key: cord-0047856-fouh4jhs authors: Gechert, Sebastian; Paetz, Christoph; Truger, Achim title: Konjunkturpaket notwendig — Rückkehr zur Schuldenbremse nicht forcieren date: 2020-07-18 journal: Wirtschaftsdienst DOI: 10.1007/s10273-020-2692-5 sha: f66407b60133e5c4536849c52d039fbe4f759d7a doc_id: 47856 cord_uid: fouh4jhs nan Zeitgespräch te bei Arbeitslosigkeit und Kapitalstock zu vermeiden. Im Vergleich zur Finanzkrise 2008/2009 wurde dieses Mal nicht erst lange gezögert und eine Grundsatzdebatte geführt, sondern unverzüglich gehandelt. Vor der Finanzkrise spielte diskretionäre Fiskalpolitik tendenziell eine untergeordnete Rolle bei der Stabilisierung der Wirtschaft. Sie stellte auch keinen großen Schwerpunkt in der ökonomischen Forschung mehr dar. Das hat sich in den vergangenen Jahren drastisch geändert (Furman, 2016) . Demnach kann die Fiskalpolitik sich mit guten Erfolgsaussichten an den sogenannten drei Ts als Kriterien für wirksame konjunkturstützende Maßnahmen orientieren: Die Finanzpolitik sollte "timely, targeted und temporary" (Elmendorf und Furman, 2008) sein, also rechtzeitig, gezielt und befristet eingesetzt werden. Verschiedene fi skalpolitische Instrumente unterscheiden sich in ihrer Effektivität, aber grundsätzlich gilt, dass aktive Konjunkturpolitik im Sinne der drei Ts wirksam ist. In herkömmlichen Makromodellen zeigt sich, dass transitorische fi skalpolitische Maßnahmen Multiplikatoreffekte bis über 2 erreichen können, wenn sich die Geldpolitik am sogenannten Zero Lower Bound befi ndet (Christiano et al., 2011; Woodford, 2011) . Der Befund hoher Wirksamkeit fi skalpolitischer Maßnahmen in Krisenzeiten bestätigt sich auch in empirischen Analysen (Auerbach und Gorodnichenko, 2012) . Dies gilt insbesondere für öffentliche Investitionen, deren Effektivität in Krisenzeiten besonders hoch ist (Gechert und Rannenberg, 2018) . Das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte Konjunkturpaket ist demnach grundsätzlich sinnvoll und mit einem Volumen von 3,8 % des Vorkrisen-BIP in den Jahren 2020 und 2021 auch zu einem kräftigen Anschub fähig. Hinsichtlich der konjunkturellen Wirksamkeit wesentlicher Elemente liefert die jüngere Multiplikatordebatte einige Erkenntnisse. Insgesamt haben öffentliche Investitionen einen besonders starken Effekt auf das Wachstum, während steuerliche Maßnahmen einen eher niedrigen kurzfristigen Multiplikator aufweisen, der auch weniger sensitiv auf das makroökonomische Umfeld reagiert (Gechert und Rannenberg, 2018) . Bei den potenziell konsumstimulierenden Maßnahmen schneidet tendenziell eine Ausweitung von Transfers deutlich besser ab als Steuersenkungen. vergleichen die Multiplikatoreffekte zusätzlicher Sozialausgaben mit einer Senkung der Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland. Wenn man Einnahmen-und Ausgabenschocks miteinander vergleicht, zeigt sich, dass die Ausgaben einen stärkeren positiven Effekt auf das BIP haben, der auch persistenter ist und mit höherer Genau-igkeit geschätzt wird. Der Fiskalmultiplikator für Sozialausgaben beträgt etwa 1,1 zum Zeitpunkt des Schocks, während er bei den Einnahmen nur 0,4 beträgt. Die ermittelten durchschnittlichen Multiplikatoreffekte können als erster Anhaltspunkt auch für Maßnahmen dienen, die in der gegenwärtigen Krise umgesetzt werden. Vermutlich wäre die Wirkung sogar noch größer, denn die Evidenz spricht recht klar dafür (Gechert et al., 2015) , dass fi nanzpolitische Maßnahmen in Krisenzeiten deutlich wirksamer sind. Gezielte Transfers scheinen in solchen Zeiträumen besonders effektiv zu sein (Bayer et al., 2020) . Steuersenkungen sind daher als Konjunkturimpuls weniger geeignet. Insofern ist es nicht optimal, dass der Fokus des Konjunkturpakets bezüglich der Unterstützung des privaten Konsums auf der bis zum 31.12.2020 befristeten Senkung der Umsatzsteuer liegt. Auch angesichts der Überwälzungsproblematik ist es durchaus ungewiss, ob diese Maßnahme in der gewünschten Stärke auf den privaten Konsum durchschlagen wird (Dullien und Gechert, 2020) . Effi zienter ließe sich der Konsum stimulieren, wenn die Finanzmittel in Richtung