Geschichte, die wiederum nur in gebrochener Form Ausdruck von Subjektivitat ist. Denn auch in der zweiten, der 'aufserlichen' und direkten Operation des Schreibens wird sie von der Pradorninanz des Materials her geschrieben: als fragmentarische Geschichte dessen, was das leh nicht wurde, weil es sich immerzu an der sinnlichen Welt aufrieb. Kritisch ist das Schreiben so nicht als Aussage, sondern in der Exponierung von fremdartigem dinglichem Material. Adorno hat dieses Verfahren von Kunst "Mimesis ans Verhartete und Entfremdete'v" genannt: Das Kunstwerk inmitten der entwickelten Warengesellschaft kann deren uberwaltigender Objektivitat kein Positives mehr entgegensetzen. Provokativ ist es, indem es als Herausforderung der Illusion auftritt, es ware noch Leben. Der Widerstand gegen die "Schmach des Immergleichen" ist zwangslaufig "dem Tod verschwistert", den das Werk ohnmachtig anklagt. 38 Es spricht fiir die kritische Radikalitat von Brinkmanns Schreibprojekt, daB das utopische, das befreite leh kaum positiv bestimmt wird. Obwohl das Schreiben immerzu auf es hinarbeitet, obwohl es in seiner Korper-Dimension fur eine physiologisch erfahrene Erleichterung sorgt , liegt das befreite leh im Grunde jenseits der Sprache und ihrer Moglichkeiten. Es ist utopischer Zustand, dem es sich anzunahern gilt, nicht positiv Gegebenes. Bis dahin aber schreibt das leh der konkreten Raumerkundungen sich nicht durch; "es geht so mit mir nicht weiter, ich komme so mit mir nicht weiter",39 heiBt es nach 37 Realitat, wird hier gesagt, ist eine Art Text , der (zumindest in "besonderen Bereichen") iiber seine Oberfliiche erschlossen, 'gelesen' werden kann. Nichts anderes versucht Brinkmann; er zielt darauf ab, die atomisierte spatkapitalistische Wirkliehkeit zu entziffern. Auf seinen labyrinthischen Gangen siehert er dazu zunachst Spuren. "Bin an der Front/tarne mich/luchse rum" -"Der Kampf geht los. Ich bin ein Jiiger. " Verzicht sich der Form mitteilt, ist dafiir gesorgt, daB "nicht der schone Schein, nicht die Harmonie, nicht die Einheit des Mannigfaltigen" sich durchsetzt, sondern eine zersprengte Darstellung des Inventars, in dem der gegebene Alltag sich abspielt. 23 Mit anderen Worten: der Text erklart in dieser Dimension nicht mehr, er zeigt nur noch -versammelt "Banales, Wichtiges, Billiges, wie es so iiberhaupt durcheinander geht". Die Dinge werden gleichsam zu stummen Zeugen von Zusammenhangen, die das Ich zwar determinieren, aber nicht mehr in ihrer Totalitat dargestellt werden konnen, "Der Chronist", schreibt Benjamin, "welcher die Ereignisse hererzahlt, ohne groBe und kleine zu unterscheiden, tragt damit der Wahrheit Rechnung, daB nichts was sich jemals ereignet hat, fUr die Geschichte verloren zu geben ist."24 Aus demselben Impuls heraus ist Brinkmann Sammler. Indem er noch die Anzahl der gerauchten Zigaretten fur erwahnenswert halt, seinen Autorenalltag immer wieder an den realen Dingen miBt; indem er nackte Oberflache abbildet oder in der Fotofolge Wie ich lebe und warum das 'warum' verschweigt (bzw. an eine geheime Aussagekraft der Bilder delegiert), kommt er zwar der eigenen Lebensrealitat nicht 'auf den Grund', dokumentiert aber doch konkrete Augen-Blicke, die in ihrer Gesamtheit zu einer Art "Lebenscollage'<' zusammentreten. Diese Collage bewahrt Alltagsspuren auf, als sei es ihre Pflicht, zumindest das AuBerliche des Lebens noch festzuhalten; als lieBe sich Brinkmanns Alltag besteht vielmehr darin, den alltaglichen Konsum der unwirklichen, unmenschlichen Wirklichkeit abzuwehren, anzugreifen, das verwOhnende 'jeden Tag' in Fragmente zu sprengen, in genau die Momente, die zwanghaft und bedrohlich, in ihrer Alltaglichkeit aber eingeebnet, unscheinbar den Tag bestimmen." (Uber den Verlust der Verantwortlichkeit. In: Arbeitskreis Linker Germanisten (Hrsg.): Neue Deutsche Lyrik, a.a.a., S. 117). Es spricht fur eine 'materialistische Grimdlichkeit' der Methode, daB die formalen Mittel des Textes sich ganz in den Dienst der Denunziation stellen. Der Verweigerung der Einfiihlung entspricht das Prinzip der Reihung. Es planiert zusatzlich die Bedeutungshierarchien, die normalerweise zwischen den einzelnen in der Schilderung versammelten Elementen herrschen. Wer im christlichen Kulturkreis aufgewachsen ist, weill, daB die katholische Kirche eine strenge Rangordnung ihrer Devotionalien kennt, etwa zwischen Jesus (dem "pummeligen Baby" und dem Mann, der sein Herz zeigt), Maria (der "heiligen Frau") und den in die Knie gesunkenen "Negern" (= Herrschern aus dem 'Morgenlande', dem heutigen vorderen Orient) -von der Differenz zu weltlichen Objekten ganz zu schweigen. Nicht so Brinkmann. Der Mann mit dem rohen Herzen wird nicht allein mitleidlos beschrieben; indem er auch syntaktisch gleichgeschaltet wird mit allen anderen Gliedern der Reihung, teilt er mit ihnen ein gemeinsames Schicksal.Er ist Ding unter Dingen, totes Material, von den "weiBen Scheiben Fett an einer ledrigen Hautschicht" genausowenig unterschieden wie der Preis der Schnapspralinen von den Angaben auf den Votivtafelchen im Innern der Kirche. Die aggressive Verweigerung der Einfuhlung gilt auch anderen AuBerungsformen von Tradition; zum Beispiel den kulturhistorischen Denkmalern Brinkmanns Verfremdungen zeigen den ganz gewohnlichen Alltag als Ausnahmezustand, der aus dem Autor unverstandlichen Grunden immer noch hingenommen wird: "ich schaue mir die Leute an, die hier gehen (:vor lauter Wagen und Leuten kann man sich gar nichts anderes ansehen), ich beobachte ihr Verhalten: sie gehen ganz daher wie die Eingeborenen Konige des allgemeinen Drecks, jeder ein bedeutendes Wesen, das den Dreck, die Verrottung ganz in Ordnung findet."59 Der Autor schliipft in die Rolle des Ethnologen, urn mit der Objektivitat des scheinbar unbeteiligten Beobachters ein vernichtendes Urteil uber die Gesellschaft der Gegenwart zu fallen: Es handelt sich urn eine Gesellschaft, die in Ritualen befangen ist. Die autgeklarte Oberflache erweist sich als Schein. Obwohl das 'High-Tech'-Zeitalter langst eingelautet ist, obwohl drei Jahre zuvor der erste Mensch den Mond betreten hat, leben die Menschen immer noch in Vorstellungen und Verhaltensweisen, die dem Voodoo-Glaub en eines sogenannten Naturvolks in nichts nachstehen. Sie verehren Manner mit blutenden Herzen und beten Puppen an. Mithilfe magischer Praktiken (wie z.B. in Marmor geritzer Inschriften) wollen sie ein hoheres Wesen gunstig fur sich stimmen. In ihrem Balzverhalten folgen sie seltsamen Regeln , deren Sinn ihnen abhanden gekommen ist. Gerade deswegen aber sind sie diesen Gesetzen, die in der Projektion von Bildern unablassig bestatigt werden, konkret unterworfen. Unter Brinkmanns Blick erstarrt Gesch ichte zu Natur, sie ist Vorgeschichte, aus der die Menschen nie wirklich ausgetreten sind. 