key: cord-0055269-35u559el authors: Breuer, Christian title: Staatsverschuldung nach Corona: Rückkehr zur Goldenen Regel date: 2021-01-19 journal: Wirtschaftsdienst DOI: 10.1007/s10273-021-2809-5 sha: 06a43e7882c45d81b8786edb315915eb488498c4 doc_id: 55269 cord_uid: 35u559el nan Die Corona-Krise hat die öffentliche Neuverschuldung explodieren lassen, weshalb die deutsche Schuldenbremse und die europäischen Fiskalregeln aktuell ausgesetzt sind. Ihre absehbare Wiedereinführung wird im Lichte der lang anhaltenden Niedrigzinsphase zunehmend kritisch diskutiert. Das unabhängige European Fiscal Board (2020) bei der Europäischen Kommission fordert eine Vereinfachung der Fiskalregeln, wobei man sich an einem Schuldenziel orientieren und Investitionen schützen sollte. Blanchard et al. (2020) plädieren für die Abschaffung der Regeln zugunsten von "fi skalischen Standards", um der Komplexität der Diskussion um Schuldentragfähigkeit gerecht zu werden. Mit ähnlicher Stoßrichtung fordern Hüther und Südekum (2020) in Deutschland eine "fl exible" Schuldenbremse sowie einen staatlichen "Vermögenshaushalt". Die Diskussion wird vor dem Hintergrund der andauernden Niedrigzinsphase geführt, die auch die Bewertung von Staatsverschuldung beeinfl usst (Krämer und von Weizsäcker, 2020) . Da das Verhältnis von Zinssatz r und Wachstumsrate g kleiner als 1 ist, bringt Staatsverschuldung keine fi skalischen Kosten mit sich (Blanchard, 2019) . Wäre der Zins größer als die Wachstumsrate (r > g), würde der Zähler der Staatsschuldenquote (wegen Zins und Zinseszins) schneller steigen als der Nenner (durch Wachstum und Infl ation), wenn dieser Anstieg nicht durch Primärüberschüsse kompensiert würde. Bei niedrigen Zinsen bzw. r < g bildet sich hingegen die Quote aus Staatsverschuldung und Bruttoinlandsprodukt (BIP) von selbst zurück. Sowohl in den USA als auch in Deutschland, Frankreich und Italien ist r < g bei Staatsanleihen die historische Norm (Blanchard, 2019 und Barro, 2020 . Dieser Zusammenhang wurde bei der Einführung der Schuldenbremse vor zehn Jahren anders gesehen. Nach den infl ations-und zinstreibenden Ereignissen der 70er, 80er (Ölpreiskrisen) und 90er Jahre (Wiedervereinigung), trugen in der Finanzkrise steigende Risikoaufschläge auf Staatsanleihen zu der Sorge bei, dass Staatsverschuldung bei hohen Zinsen (r > g) fi skalische Lasten mit sich bringen würde. Dies erklärt den damals vorherrschenden Ansatz, Fiskalregeln eng zu gestalten, Defi zit-und damit Schuldenquoten auf niedrigem Niveau zu begrenzen sowie Ausnahmen für Investitionen oder konjunkturelle Impulse nicht zuzulassen. Viele aktuelle Reformvorschläge teilen die Sicht, dass Investitionen bevorzugt zu behandeln sind. Insofern bietet sich die Rückkehr zur Goldenen Regel an, wie sie bis 2010 in Artikel 115 des Grundgesetzes verankert war. Diese erlaubte die Nettokreditaufnahme in Höhe der staatlichen Bruttoinvestitionen und knüpfte insofern systematisch an das staatliche Sparen an. Für die Goldene Regel sprechen drei zentrale Argumente: Erstens, das Defi zit als Zielgröße der Fiskalregeln reduziert Anreize, in Zukunftsprojekte zu investieren. Gerade weil die Fiskalregeln im Interesse der kommenden Generationen begründet werden, spricht wenig dafür, Ausgaben für Zukunftsinvestitionen zu begrenzen. Tatsächlich sind die Nettoinvestitionen in den Peripherieländern Europas seit langem negativ, sodass die öffentliche Infrastruktur verschleißt, was auch über längere Zeit in Deutschland zu beobachten war. Kritik der klassischen Goldenen Regel verweist darauf, dass neben den Bau-und Anlageinvestitionen auch andere investive