key: cord-0055704-jsv1wa4l authors: Plöger, Jörg; Keuneke, Florin title: Arbeit per App – neue Abhängigkeiten in der Gig Economy date: 2021-01-27 journal: Standort DOI: 10.1007/s00548-021-00695-w sha: fc293f0db1d5d088c6e5c5e4d8a2358194139e47 doc_id: 55704 cord_uid: jsv1wa4l In the context of ongoing digitalisation, platform economies develop particularly dynamically. This includes the gig economy, which organises specific work tasks through an app. In the gig economy new working conditions are being negotiated in real time, which poses a significant challenge for regulating institutions. This article illustrates these changes by presenting the findings from a study of food delivery carriers. It highlights the regulating and controlling function of the app, whose algorithm calculates the most convenient matching of drivers, restaurants and consumers. The app increases the distance between workers and employers, thus further limiting the ways in which drivers can access their employers. This restricts the possibilities of individual or collective negotiation of working conditions. Drivers do however develop local practices of withdrawal from constant control through the app, for example, by establishing independent forms of communication or by campaigning for workers’ councils. entstehen. Dass dies als tiefgreifender Umbruch verstanden wird und Folgen für weite Teile der Gesellschaft prognostiziert werden, zeigt der im Oktober 2020 erschienene Abschlussbericht "Digitale Transformation der Arbeitswelt in Nordrhein-Westfalen" der Enquetekommission des Landtags NRW (vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen 2020) . Der Begriff Plattform-Ökonomie (platform economy) bezeichnet neuere Geschäftsmodelle, die durch den nahezu ubiquitären Einsatz technologischer Hilfsmittel wie Smartphones sowie einem fast lückenlosen Zugang zum Internet ermöglicht werden. Aus marktwirtschaftlicher Sicht ermitteln Plattformen ein optimales Matching von Angebot und Nachfrage, also zwischen Verkäufer*innen und Käufer*innen von Produkten oder Dienstleistungen. Bekannte Betreibende digitaler Plattformen sind Ebay (Waren), Airbnb (temporärer Wohnraum) oder Uber (Taxi-/Fahrdienst). Gemein ist den Plattformen, dass sie in der Regel lediglich an den Gebühren für erfolgreiche Vermittlungen verdienen und nicht selbst als produzierendes oder dienstleistendes Unternehmen in Erscheinung treten (vgl. Greef und Schroeder 2017; Schmidt 2017) . Die Voraussetzung dafür sind Apps, die mittels Algorithmen die effizienteste Vermittlung zwischen Angebot und Nachfrage berechnen und dies in benutzerfreundlichen Oberflächen darstellen. Der Beitrag widmet sich einem Teilbereich der Plattform-Ökonomie, nämlich der Gig Economy. Es lassen sich zahlreiche Formen plattformvermittelter Arbeit unterscheiden. Dabei bestehen zum Teil große Unterschiede in Bezug auf die notwendigen Qualifikationen und Fähigkeiten sowie die Möglichkeiten, Einfluss auf die eigene Arbeit zu nehmen (vgl. Greef und Schroeder 2017) . Unterschieden wird vor allem zwischen Gig Work und Cloud Work; während Cloud Work ortsunabhängig erfolgen kann, ist Gig Work in der Regel durch Einsatzgebiete und die physische Ausübung der Dienstleistung ortsgebunden (Schmidt 2017 Die Mehrheit der Befragten hatte einen sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag. Die Erfahrungen mit Lieferando einen Arbeitsvertrag einzugehen, variierten teilweise stark. Innerhalb des Vertrags wurden manchen Mindeststunden zugesichert, wiederum anderen nicht. Allerdings gelang es André