'Wildheit' ist keine Alternative zum Zustand totaler Vergesellschaftung, sie ist dessen Ebenbild; "in dem Zusammenhang kann der W. Reich mit seinen Trobriandern und dem sonnigen Land mir gestohlen bleiben (Hing da seine friihe unbeschwerte Sex-Vorstellung auf in seiner politischen Zeit)!"6O Brinkmann macht keine der vielen Verschiebungen mit, denen der Emanzipationsgedanke in den siebziger Jahren unterliegt. Wo andere aus der antiautoritaren Generation noch einmal konkrete Utopien ausfindig machen -in den Arbeits- Gerade in dieser Unmittelbarkeit aber scheint dem Einzeleindruck eine unabweisbare Aussagekraft innezuwohnen. Brinkmann spricht von "Augenblicke[n] eigenartiger Klarheit, die aufflammten'.I'' Ohne daB der 'Sinn' der Wahrnehmungen sich eindeutig bestimmen lieBe, eroffnet sich in der zusammenhanglosen Wahrnehmung eine alternative, eine sinnliche Lesart der spatkapitalistischen Wirklichkeit. Die gesamte zersprengte Realitat scheint sich in einem Bruchstiick zu konzentrieren, das dadurch zum monstrosen Indiz wird. Es vermittelt in seiner Vereinzelung und Sinnverlassenheit eine konkrete "Ahnung von dem AusmaB der Zerstorung, die in vollem Gang ist, so als offne man zum ersten Mal die Augen und sieht.'t71 In den spaten Texten beschranken solche Erfahrungen sich nicht mehr allein auf massenmedial vermittelte Objekte. Es kann sich ebenso urn eine Stra-Benszene, eine Passantenfigur, irgendein 'lebendiges', aber isoliertes Detail der Umwelt handeln. Die gesamte Wirklichkeit ist medial iiberformt, ist Bild, Reiz oder Zeichen, das der negativen Totalitat des Spatkapitalismus zuzurechnen ist. Eine mogliche Trostfunktion scheint den bizarr-alltaglichen Eindriicken auf ganzer Linie abhanden gekommen zu sein. Brinkmann zieht es in ode Stadtgegenden, auf die romischen Friedhofe , auch auf den nachtlichen StraBenstrich, wo die Prostituiertenkorper im Scheinwerferlicht der Wagen aufflackern. Es sind lebende Pin Ups, die er in einer Mischung aus Faszination und Ekel beschreibt, Partial-oder Fetischobjekte,n die in ihrer Bildhaftigkeit von den abgelichteten Korpern aus Sex-Magazinen nicht mehr zu unterscheiden sind. "Sie waren alle Madchen des 20. Jahrhunderts, und die amerikanische Geschaftsmaschine hatte sie hergestellt.'113 Dieser Blick ist rein asthetisch, d.h. anschauend. Weit davon entfernt, sich fiir die soziale Lage von Pro- stituierten in der zweiten Halfte des 20.Jahrhunderts zu interessieren, ist das Exponieren nackter Haut fiir Brinkmann selbst Ausdruck einer permanenten Prostitution von Kerper und Blick. Doch gerade in der unmittelbaren Anschauung entspringt der Oberflache -wie im Zustand zwischen Wachen und Traumen -eine Lesart. In der Subsumption realer Korper unter die Gesetze der sexualis ierten Warenasthetik bestatigt sich dem Autor die Herrschaft einer unheiligen Trinitat von "Sex, Geld , Tod".7 4 Es ist dieser negative und schockartige Ausdruckscharakter der Welt, von dem der Blick ab 1971 dominiert wird. Dem Ich geht immerzu ein bases Licht auf. An bestimmten Punkten scheint die Wirklichkeit stets von neuem ihr eigentliches, grauenhaftes 'Wesen' wie in einem Vexierbild aus der Erscheinung hervorzukehren (oder zumindest einen Zipfel davon sichtbar werden zu lassen). Statt von trostenden objets trouves zu sprechen, ist deshalb der Rekurs auf ein verwandtes, aber weiter gefaBtes Konzept der Moderne angebracht, auf James Joyces Begriff der 'Epiphanie'. In seinem religiosen Ursprungskontext diente er einmal zur Bezeichnung der Erscheinung Gottes in den Dingen. Bei Joyce reduziert sich der theologische Gehalt -in Reflexion der Verdinglichungstendenzen der Moderne -zur Erleuchtungserfahrung am banalen Alltagsobjekt: Es zeigt sich mit einem Mal im Licht einer krampfartigen Offenbarung.7 5 "Die Epiphanie ist der Moment, wo die Wirklichkeit des Dings einen plotzlich wie eine Offenbarung ilberfallt", lautet die Definition aus Stephen Hero. 76 Joyce betont ausdriicklich: "alles ist solcher Epiphanie fahig, Zum Beisp iel die Uhr des Hafenburos.v'? In ihrem sinnlichen Offenbarungscharakter ist die Epiphanie, wie Joyce sie verstand, der Modellfall einer modernen Wahrnehmung, die trotz ihres Ausgeliefertseins ans Besondere an der Lesbarkeit der Welt festhalt, Gerade im Besonderen bricht sich in bestimmten Momenten schockartig die verlorene Totalitat, fiir die einmal Gott stand. Sie bricht sich freilich nur noch in der profanen Scherbe. Benjamin hat den Augenblick des alltaglichen Innewerdens, der dem Nu der Mystiker verwandt ist, 74 Rom, Blicke, S. 234. 75 Vgl. .. hierzu auchden Aufsatz von Theodore Ziolkowski: James Joyces Epiphanie und die Uberwindung der empirischen Welt in der modernen deutschen Prosa. In: DVJS. 35 aber eine radikal sakularisierte Welt zum Gegenstand hat, aus derselben Erkenntnis heraus auch 'profane Erleuchtung' genannt. 