der Empfänger von Sozialleistungen, zum Teil die ohnehin benachteiligten und schwächeren Personen der Gesellschaft, gelenkt werden. Dies wäre auch wirksamer, um die aus der aktuellen Krise resultierende Zunahme der Armut abzuschwächen. Für Deutschland würde sich im Zuge der Coronakrise beispielsweise eine temporäre Aufstockung des Kurzarbeitergeldes gerade für kleinere Einkommen, ein höheres und länger gezahltes Arbeitslosengeld I, sowie direkte Hilfen für Minijobber anbieten, denen derzeit lediglich das Arbeitslosengeld II zur Verfügung steht. Ebenfalls sinnvoll wäre eine deutliche Aufstockung des Kinderbonus, der sehr effektiv Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen entlastet, aber mit nur 300 Euro je Kind gering dimensioniert ist. Sehr zu begrüßen sind die investiven Elemente des Konjunkturpakets. Neben der potenziell hohen Multiplikatorwirkung dürfte von ihnen auch ein dauerhafter und teilweise transformativer Effekt in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung ausgehen. Allerdings hätte der investive und transformative Aspekt durchaus stärker betont werden können; hierzu gab es zahlreiche Vorschläge (Bach et al., 2020) . Ein unter investiven Gesichtspunkten sehr wesentlicher Aspekt ist außerdem, dass die Unterstützung der Kommunen im Konjunkturpaket zu gering ausgeprägt ist: Die Kommunen sind wesentlich für die öffentliche Daseinsvorsorge und tätigen mehr als ein Drittel der öffentlichen Zeitgespräch Investitionen. Bund und Länder ersetzen die erwarteten Gewerbesteuerausfälle für 2020, und der Bund stockt dauerhaft seinen Anteil an den Kosten der Unterkunft in der Grundsicherung von 50 % auf bis zu 75 % sowie bestehende Investitionsförderungen auf. Für die weitere konjunkturelle Erholung und die mittelfristigen Wachstumsperspektiven ist es von zentraler Bedeutung, die Normalisierung der Finanzpolitik in der Phase der Konjunkturerholung vorsichtig sowie konjunktur-und investitionsgerecht zu gestalten. Die Erfahrungen mit der Austeritätspolitik während der Eurokrise zeigen, dass verfrühte Konsolidierungsmaßnahmen zu stark negativen Effekten auf die Wirtschaftsleistung führen (Blanchard und Leigh, 2013; House et al., 2019) , die langfristig aufgrund von Hysterese-Effekten auch das Produktionspotenzial senken (Fatás und Summers, 2018; Gechert et al., 2019) . Die schnelle Haushaltskonsolidierung nach der globalen Finanz-und Wirtschaftskrise in Deutschland seit 2010 erfolgte auch nicht durch Zeitgespräch forcierte Kürzungen, sondern größtenteils durch das Auslaufen konjunktureller Impulse und die überraschend schnelle und starke konjunkturelle Erholung . Daher sind diskretionäre Ausgabenkürzungen und/oder Steuer-und Abgabenerhöhungen zu vermeiden. Damals wie heute waren und sind dauerhafte diskretionäre Steuersenkungen ebenfalls nicht angebracht. Sie reißen strukturelle Löcher in die Haushalte und führen zu unnötigem ausgabeseitigen Konsolidierungsdruck. Gerade die Corona-Krise sollte die Bedeutung eines fi nanziell gut ausgestatteten und handlungsfähigen Staates eindringlich vor Augen geführt haben. Daher sollte die Ausnahmeregel der Schuldenbremse in Bund und Ländern so lange wie notwendig angewendet werden. Trotz dieser Möglichkeit birgt die Schuldenbremse in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung erhebliche Risiken für die wirtschaftliche Erholung. Die Methode der EU-Kommission, die im Rahmen der Schuldenbremse des Bundes und vieler Bundesländer zur Anwendung kommt, hat sich als problematisch erwiesen, weil das von ihr errechnete Produktionspotenzial stark von der jeweils aktuellen Konjunkturlage beeinfl usst wird. So wird das Produktionspotenzial in Abschwungphasen schnell und stark nach unten revidiert, während es in Aufschwungphasen entsprechend schnell nach oben gezogen wird. Dass die Berechnung des Produktionspotenzials so konjunkturanfällig ist, hat sehr konkrete und gravierende Folgen für die errechneten strukturellen Haushaltssalden: Die öffentlichen Haushalte und besonders die Steuereinnahmen reagieren auf die tatsächliche wirtschaftliche Situation, also im Falle einer Abschwächung