und Julia durch Eigeninitiative bzw. Unterstützung der Gewerkschaft ihren Vertrag nach Verlängerung zu entfristen. K Paul berichtete uns davon, dass er bei seiner Anfrage nach einer neuen Ausführung seines Vertrags erfuhr, dass Lieferando seinen Vertrag ebenfalls verloren hatte. Ein neuer wurde nicht ausgestellt. Ein weiteres wichtiges Merkmal der App ist ihr Einfluss auf das Verhältnis zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmer*innen. Im Unterschied zu den mehrheitlich noch analog organisierten Arbeitswelten kennen die Fahrer*innen ihre Vorgesetzten nicht. Die Kommunikation beschränkt sich in der Regel auf Nachrichten in der App. Abgesehen von den Dispatchern haben die Fahrer*innen keine direkten Ansprechpartner*innen. Etwaige E-Mails vom Arbeitgebenden werden über anonyme Adressen versendet. Paul berichtet, dass man "immer nur weitergeleitet wird und nur sehr verzögerte Antworten bekommt, die wenig behilflich sind". Eine ähnliche Erfahrung hat Ben gemacht: Über dieses E-Mail-Verfahren hat man ja keinen persönlichen Ansprechpartner. Man muss immer schreiben und warten .... Und ich habe mich schon bemüht ..., damit die das verstehen. ... Ich weiß nicht, ob die das mit Absicht gemacht haben, ... manchmal kam das so rüber. Diese Aussagen fügen sich in Befunde aus anderen Studien, wonach der Einsatz der Technologie die Distanz zwischen Arbeitgebenden und Fahrer*innen erhöht (vgl. Ivanova et al. 2018). Nicht alle Fahrer*innen sehen darin ein Problem. Lukas schätzt es, keinen direkten Vorgesetzten zu haben, "der einem sagt ,mach das' oder ,mach das'". Dennoch äußert sich in der Distanz eine weitere Abhängigkeit: Während die Fahrer*innen, sobald sie eingeloggt sind, jederzeit erreichbar und lokalisierbar sind, bleiben die Arbeitgebenden im Dunkeln. So verlagert sich das Machtverhältnis zugunsten Letzterer; beispielsweise weil Beschwerden vonseiten der Fahrer*innen erschwert werden oder auf Anfragen spät bzw. gar nicht hilfreich geantwortet wird. So verzögerte sich auch bei einer fehlerhaften Monatsabrechnung die Ausgleichszahlung von Paul um einen Monat. Die Distanz beeinträchtigt weiterhin die Einflussnahme von Vertretungen der Interessen der Arbeitnehmer*innen in der Gig Economy. Zwar wurden Betriebsräte per Gesetz mit Mitbestimmungsrechten ausgestattet, die gesetzlichen Rahmenbedingungen hinken dem Wandel insbesondere digital organisierter Arbeit jedoch hinterher (vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen 2020, S. 210). Zwar wurden in einigen deutschen Städten -darunter auch in Münster -mittlerweile Betriebsräte gegründet, welche in ihrer Arbeit von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) unterstützt werden. Allerdings kritisiert der gewerkschaftliche Vertreter, dass die Arbeitgebenden "keine Lust haben, sich mit Betriebsräten auseinanderzusetzen" und die Mitbestimmung erschweren. Lieferando ist be-müht, die Gründung von Betriebsräten zu verhindern (u. a. Wyputta 2020; Schwär 2020). Ein zentrales Argument dabei ist, dass es vor Ort keine Betriebe gebe. Trotz Verlagerung der Arbeitsorganisation ins Digitale findet die Ausübung der Tätigkeiten in der Gig Economy im physischen Raum statt. Die Interessenvertretungen der Fahrer*innen setzen sich z. B. für eine Entfristung von Arbeitsverträgen ein oder bei Unstimmigkeiten bei der Auszahlung der Löhne. Ein weiterer Aufgabenbereich ist die Einhaltung des gesetzlichen Arbeitsschutzes, auf den im folgenden Abschnitt eingegangen wird. Beim Thema Ausstattung wird das ungleiche Machtgefüge zwischen Fahrer*innen