78 So wie der Protagonist von Stephen Hero von der Idee fasziniert ist, Wirklichkeitsmomente zu einem Buch der Epiphanien zusammenzustellen, so sammelt Brinkmann Momente, in denen ihm an der sinnlichen Welt etwas aufgeht; "plotzlich und unvermutet'v? fallen die Eindriicke ein. "Eine derart schabige und wirkliche Szene konnte man sich gar nicht allein im Zimmer ausdenken!"80 heiBt es nach einem nachtlichen Besuch auf dem StraBenstrich. Es sind immer nur Beweise fur die Hinfalligkeit der spatkapitalistischen Welt, die auf diese Art zusammenkommen -flackernde Momentaufnahmen, in denen die jeweilige Wirklichkeit in einem gespenstischen Licht erscheint. Brinkmann interessiert sich ftir ein Beweiskraftiges im Banalen, ftlr das Hallliche im Gewohnlichen, ftir alles, was im biirgerlichen Alltag gerne iibersehen wird, obwohl es langst zu ihm gehort, Vielleicht knupfen die spaten Texte -der Autor nennt sie gelegentlich "Notizen auf der Riickseite eines Sterns" 81 -in ihrer Betonung des Randstandigen und Unheimlichen auch an die romantische Tradition des Nachtstiicks an. 82 Viele der Beobachtungen spielen nachts. In Graz etwa, es ist fiinf Minuten nach Mitternacht, geht Brinkmann, den Vollmond tiber sich, durch "Gewolbe, Durchgange" 83 eine StraBe entlang. Da "bewegt sich am Rand der Szene etwas schabend hin und her: ein einzelner StraBenkehrer mit einem Wagen, Karren, der hier allein in der Stille nachts vor sich hinkehrt. Das war die einzige lebendige Bewegung, auf die ich in der Zeit traf." 84 Es folgt die frappierende Schilderung eines Offenbarungs-Moments: "Das Bild dieses einzelnen, nachtlichen StraBenkehrers Iud sich von allen Seiten mit Bedeutungen auf, die aber ftir mich gar nicht zu iiberblicken waren, denn der StraBenkehrer blieb immer ganz konkret vorhanden und die Tatigkeit blieb ebenso konkret -die Bedeutung kam von der Leere der StraBe, in der er fegte , von der Stille, den dunklen Hausern, sie stieg auf in jedem einzelnen kurzen Ruck, mit dem er den Dreck zusammenkehrte -von den Schn6rkeln urn die Fenster, die dunkel waren, von dem staubigen Anstrich des nachsten Hauses und dem geparkten Wagen, urn den er herumfegte -aber alles nicht eindeutig festlegbar: was hatte der Mann fiir eine Dienstzeit, und wann Friihstiickspause? Er fegte tatsachlich allein, andere waren nicht in der Nahe, Es war etwas total Sinnloses in dem Anblick: etwas graBlich Uberfliissiges auch, und zugleich l1icherliches. -Mitten in der Stadt ein Mann der allein an irgendeiner Stelle vor sich nachts hinfegt." 85 Handelt es sich bei dieser phantastisch iIIuminierten Wahrnehmung urn ein "Sinnbild fiir die absurde, aber nichtsdestoweniger notwendige Arbeit des Dichters"?86 Die Interpretation erscheint verlockend, zumal Brinkmann selbst den Anspruch erhoben hat, mit seinem Schreiben das moderne BewuBtsein auszukehren. Vielleicht begegnet er in dem mitternachtlichen StraBenfeger tatsachlich einem geheimen Doppelganger. Doch im Text ist zunachst einmal von etwas anderem die Rede. Ich will die vielfaltigen Implikationen der Moderne-Tradition (auch die 'romantischen' Beziige lieBen sich konkretisierenjf? hier nicht weiterverfolgen, sondern am Beispiel der StraBenkehrerwahrnehmung noch einmal genauer auf die Strnktur der Epiphanien eingehen. Das Gespenstische 'uberfallt' das Ich. Die Bedeutung von Sinnlosigkeit, Uberflussigkeit und l1icherlichkeit wird nicht (bewuBt) in das Bild hineingelegt, sie erg ibt sich schreckhaft und diffus aus einer Konstellation materieller Einzelheiten: dem Staub, der Beleuchtung, den Bewegungen, den schabenden Gerauschen. Mit anderen Worten: auch hier bezieht die Szene ihre halluzinatorische Evidenz (darauf scheint sich die 'Bedeutung' zu reduzieren) gerade daraus, daB sie jenseits aller Durchschaubarkeit, aller herbeizitierbaren Sinn-Systeme angesiedelt ist. Die 'an sich' selbstverstandliche Verbindung von StraBenkehrer und Friihstiickspause ist ftir einen Moment nicht mehr her- 85 stellbar; das 'gewohnliche' Leben bleibt hinter dem phantastischen Charakter eines absurd vereinzelten Objekts zuriick. 88 Lenkt man den Blick auf die Subjekt-Seite, so fallt auf, daB der Eindruck das Ich in einem bestimmten, schwer zu verallgemeinernden Zustand der Erfahrungsbereitschaft 'trifft'. Er erinnert an den ennui, jene Grundbefindlichkeit der Moderne, die mit 'Langeweile' oder 'Uberdrull' nur annahernd zu iibersetzen ist, vermeidet aber die offene Reminiszenz. Stattdessen richtet er sich ganz am Gegenwartsmaterial aus. Es ist Nacht, Traumzeit. Die Abwehr ist herabgesetzt, funktioniert allenfalls noch unzulanglich. Zielsetzungen sind an den Rand gedrangt. Das so durch die StraBen ziehende Ich ist von vornherein nur bedingt zu-rechnungsfahig; es ist ein AuBenseiter des biirgerlichen Lebens, das urn es herum seine Bahnen zieht. Innerhalb dieses Rahmens tritt jeweils der Schock ein: "da: ein plotzliches Anhalten der Worter, der Vorhaben, der Zwange und scheinbaren Notwendigkeiten, die ganz plotzliche Leere, & darauf der Blick, was da ist, das Erschrecken".89 Ahnlich exakt wird der Schock an anderer Stelle als Moment beschrieben, in dem aIle Zielsetzungen "plotzlich zerrissen" sind: "und ich sah mich urn und kriegte einen Schrecken, als ich den rasenden Verkehr sah, die Betriebsamkeit, die automatisch ist, und man muB sich doch fragen, wohin sie aIle in der Hast wollen? Wohin wollen sie denn noch ?"90 Die Epiphanie, so wird hier wortwortlich gesagt, ist der Augenblick, in dem der Zeichenzusammenhang Wirklichkeit nicht nur (wie in der Verfremdung) stillgestellt wird, sondern fiir einen Moment zerreif3t. durchdringenden Aussagekraft iiberflutet, die vom Gegenstand auszugehen scheint und bislang nur unsichtbar war -ein Verborgenes im Wirklichkeitstext. Die 'Bedeutung' der wahrgenommenen Szenerie ergibt sich also gerade aus dem Aussetzen derjenigen Funktionen, die im Alltag konventionellerweise Bedeutung und Sinn aufbauen. Ich spreche von der Fahigkeit, sich als handelndes Subjekt zu begreifen, sowie der korrespondierenden Fahigkeit, die eigenen Handlungen in einem variablen Zeitgefiige mit anderen Handlungen (eigenen und fremden) zu verkniipfen, also genau denjenigen Funktionen, die in der biirgerlichen Gesellschaft Identitat garantieren.l'! 