auf den tatsächlichen Rückgang des BIP im Vergleich zur Planung. Die Konjunkturbereinigung stuft dann jedoch regelmäßig nur einen Teil dieser tatsächlichen Reaktion als konjunkturell ein. Mittlerweile lässt sich die Dramatik dieses Effekts am Beispiel der jüngsten Revision der gesamtwirtschaftlichen Projektion der Bundesregierung illustrieren (Heimberger und Truger, 2020). So wurde das Produktionspotenzial für das Jahr 2021 von der Herbstprojektion 2019 zur Frühjahrsprojektion 2020 um 2,4 % real und 2,9 % nominal abwärts revidiert. In den für die Finanzplanung des Bundes und der Länderhaushalte relevanten Jahren 2022 bis 2024 wird die Abweichung immer größer und steigt auf 3,0 % real bzw. 3,7 % nominal an. Das hat zur Folge, dass sich der strukturelle gesamtstaatliche Budgetsaldo im Jahr 2021 aufgrund der Potenzialrevision um 1,6 Prozentpunkte verschlechtert; im Jahr 2024 sind es dann 2,1 Prozentpunkte. Allein für den Bund beträgt die revisionsbedingte Verschlechterung 2021 0,6 % des BIP oder gut 20 Mrd. Euro, im Jahr 2024 sind es dann schon 0,9 % des BIP. Falls diese Potenzialrevisionen in der Haushaltsplanung von Bund und den betroffenen Ländern tatsächlich wirksam würden, müsste die Finanzpolitik schon 2021 restriktiver ausgestaltet werden als angemessen. Zudem könnte es aufgrund der relativ klein angesetzten Produktionslücken schwieriger werden 2021 oder in den Folgejahren erneut die Ausnahmeregel der Schuldenbremse in Anspruch zu nehmen. Hinzu kommen die Tilgungsverpfl ichtungen, die Bund und Länder für die im Rahmen der Ausnahmeregel der Schuldenbremse aufgenommenen zusätzlichen Schulden eingegangen sind. Wird die Konjunkturbereinigung nicht angepasst und werden die in einigen Fällen kurzen Tilgungszeiträume von unter zehn Jahren nicht deutlich gestreckt, droht der deutschen Finanzpolitik perspektivisch ein drastischer ökonomisch schädlicher Konsolidierungskurs. Aus diesem Grund sollte kurzfristig auf Potenzialrevisionen verzichtet oder aber der Potenzialpfad statistisch deutlich geglättet werden. Zudem sollten existierende Rücklagen geschont und die Tilgungspläne für im Rahmen der Ausnahmeregel der Schuldenbremse aufgenommene Kredite gestreckt und konjunkturgerecht ausgestaltet werden. Mittelfristig steht die deutsche Finanzpolitik vor der Aufgabe, den für die anstehende klimapolitische und digitale Transformation notwendigen massiven Bedarf an öffentlichen Investitionen zu fi nanzieren (Bardt et al., 2019) . Hierfür muss die Nutzung existierender Spielräume im Rahmen von Schuldenbremse und europäischem Fiskalregelwerk, aber auch die konjunktur-und investitionsgerechte Reform der Schuldenbremse ganz nach oben auf die fi nanzpolitische Prioritätenliste (Bardt et al., 2019; Schnabel und Truger, 2020) . Measuring the output responses to fi scal policy Sozialökologisch ausgerichtete Konjunkturpolitik in und nach der Corona-Krise. Forschungsvorhaben im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, IMK Study The Coronavirus Stimulus Package: How large is the transfer multiplier? Growth Forecast Errors and Fiscal Multipliers, NBER Working Paper When is the government spending multiplier large? Wie wird sich die temporäre Umsatzsteuer-Senkung auswirken? Three Keys to Effective Fiscal Stimulus, Brookings Institution, 26 The permanent effects of fi scal consolidations The New View of Fiscal Policy and Its Application, Delivery for Conference: Global Implications of Europe's Redesign, 5. Oktober Long-Term Effects of Fiscal Stimulus and Austerity in Europe Fiscal multipliers in downturns and the effects of Eurozone consolidation, voxeu Blog, 26 The Macroeconomic Effects of Social Security Contributions and Benefi ts Which Fiscal Multipliers Are Regime-Dependent? A Meta-Regression Analysis Der Outputlücken-Nonsens gefährdet Deutschlands Erholung von der Corona-Krise, Makronom, 2 Austerity in the aftermath of the great recession Is the "Debt Brake" behind Germany's successful fi scal consolidation? Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2020), Den Strukturwandel meistern Simple analytics of the government expenditure multiplier