und Arbeitgebenden besonders deutlich. Zwar stellt Lieferando Arbeitskleidung wie Regen-und Fleecejacken, Mützen, Rucksäcke und Helme. Allerdings bemängeln die Fahrer*innen deren niedrige Qualität: Die Regenjacken waren keine Regenjacken. Das waren normale Jacken. Also man war komplett nass hinterher, und wenn das Handy dann nicht wasserfest war, dann war das danach auch kaputt. (Ben) Zudem dauert die Nachbestellung bei defekten Rucksäcken oder Jacken teilweise sehr lange, so der Gewerkschaftsvertreter. Als Reaktion auf diese Mängel konnte auf Einwirken des Betriebsrates erreicht werden, dass das Tragen der gestellten Arbeitskleidung nicht mehr verpflichtend ist. In den einzelnen Einsatzgebieten verfügen die Fahrer*innen zudem über unterschiedlichen Zugriff auf Material je nachdem, ob Lieferando dort einen Hub betreibt. Das sind lokale Lager bzw. Büros, wo Arbeitsmaterialien und auch E-Fahrräder aufbewahrt werden, auf die die Fahrer*innen zu Schichtbeginn oder bei defektem Material zurückgreifen können. Das Tragen eines Helmes ist für die Fahrer*innen vertraglich verpflichtend und Voraussetzung für den Versicherungsschutz bei Unfällen. Marvin bemerkte allerdings, dass die Einhaltung der Helmpflicht in der Praxis nicht kontrolliert wird. Lediglich bei schlechten Witterungsbedingungen wird eine Aufforderung zum Tragen des Helmes versendet. Mehrere Interviewte bestätigten, dass die Verantwortung auch bei der Verkehrssicherheit der Fahrräder bei den Fahrer*innen liegt und hier ebenfalls keine Kontrollen stattfinden: Gleichwohl lassen sich als Reaktion auf die Kontrolle durch die App vonseiten der Fahrer*innen sowohl Anzeichen gemeinschaftlicher Praktiken als auch Praktiken der Unterstützung erkennen. So berichten André, Julia und Marvin, dass es einen "harten Kern" von ca. 20-25 Fahrer*innen gibt, aus dem sich zum Teil Freundschaften entwickelt hätten. Untereinander tauschen die Fahrer*innen beispielsweise Informationen aus. Zudem sind viele Fahrer*innen in einer WhatsApp-Gruppe organisiert. Darüber erfolgt ein Austausch über die Arbeit. Marvin berichtete davon, dass in der Gruppe auf die Möglichkeit der Entfristung von Arbeitsverträgen hingewiesen wurde. Vor allem nutzen die Fahrer*innen diese Gruppe allerdings, um bei konkreten Problemen Unterstützung zu erhalten. Zum Beispiel sind die Fahrer*innen aufgrund ihrer Abhängigkeit von der App darauf angewiesen, dass der Akku ihres Smartphones voll aufgeladen ist. Bei niedrigem Akkustand, so Julia, könne man in die Gruppe schreiben, um sich eine Powerbank zu leihen. Mit dieser Verlagerung der Kommunikation in eine von der App unabhängige Chat-Gruppe verschaffen sich die Fahrer*innen somit etwas Freiraum, in dem auch kritische Kommentare bezüglich der Arbeit möglich sind, ohne eine Sanktionierung befürchten zu müssen. Die hier beschriebenen Praktiken zeigen, wie Fahrer*innen mit Herausforderungen im Arbeitsalltag umgehen. Ob sich dies allerdings in einem solchen Umfang erweitern kann, dass sich der Status quo zugunsten der Arbeiter*innen verändert und es womöglich dazu führt, dass sich die Beschäftigungsverhältnisse verändern, ist zu hinterfragen und war auf Grundlage der Interviews nicht zu erkennen. Darin offenbart sich wiederum ein widersprüchliches Verhältnis zwischen Selbst-und Fremdbestimmung im Arbeitsverhältnis. Denn die Arbeitgebenden treten zunehmend in den Hintergrund und entziehen sich so den Anliegen der Fahrer*innen sowie ihrer Interessenvertretung. Dadurch ist nicht nur der Zugriff auf die Arbeitgebenden erschwert. Die App verschleiert