1m vorliegenden Fall geschieht das Gegenteil: Das vereinzelte Ich sieht sich plotzlich auBerhalb jeder konventionellen Ordnung. Indem es zum frappierten Zeugen eines beziehungslosen Augenblicks wird, zerreiBt der 'Text' Wirklichkeit; er zerfallt in eine Reihe unzusammenhangender Einzelwahrnehmungen, die allesamt den Materialcharakter der Objektwelt hervorkehren. Die Bedeutungsfunktion ist gestort, der 'Sinn' fluktuiert und bewirkt eine ratselhafte Fremdheit des Gewohnlichen. Zugespitzt konnte man sagen: Der Realismus der Szene entspringt einem spezifischen Realitatsverscr. 1m Schock erfahrt das Ich einen Zusammenbruch von Zeitlichkeit und Intentionalitat, der traumatisch erlebt wird und in seiner radikalen Betonung des obsessiven Details an schizophrene Erfahrungsweisen erinnert. Bereits Eugen Bleuler, der 'Entdecker' der BewuBtseinsspaltung, hat die Schizophrenie als Verlust der Fahigkeit beschrieben, sinnvolle Assoziationsketten zu bilden: "Die Assoziationen verlieren ihren Zusammenhang. Von den tausend Faden, die unsere Gedanken leiten, unterbricht die Krankheit in unregelmalliger Weise da und dart bald einzelne, bald mehrere, bald einen groBen Teil."92 In der schizophrenen Wahrnehmung tritt das Objekt plotzlich in seiner Materialitat hervor . Auch neuere Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, die Schizophrenie sei vor allem ein 'Wortlichnehmen' der Welt, in dem die Verbindung zum Gesamttext oder zur Es ist die Witterung einer anonymen gesellschaftlichen Gewalt, die in den Epiphanien fur Momente konkret zu werden scheint. Der groBe Gegenspieler Wirklichkeit scheint dem Ich eine Mitteilung zu machen, ihm gleichsam zuzuzwinkern; "man sieht die Parasiten deutlich!"97 behauptet Brinkmann auf einer Karte aus Rom, und in den Erkundungen heiBt es: "Ein Hintermann ist immer da".98 Freilich ist dieser Eindruck 'falsches BewuBtsein', Phantasmagorie. In einer Gesellschaft, in der "der Schrecken uberall nur dunn verteilt ist, wie Gift",99 wird kein Subjekt der Gewalt mehr kenntlich. Doch indem das BewuBtsein bestandig Verfolgungszusammenhange hersteIlt, bleibt es der rein strukturalen und energetischen Zwangsgewalt auf den Fersen, von der die spatkapitalistische Wirklichkeit unter ihrer Oberflache beherrscht wird . In einer Variante des Zeigens stellt das Ich in seinem Text deren Spuren aus. Man kann sagen: Es fiihrt Momente vor, in denen ihm an der Wirklichkeit etwas aufgegangen, gleichsam die 'wahre' Realitat der Gesellschaft erschienen ist. 97 mens, der Perspektive, des Objektivs, schlieBlich auch in dem schwer zu rationalisierenden Moment auBern, in dem der Ausloser betatigt wird. Wer sich der Wirklichkeit tiber die Produktion technisch-mimetischer Abbilder nahert, hat "etwas vom Entdecker an sich; unersattliche Neugier treibt ihn dazu, bisher noch unerschlossene Bezirke zu durchstreifen und ihre seltsamen Formen einzufangen." 138 Eine weitere Assoziation, die sich irn Bild des Einfangens verbirgt, hat Susan Sontag ausgefiihrt: durch das Objektiv erscheint Wirklichkeit als exotische Trophae; der "Jager mit der Kamera" pirscht sie an und nimmt sie zur Beute.l3 9 In diesem Zusammenhang interessiert mich zunachst die Fotografie. Denn sie kommt nicht nur dem unbeachteten Alltag einer Zeit nahe, sie reiBt ihn auch im Bild aus dem Zusammenhang, 'toter' gleichsam das Lebendige an ihm. Kracauer hat darauf hingewiesen, daB die Tendenz zur ungestellten Realitat und die Akzentuierung des Zufalligen im fotografischen Abzug mit einer Entkontextualisierung von Wirklichkeit einhergeht. Der hergestellte Bildausschnitt isoliert den Gegenstand von seinen raumlichen, zeitlichen und kausalen Beziehungen; er begrenzt ihn durchs Format und stellt ihn still als vollabgebildete Flache, als "Kontinuum physischer Existenz".l40 Das Kameraauge fragt nicht nach mensch lichen Bedeutungen; es gibt einfach nur das Sichtbare eines Augenblicks wieder. "Als die GroBmutter vor dem Objektiv stand, war sie fur eine Sekunde in dem Raumkontinuum zugegen, das dem Objektiv sich darbot. Verewigt worden ist aber statt der GroBmutter jener Aspekt. Es frostelt den Betrachter alter Photographien, denn sie veranschaulichen nicht die Erkenntnis des Originals, sondern die raumliche Konfiguration eines Augenblicks; nicht der Mensch tritt in seiner Photographie heraus, sondern die Sum me dessen, was von ihm abzuziehen ist."141 Der Mensch ist auf dem fotografischen Abzug Ding unter Dingen. In der kiihlen Objektivierung des Gegenstands kann die Fotografie also auch einen Effekt produzieren, der sich, ohne daB Kracauer Collageseite aus 'Schnitte' mehr Wahnsinn, mehr Melancholie, mehr Schabigkeit, mehr Wortwahnsinn, mehr Reden, mehr Verstiimmelungen, mehr Idiotie, offene und geheime [...]das ist alles genau abzusehen, denn Zeichen ftir eine Veranderung sind nirgendwo sichtbar."199 Dem Schreiber bleibt nur, immer wieder negierend das nachzuahmen, was seinen Anspruch auf Selbstbestimmung und damit auf reale Veranderung zum Verl6schen bringt. In dem MaBe, in dem Schreiben so den Charakter einer ohnmachtigen Fluchrede auf die Welt annimmt, gilt fur die Materalienbande -und insbesondere eben fiir Schnitte -, was der Autor in seinem letzten, erst posthum ver6ffentlichen Gedichtband in zwei Zeilen zu-sammengefaBt hat: "Die Dichter verabschiedeten sich mit Fliichen ,/ehe sie verschwanden."200 Unter den herrschenden Bedingungen kehrt sieh die Produktion des Menschen gegen ihn. Die Dialektik der Aufklarung, die Brinkmann hier meditativ umkreist, hat ihre Gesetzmafligkeit darin, daB im Bann technologischer Ra-tionalitat die Entwicklung der Produktivkrafte nicht nur keinen 'wahren' Fortschritt darsteIlt, sondern diesen Fortschritt geradezu verhindert. Die aufgeklarte Fassade, die die vergesellschafteten Individuen gezwungenermaBen vor sich hertragen, erweist sich als Schein; er muB vor der Tatsache vergehen, daB "grundlegend" nichts sich andert. Geschichte, wie Brinkmann sie versteht, kommt nicht vom Fleck, sie ist