Ausgaben sowie entsprechende Abschreibungen berücksichtigt werden sollten. Da es aber bisher an einem konsensfähigen und praktikablen alternativen Investitionsbegriff mangelt, empfi ehlt sich aus rein pragmatischen Gründen die klassische Goldene Regel unter Verwendung der staatlichen Bruttoinvestitionen (oder einer Kombination aus Defi zitziel plus Nettoinvestitionen), was zunächst Sachinvestitionen begünstigen und Erhöhungen heute relevanter Zukunftsinvestitionen, z. B. in die Digitalisierung sowie die Energie-und Verkehrswende, erlauben würde. Dabei wird der zusätzliche Investitionsbedarf in Deutschland auf jährlich rund 45 Mrd. Euro (1,3 % des BIP) über die kommenden zehn Jahre geschätzt. Zweitens, der Zielwert der klassischen Goldenen Regel für die Begrenzung der Schuldenquote ist pragmatisch. Die neuen Defi zitbeschränkungen der Schuldenbremse seit 2010 (0,35 % des BIP) und des Fiskalpakts (0,5 bzw. 1 % des BIP) sind erheblich enger als die Maastricht-Obergrenze von 3 %. Sie ließen die Schuldenquote beim Verhältnis aus Defi zitquote und Wachstumsrate konvergieren, was bei einem Nominalwachstum von ca. 3½ % eine Schuldenquote von 10 % bis 15 bzw. 30 % ergibt. Für höhere Zielwerte spricht neben dem neu zu bewertenden Zinslastargument bei r < g, dass durch Staatsanleihen auch sichere Vermögenswerte angeboten werden, an denen es mangelt (Caballero und Farhi, 2017) . Daher ist fraglich, ob eine schnelle und schmerzhafte Rückführung der Schuldenquoten in Westeuropa von deutlich höheren Werten (ca. 100 bis 140 %) sinnvoll, angemessen und vermittelbar ist. Die klassische Goldene Regel würde hingegen Defi zite in Höhe der staatlichen Bruttoinvestitionen erlauben, was heute in Deutschland den geschätzten Abschreibungen (ca. 2,1 % des BIP) entspricht. Dies würde bei einem Nominalwachstum von 3½ % die Bruttoverschuldung bei genau 60 % des BIP stabilisieren -dem Maastricht-Kriterium. Auch eine Erhöhung der Nettoinvestitionen würde nur den Zielwert der Bruttoschuldenquote verschieben, die relevante Nettoverschuldung aber unberührt lassen. Drittens, die Fiskalregeln sollten ein gesundes Maß an Stabilisierungspolitik ermöglichen. Da Geldpolitik an der Nullzinsgrenze wenig wirkungsvoll ist, wird der Fiskalpolitik in der Liquiditätsfalle eine gestaltende Rolle zugeschrieben (Truger, 2020) . Die Rückkehr zur Goldenen Regel würde antizyklische Maßnahmen in Form von Investitionsprogrammen erlauben. Dies sollte wie bisher um eine Konjunkturkomponente ergänzt werden, auch wenn die Methodik der Berechnung der konjunkturellen Defi zite verbesserungsbedürftig zu sein scheint (Brooks und Fortun, 2020 und Heimberger, 2020 . Die Diskussion um die Wiedereinführung der Fiskalregeln in Deutschland und Europa sollte neben der heute veränderten Bewertung der Zinsbelastung bei r < g auch die Funktion der Staatsanleihen als sichere Anlageform, zur Bekämpfung der Liquiditätsfalle sowie die Nettorendite produktiver Investitionen berücksichtigen. Aus pragmatischen Gründen bietet sich die klassische Goldene Regel an, die auf die Begrenzung der Nettoverschuldung abzielt und Investitionen im Interesse der kommenden Generationen fördert. r Minus g, NBER Working Paper Public Debt and Low Interest Rates Redesigning the EU Fiscal Rules: From Rules to Standards Eurozone Output Gaps and the COVID-19 Shock The Safety Trap Potential Output, EU Fiscal Surveillance and the COVID-19 Shock Die Schuldenbremse nach der Corona-Krise Sparen und Investieren im 21. Jahrhundert: Das Ende der Kapitalknappheit Reforming EU Fiscal Rules: More Leeway, Investment Orientation and Democratic Coordination