auch andere Rahmenbedingungen der Arbeit, wie die Intransparenz bei der Berechnung der Boni zeigt. An 3 Punkten kann veranschaulicht werden, dass die Arbeitsbedingungen in der Gig Economy eine räumliche Komponente haben. Erstens gibt es Unterschiede bei der Gründung von Betriebsräten für die einzelnen Einsatzgebiete. Während das in Münster gelang, sind solche Initiativen der Fahrer*innen nicht überall von Erfolg gekrönt. Zweitens unterhält Lieferando nicht in allen Einsatzgebieten Hubs zur Bereitstellung von Arbeitsmaterialien. In Münster kritisieren die Fahrer*innen in diesem Zusammenhang die vergleichsweise schlechte Versorgung mit Kleidung, Rucksäcken und E-Fahrrädern. Drittens gewinnt in der Gig Econo-my der digitale Raum stark an Bedeutung für das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgebenden. Wegen der Gefahr der Unterwanderung von Arbeitsstandards und der Entstehung prekärer Beschäftigungsverhältnisse sollte diese Entwicklung in Zukunft im Auge behalten werden. Gerade aus diesem Grund sind die Bemühungen von Lieferando, die Gründung lokaler Betriebsräte zu verhindern, kritisch zu beurteilen. Um zu verhindern, dass die Arbeitsbedingungen in der Gig Economy weiter zu Ungunsten der Beschäftigten kippen, müssen regulierende Instanzen die Entwicklungen im Blick behalten. Anhand verschiedener Beispiele konnte die Verlagerung der Verantwortung zu Lasten der Fahrer*innen aufgezeigt werden. So wird von diesen verlangt, dass sie funktionsfähige Arbeitsgeräte wie Smartphones und z. T. Fahrräder selbst bereitstellen. Auch beim Thema Arbeitsschutz ist eine Verschiebung auf die Gig Worker erkennbar. Zur Erhöhung der Verkehrssicherheit wären regelmäßige Kontrollen der Fahrräder wünschenswert, z. B. in Kooperation mit lokalen Fahrradwerkstätten. Zudem sollten Fahrer*innen eine angemessene Entschädigung für eingebrachte Arbeitsmittel erhalten. Ein Beispiel der Selbstorganisation sind die von den Fahrer*innen selbst initiierten Formen des Austauschs. So ermöglicht die WhatsApp-Gruppe einiger Fahrer*innen neben der Verbreitung von Informationen und der Vermittlung schneller Hilfeleistungen insbesondere auch eine kritische Auseinandersetzung mit den konkreten Arbeitsbedingungen. Danksagung Wir bedanken uns bei den weiteren Teilnehmenden des Seminars "Die Platform Economy aus geographischer Perspektive" im Wintersemester 2019/2020 an der Westfälischen Wilhelms Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses Plattformökonomie und Crowdworking: Eine Analyse der Strategien und Positionen zentraler Akteure Foodora and deliveroo: the app as a boss? Control and autonomy in app-based management-the case of food delivery riders Gewerkschaft fordert Bezahlung nach Tarif. Der Tagesspiegel Digitale Transformation der Arbeitswelt in Nordrhein-Westfalen High score, low pay: why the gig economy loves gamification. The Guardian Arbeit in der modernen Gesellschaft. VS, Wiesbaden Die Transformation von Sichtbarkeitsordnungen. Vom disziplinären Blick zu den kompetitiven Singularitäten Digital labor markets in the platform economy. Mapping the political challenges of crowd work and gig work. Friedrich-Ebert-Stiftung Polizeieinsatz bei Lieferandos Betriebsratswahlen -Streit mit Fahrern geht in die nächste Runde Prognose der Umsätze für Online Food Delivery in Deutschland für die Jahre Complex Control and the Governmentality of Digital Platforms der-lieferdienste-in-den-ruin?article_onepage=true. Zugegriffen: 30 Medford Wyputta A (2020) Ausgelieferte Mitarbeiter. Lieferando torpediert Betriebswahl