Wiederkehr des Immergleichen -unempfindlich gegen die Anspruche des Einzelnen wie gegen aIle Ansprtiche, die nicht vom Schema der herrschenden Bediirfniserledigung gedeckt werden. Vor dieser Tatsache schrumpft aller Fortschritt in sich zusammen. Eigentlich seien es immer noch Steinhohlen, in denen die Menschen wohnen, heiBt es nach einem Gang durch Olevano Romano -Steinh6hlen, auf die bloB Fernsehantennen montiert sind. 3 Geschichte erstarrt zu Natur, mit deren versteinerter Gestalt es vermittels der darstellenden Form zu brechen gilt; das aber gelingt nur noch durch Indizieren des Versteinerten. Weit davon entfernt, sich in irgendeiner Form mit dem herrschenden Realitatsprinzip und dessen Befriedungsangeboten auszus6hnen, entziffert Brinkmann an den Erscheinungsformen des spatkapitalistischen Alltags immer nur die Permanenz einer alltaglichen Katastrophe. Solche Negativitat ist in je verschiedener Weise konstitutives Merkmal von Werken, die noch den Anspruch erheben, nicht in den blinden Geschichtsverlauf einzustimmen. Adorno hat am Beispiel Baudelaires darauf hingewiesen, daB die mimetische Darstellung des Entfremdeten in der Kunst, ihre Verschwisterung mit dem Tod, nichts anderes ist, als "die sich selbst als negativ reflektierende Identifikation mit der realen Negat ivitat des gesellschaftlichen Zustands. [...J Etwas davon blieb als Ferment alIer Moderne beigemischt.r" Die briichigen Gebilde moderner Kunst iiberlassen sich nachahmend dem zu Negierenden, sie objektivieren das verdinglichte Leben und stellen es als Bruchstiick aus. "Nur kraft ihres Todlichen haben sie Teil an Versohnung.P Noch in der auBersten Angleichung ist authentische Kunst fiir Adorno Protest, Aufbegehren gegen die Geschichte, aus der sie entsteht. 1m Widerstand gegen das Allgemeine, der sich notwendig in der Zersplitterung der Form niederschlagt, gewinnt sie jene Dignitat, die die paradoxe, niemals gesicherte Tradition der Kunst ausmacht. "Die Male der Zerriittung", heiBt es in der Astheti-schen Theorie, "sind das Echtheitssiegel von Moderne; das, wodurch sie die Geschlossenheit des Immergleichen verzweifelt negiert.,,6 In seiner Theone der Avantgarde hat Peter Biirger den Versuch unternommen, diese geschichtsphilosophische Dimension des nichtorganischen Werks im Rekurs auf den verwandten, von Benjamin am barocken Trauerspiel entwickelten Begriff der AIlegorie zu prazisieren.? Das allegorische Verfahren der Bildlichkeit und der Werkkonstitution entspricht zunachst einmal in formaler Hinsicht der avantgardistischen Montage. Wie diese geht es vom Fragment aus. "Das Bild im Feld der allegorischen Intuition ist Bruchstiick, Rune."g Indem das Bizarre und Diskontinuierliche in die Gestaltung eingeht, erlischt "der falsche Schein der Totalitat.? Mit anderen Worten: was Benjamin AIlegorie nennt, ist nicht 'organische' Nachahmung einer intakten Natur, sondern Aufkiindigung des Anscheins einer sinnhaften Beziehung zwischen Besonderem und AIlgemeinem in der Haltung zum Material und in der Form. Die Welt bekommt Risse, sie zerfallt in Einzelteile, an denen der AIlegoriker die "Unfreiheit, Unvollendung und Gebrochenheit der sinnlichen, der schonen Physis"l0 entziffert. Diese Haltung dem Material gegeniiber bestimmt die gesamte Werkkonstitution. Indem das asthetische Gebilde so "nicht mehr als ein organisches Ganzes geschaffen, sondern aus Fragmenten montlert'v! wird, stellt es eine 'antinatiirliche' Interpretation der Welt dar. Die Welt allegorisch zu entziffern heiBt, das organische Weltbild zu zertriimmern, "urn in seinen Scherben die wahre, fixierte und schriftgernalie Bedeutung aufzulesen."12 Wie die avantgardistische Montage ist die AIlegorie also etwas Konstruiertes, vom AIlegoriker Gesetztes -ein 'Artefakt', der in seiner Form gewaltsam auf der Diskontinuitat der Wirklichkeit beharrt. Vor dem Hintergrund dieser formalen Entsprechungen Iibernimrnt Burger nun auch einen Teil der Deutungen, die Benjamin an der Literatur des Barock vorgenommen hat, fiir das avantgardistische Werk. Die allegorische Haltung zur Wirklichkeit, so Benjamin, ist Ausdruck der Melancholie. "Wird der Gegenstand unterm Blick der Melancholie allegorisch, HiBt sie das Leben von ihm abflieBen, bleibt er als toter, doch in Ewigkeit gesieherter zuruck [...]."13 Der AIlegoriker raubt den Dingen ihre konventionelle Bedeutung, er reiBt sie aus dem Lebenszusammenhang heraus, urn sie als tote in sein schwermiitiges Grubeln tiber die Welt aufzunehmen. "Denn aIle Weisheit des Melancholikers ist der Tiefe horig; sie ist gewonnen aus der Versenkung ins Leben der kreattirlichen Dinge und von dem Laut der Offenbarung dringt niehts zu ihr."14 Die Wahrheit, die der barocke AIlegoriker den ebenso begierig aufgegriffenen wie enttauscht fallengelassenen Dingen abliest, ist, daB sie nieht zu retten sind, nur zu bewahren: als Embleme der Verganglichkeit, Solche Rettung der Welt in der Darstellung aber ist im Kern modern. Die barocke Erfahrung der Vanitas, des Todgeweihten und Sinnlosen allen Lebens, nimmt in ihrer grublerischen Beziehung zur Dingwelt die Geisteshaltung des Avantgardisten vorweg, der in immer neuen Anlaufen die entfremdete Welt zur Darstellung bringen will, ohne noch zu ihrem 'Wesen' vordringen oder gar die asthetische Immanenz durchbrechen zu konnen, 1m ennui spiegelt sich die reale Folgenlosigkeit der kiinstlerischen Anstrengung: Der avantgardistische Kunstler kann zwar in unersattlichern Materialhunger die dinglichen Strukturen der Wirklichkeit abtasten, doch er vermag sie nur noch zu exponieren, nieht mehr in ihrer Totalitat zu gestalten oder verandern. Die Fixierung an das je Einzelne ist hoffnungslos, wei! sie mit dem BewuBtsein verbunden ist, "daB einem die Wirklichkeit als eine zu gestaltende entgeht."15 Es ist diese Ohnmacht von Kunst, aus der die Reihung von Fragmenten in der Montage (man konnte auch sagen: ihre Monotonie, ihr Wiederholungszwang) hervorgeht; wie der barocke Manierismus erschopft sieh die Montage als Form darin, "Bruchstucke ganz unausgesetzt zu haufen und in der unablassigen Erwartung eines Wunders Stereotypien fUr Steigerung zu nehmen.tl? Die Melancholie des allegorischen Blicks ist Resultat der Unmoglichkeit, handelnd in die Wirklichkeit einzugreifenP 1m Trauerspiel kommt es, wie es kommen muB; der Lauf der Welt ist weder zu verandern, noch folgt er einem intakten heilsgeschichtlichen Schema, in dem sich letztlich (und sei es im Jenseits) alles zum Guten wendet. Bei Benjamin heiBt es hierzu: "Es gibt keine barocke Eschatologie; und eben darum einen Mechanismus, der alles Erdgeborene hauft, bevor es sich dem Ende iiberliefert."18 1m Trauerspiel ist die traditionell-christliche GewiBheit der Erlosung veri oren, alles Geschehen greift katastrophal auf einer heillosen Erde ineinander.l? So ist es vor allem die der fragmentarischen Form zugrundeliegende Geschichtsauffassung, in der Barock und Modeme sich aufeinander beziehen lassen. "Auf dem Antlitz der Natur steht 'G eschichte' in der Zeichenschrift der Vergiingnis."20Unterm triibsinnigen Blick des Allegorikers erstarrt aller Fortschritt zur Wiederkehr des Immergleichen. Geschichte erscheint als Naturgeschichte, aus der es kein Entrinnen gibt. Derart das "unerbittliche Abrollen jeden Lebens zum Tode"21 vor Augen, schieBen die Lesarten, die der barocke Allegoriker erstellt, immer in dem einen Punkt zusammen: Das historische Geschehen ist Verfall, Vernichtung des Einmaligen und Konkreten im Lauf der Zeit. Nur darin, nicht in seinen Hervorbringungen, ist es bedeutend, nur darin kann es in die Darstellung eingehen; indem "in der Allegorie die facies hippocratica [das Totengesicht; T.G.] der Geschichte als erstarrte UrJandschaft dem Betrachter vor Augen Iiegt", erfaBt der Barockkiinstler Geschichte in allem, "was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat"22 -also gleichsam von ihrer Kostenseite, die in Indem der Blick auf Geschichte so, wie im Trauerspiel, vom "Erleben [...J der totenden Zeit"41 beherrscht wird, aktualisiert er tatsachlich die latente Modernitat der Allegorie. Brinkmanns Schreibweise ist allegorisch zu nennen in der Fragmentierung der Form, der UnabschlieBbarkeit der Textbewegung, die von Augenblick zu Augenblick , von Bild zu Bild huscht, ohne sich darin zu erfiillen; die montierende Re ihung bedrohlicher Wirklichkeitspartikel beharrt auf der Inkonsistenz der Wahrnehmung im Zeichenwirbel der Gegenwart. Allegorisch aber ist vor allem das hartnackige Leugnen jedes wahren Fortschritts. Es verbindet die im Text verstreuten Lesarten als melancholische Interpretation von Geschichte und Beweisaufnahme gegen ihren blinden Fortgang bei aller Unterschiedlichkeit miteinander. Der Schock, auf den die Darstellung zielt, stellt das Geschehen filr einen Augenblick still. In der Organisation von Negativitat solidarisiert sich der Autor mit dem , was in der Geschichte tagesordnungsgemals unterzugehen hat, und beharrt so gleichzeitig auf einer Geschichte, die ganz anders auszusehen hatte. Besonders deutlich wird das in jenen Passagen, in denen die bloBe Mimesis der Darstellung sich zu bildhaften Reflexionen des beschadigten Lebens erweitert, gleichsam die Bilanz der Schreckenswahrnehmungen zieht ; als konne der Text durch die Aufzahlung all dessen , was iiber die Vorgeschichte nicht hinausgekommen ist, das Wirkliche doch noch umstimmen, heiBt es etwa in Rom, Blicke: "[...J ein langer Zug eines Gedankens beginnt: ich sehe auf die Hauser, ich sehe die abgewetzten Treppenstufen, ich sehe die blankgescheuerten Steine und die blankgescheuerten Stellen Holz an den Tiiren , tausende Male hat da jemand angefaBt, tausende Male sind FiiBe iiber die Treppen gegangen, Hunderte von Menschen haben sich hier durch bewegt, haben gesprochen, sich unterhalten , Kindergeschrei und bucklige schwarzgekleidete verwachsene Menschen, jedes Jahr weiter, eine Epoche nach der anderen Jahreszeiten auf Jahreszeiten folgten, und eigentlich sind das hier Ruinen, denke ich, und nach dem kurzen Aufenthalt hier in Italien und dem, was ich sah, den Resten der Vergangenheit (Ruinen) und Fragmenten der Gegenwart (Ruinen), von StraBen Hausern, Geschaften, Autos, Menschengesichtern [...Jund ich denke, "Grenzen", was miiBte nicht weg, was konnte denn tatsachlich noch bleiben? Wir tasten herum in geistigen Ruinen, nachdem wir in wirklichen Ruinen herumgetastet haben und in Bunkern aufgewachsen sind und mit Bombensplittern gespielt haben und 41 Ursprung des deutschenTrauerspiels, a.a.O., S. 270. Zeile: "die erde soff die faulenden fleischkorper zuriick".53 Angesichts des obsessiven Zugs, mit dem der melancholische Feldforscher an dem ganzen graBen Italien nichts anderes wahrzunehmen in der Lage ist als grelle Reklamen, wahnwitzig rasende Fiats, blatternden Putz, nassende Flecken, sterbende Einflul3der Technikentwicklung auf die literarische Avantgarde tiber die Dadaisten bis zu Apollinaire zuruckverfolgt Theorie des Films. Frankfurt/M La Grande Cascata: weiBe Wasserschleier in langen Bahnen 110 Meter tief hangend in ununterbrochenem feucht-weiBen FluB aus einer gewolbten Bergoffnung jenseits der Abfallschlucht, platschernd in eine groBe Lache zwischen Gebiischen ---etwas weiter rechts, ein zweiter ErguB: diesmal schweflig-uringelb, und fiel in ein gelbes Wasserloch tiefer.!: Gegen den Nachmittagshimmel auf der kahlen Bergkuppe einzelne runde Baumkronen aufgereiht/:etwas auBerhalb der Stadt/: Spahen nach einem antiken Rest.!: -Sibyll & Vesta-Tempel, irgendwo dazwischen-: Schachtelhauser, Hotel-Reklamen, nicht zu sehen./Eine Collage ist es, etwas total Zusammengesetztes, auf das ich blicke ---auf dem Boden eine zertretene Zigarettenschachtel Marlboro, ein Archtitekt, der im VW einen Butterkeks iBt, dahinter eine kleine, niedrige Mauer, Wasserausfltisse, weiB und gelb, das Spahen nach einem Tempelrest/: unten die AuBenmauern eines Schuppens, im Gras Schachtelhiiusern" und sonstigen Reizen in einem Augenblick anwesend sein kann. Lesen vermittels des Text-Bilds ist also tatsachlich ein Synonym fiir 'BewuBtma chen', fiir die Verwandlung der Welt in (sinnliches) Wissen. Der Akt der Lektiire besteht im Eindringen in den Augenblick, im be-schreibenden Aufbrechen von Sichtweisen. AIs "ausgeleuchtetes Standphoto,155 widersetzt sich das Bild bei Brinkmann dem Erfahrungsverlust in der Moderne; es rekonstruiert eine Schicht der Wirklichkeit, von der Autor sich angezogen und gleichzeitig bedroht fuhlt davor 1 Karren: was die fiir eine 'schone gute alte Zeit aktivieren' = Viren! -darunter setzt Brinkmann dessen eigene, uniiberbaute Oberflachenrealitat entgegen. Indem die konkrete Wahrnehmung so Vorstellung und Realitat gegeneinander ausspielt, die "gute alte Zeit" als Etikettenschwindel im wahrsten Sinne des Wortes ausweist, wird der Erwartungshorizont des traditionell Asthetischen gesprengt. Brinkmann bekampft das poetische Bild mit den Mitteln des (foto-)realistischen, des 'tiefenscharfen' Bildes Die in den sechziger Jahren diskutierte Frage "Was hat alles Platz in einem Gedicht?"163 wird damit nach 1970 auf eindeutige Weise beantwortet. Das Text -Bild als Agent einer dissoziativen Bewegung holt sein Material aus der Tiefe des Hintergrunds; es treibt gleichsam die in der Metapher uber-sehenen, lyrisch subsumierten Realitatspartikel an die Oberflache, Die Wirklichkeit, die so unter den Vorstellungen und Rhetoriken von ihr freigelegt (das heiBt auch: repriisentierbar gemacht) wird, ist zerkliiftet und vielgestaltig, von Rissen und Graben durchzogen, von widerspriichlichsten Impulsen beherrscht Die Struktur der modernen Lyrik lebendig-augenblickliche[n] Offenbarung des Unerforschlichen" (Maximen und Reflexionen) mit einem Uberindividuellen versohnte,164 eroffnet die Anschauung fur Brinkmann keinen Sehnsuchtsraum mehr. Ganz gleich, ob es sich urn eine EinkaufsstraBe in K61n, eine Kirche in Graz oder urn den 'Suden', VerheiBung und Versohnungsort fur ganze Generationen deutscher Dichter,165 handelt -angesichts einer durch die herrschenden Formen der Produktion gepragten Umwelt ist der schone Schein nicht mehr zu retten. Die Mittel solcher Kritik, die Kritik uberkommener Asthetiken und Kritik der Verhaltnisse zugleich ist, sind allerdings immer noch asthetisch, d.h. anschauend. Es ist eine auf die Spitze getriebene sinnliche Empirie, die das Widerstandsmoment von Brinkmanns Text-Bildern ausmacht . Was Otto F. Riewoldt zu den fruhen Erzahlungen bemerkt hat, gilt urnso mehr fur die spaten Textkonvolute Das Italienerlebnis deutscher Schriftsteller vor und nach Goethes italienischer Reise Wahrend im Satz-Bild von 'Rom, Blicke' "offensichtliche sprachliche F1iichtigkeiten (Tippfehler, Orthographie) korrigiert" und damit zum Verschwinden gebracht wurden (vgI. die editorische Notiz auf S. 450), erschienen die 'Erkundungen' erstmals als (schwarzweiB) faksimilierte Text-Bild-Collage, zu der auch verrutschte Zeilen, Vertipper und unvermittelte Obergange von Wort-und Bildtext gehoren: sie werden gleichsam zum Bestandteil der Spurensicherung im Schreiben . Das aus sich iiberlagernden Schnipseln gerarbeitete 'Schnitte' schlieBlich ware -auch in seinen Textteilen -kaum Blicke' auftaucht, und in identischer oder leicht variierter Form wiederverwendet wird; andere Teile stammen aus den 'Erkudungen' wieder andere aus dem Prosafragment 'To a world filled with compromise, we make no contribution', ganze Seiten schlieBlich aus 'World's End', einer Bild-Text-Collage, die 1973 in einer Auflage von 500 Exemplaren als Druck der Villa Massimo erschienen ist Augen und des Textes stehen fiir eine abweichende Lektiire des Texts Wirklichkeit, die aus dem Auf einer weitergefaBten, einer 'Makrobebene' des Textes werden all die punktuell erfahrenen Wirklichkeitsmomente in ein Spurengesamtkonvolut eingelesen, ohne sie dabei den Synthesen eines sinnorientierten BewuBtseins zu unterwerfen; "schnitt: der verblichene armel einer jacke, der aus der unverputzten liikke in der verwaschenen Hausfassade hangt oder & ist der arrnel einer uniformjacke von irgendwemwie, (gegenlichtaufnahme, in der nur die bizarren schatten zu erkennen sind, dann stille, einer hustet, schnitt!,176 Die Schnitte im Text-FluB zeigen an, daB die Augen-BIicke der Wahrmehmung keiner einheitlichen Perspektive mehr gehorchen; ob Epiphanie oder bloB ratselhafte "Hieroglyphe",177 ob facettenreiches Tiefen-Bild oder vereinzelter 'Funktionen' sind) . Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein Simulacrum des Objekts, aber ein gezieItes, 'interessiertes' Simulacrum, da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, das im natiirlichen Objekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverstandlich blieb. Der strukturale Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen; das ist scheinbar wenig Worten der Welt"187 ist zum einen Ausdruck einer Kapitulation; er enthalt das Einbekenntnis der Ohnmacht des Mediums Sprache. Die Worter bleiben in der Waren-und Mediengesellschaft hinter der Erfahrung zuriick, sie konnen den Reizcharakter einer entfesselten Urbanitat immer nur unzulanglich erfassen GALLERIA DELL'IMMAGINE"189 Schnitte konkurriert als Buch mit der Faszination des Kinos. In der Montage bildhafter Fundstiicke erst erreieht Brinkmann im vollen AusmaB jene Wirklichkeitstreue, die den deiktischen und mimetischen Nominalismus der Bildmedien auszeiehnet. 1m (Bild-)Text gelangt der Wirklichkeitsfilm gleichsam zur unleugbar authentischen Vorfiihrung. Die Buchseiten werden in ihrer bunten Abfolge zum Lesekino, zur "Flickermaschine Sprache ist "sprachliches Umschaffen der Welt" im Sinne eines "geistigen Zugriffs auf das Sein") darauf hingewiesen, daB Brinkmann noch in den Montagen von Westwitrts 1&2 im sprachlichen Zugriffauf die Wirklichkeit verbleibt Brinkmann reklamierte sie bereits in den sechziger Jahren fiir den kiinstlerischen Ausdruck: "aile Formen stehen jedem jederzeit zur Verfiigung und konnen jederzeit beliebig abgewandelt werden oder 'verletzt',ohne daB der Autor gegen seinevermittelten intellektuellen Skrupel, die ihm vom gesellschaftlichen Verstandnis "Literatur" autgedrangt werden Der Filmin Worten. ProsaErzahlungen Essays Ubertreibung und Spinner-Alliire; auch das Zeigen selbst unterliegt einer Dialektik, die nach MaBgabe repressiver Toleranz dem Einzelwerk immer starkeren Evidenzen abverlangt, und damit das Prinzip des Zeigens aush6hlt. 195 Denn nichts nutzt sich so schnell ab wie der Schock. Das Dilemma jeder antikiinstlerischen Avantgarde, einmal gesetzte Erwartungshorizonte iiberbieten zu miissen und den Schock damit zwangslaufig als Markenzeichen zu institutionalisieren, spiegelt sich auch in den drei Materialienbanden -als immanenter Zwang zu Radikalisierung der asthetischen Mitte1. 196 SchlieBIich muB sich die asthetische Konstruktion entfremdeter Blick-Welten immer weiter von der Tageserfahrung einer Gesellschaft entfernen, die sich in dekorativer Heiterkeit gegen radikale Kritik immunisiert hat. 197 Eine noch wiistere, noch fratzenhaftere Darstellung des "Kontrollraum[s] der Gegenwart DIE LETZTE SEITE" einer apokalyptisch erfahrenen Wirklichkeit aufzuschlagen, ist so gleichzeitig die letzte, avancierteste, aber auch verzweifeltste Form eines Aufbegehrens, das mit asrhetischen Mitteln an-zeigt, was asthetisch nicht zu erledigen ist A1lerdings ist die Abfolge und Gestaltung der Edition auch entscheidend durch die Herausgabepraxis der Witwe Maleen Brinkmann gepragt. Niemand wei/3, wie ein lebender Brinkmann seine spaten Materialhefte veroffentlicht hatte der Wirkungsintention Brinkmanns zutiefst widersprechen, da/3 das Zeitgeistmagazin 'Wiener' ihn im Friihjahr '89 in die Bestenliste der '100 Deutschen, die uns gro/3 gemacht haben' aufgenommen hat Hier ist der kritische Impuls tatsachlich zum Markenzeichen erstarrt 00'] daB dabei nieht diejenigen Momente iibernommen werden konnen, die sich aus der Anwendung auf die Literatur des Barock herleiten, versteht sieh von selbst Ursprung des deutsehen Trauerspiels 29 Baroek und Moderne ist eine Zeiterfahrung gemeinsam, in der sich nichts erfiillt; unter der Vorherrsehaft einer homogenen und abstrakten Zeit bleibt das Einzelne, das Unwiederholbare und Individuelle immer schon auf der Strecke. Der SiikularisierungsprozeB aber, der die Erlosungsanspruche des Menschen einst von der Religion aufs Feld der Geschichte verwies, ereilt in der 'postmodernen' Gegenwart noch die letzten in Kunst eingeschlossenen Gliicksversprechen. Eine im Sinne der Werbung 'iisthetisch' gewordene Gesellschaft, in der der Widerstand von Kunst absolut keine Folgen mehr hat und jede Formsprache sich fiber kurz oder lang zum Spektakel erledigen muB, ist tatsiichlieh "Moderne, am Ende angekornmenv.F' Erst hier ist die Verdinglichung total, weil sie auch die Chancen der Verweigerung ergriffen und neutralisiert hat Die allegorisehe Phantasie. Zur Asthetik der Postmoderne Kilb kommt denn aueh zu dem Ergebnis, in der Postmoderne seien genuine Formschopfungen nieht mehr moglich, weil die von der Moderne hinterlassenen Materialien und Techniken ihre Sprengkraft vor der Gesehiehte verloren haben Diskurses getilgt" (Die allegorisehe Phantasie Was bleibt, ist die hoffnungslose, sich in der epigonalen Form (im 'Zitat') ein letztes Mal selbst reflektierende Darstellung. In einer Zeit, in der die Verdingliehung aueh die Gehalte von Kunst restlos ergriffen hat, ist diese nieht mehr nur mimetisehe Darstellung des Entfremdeten , sondern zugleieh "Mimesis an die Versteinerung des Materials zum Zitat Die Figur des Verschwindens, die den nach 1970 entstandenen Texten in verschiedener Form einbeschrieben ist, bestatigt sich darin, daB die Negation der Verhaltnisse in ihnen ebenso total wie definitiv chancenlos geworden ist. Das "unabweisbare Gefiihl des: Vorbei"33 begleitet aIle Wahrnehmungen und raubt ihnen die konventionellen lebensweltlichen Beziige. Unterm Blickwinkel der Melancholie erscheint Geschichte in ihren sinnlichen Erscheinungen nieht mehr als Handlungsraum, sondern als Ort der Katastrophe, des sen Todliches, 'H eilloses' aIlein es asthetisch zu erfassen und darzustellen gilt. Dabei folgt die Darstellung noch im AuBersten ihrer Negativitat dem in die Ferne geriickten Bild eines paradiesischen Hier und Jetzt, versucht, im Entschwinden ein letztes Mal sich seiner zu versichern Leben' ist, lassen Geschiehte vollends zu Naturgeschiehte erstarren; erst die unabsehbaren Folgen der 'Do it!'-Programmatik, in der die Pop-Avantgarden der sechziger Jahre einem befre iten Dasein entgegenzustiirmen glaubten, machen aus dem Handlungsraum Gegenwart jene "steinerne Wiiste der Jetzt-Zeit",35 die, im profanen Riickgriff auf religiose Topoi, als "Holle"36verstanden wird 38 von der in den antiutopischen, das BewuBtsein mit Reizen iiberfiutenden Zeichenwiisten der spaten Texte die Erfahrung beherrscht wird. Wirk-Iichkeit erscheint als Strafkolonie, als Ort einer sublimen Folter 39 Und sie tun es auf unabsehbare Zeit. Die Landkarten, die Brinkmann von der spatkapitalistischen Wirklichkeit anlegt, zeigen posthistorische Landschaften -nicht im Sinne einer angeeigne ten , 'iiberwundenen' Geschichte, sondern als Geschichte im Stillstand, d.h. als verewigte, unentrinnbare Vorgeschichte. In der gegenwartigen Welt, so behaupten sie unermiidlich, ist wahrer Fortschritt nach Lage der Dinge nicht moglich, es herrscht eine "Auszeit 163. darauf nach Wertmafistaben eines Kriippellebens und von Kriippeln erzogen worden sind 44 Fiir Brinkmann, den Feldforscher im Spatkapitalismus, ist es Italien, vor allem Rom, das zur Allegorie der totenden Zeit erstarrt. Hier, wo es keinen "Zentimenter [gibt], der nicht mit Vergangenheit gediingt"45 ist, laBt sich das Immergleiche des Alltags am deutlichsten entziffem, hier bilanziert der Autor, was die Spurensicherung des Textes am ruinierten Einzelnen asthetisch zur Darstellung bringt Auf "abgetakelte[r] abendlandischejr] Rom-Buhne'