key: cord-0056214-dzopj6vu authors: von Schneidemesser, Dirk title: Öffentliche Mobilität und neue Formen der Governance: das Beispiel Volksentscheid Fahrrad date: 2020-10-24 journal: Öffentliche Mobilität DOI: 10.1007/978-3-658-32106-2_6 sha: 855c35031ea6e183a440eed395fdfa04e30d8a33 doc_id: 56214 cord_uid: dzopj6vu Der Anstoß für Deutschlands erstes Fahrradgesetz kam aus der Zivilgesellschaft. Der Impuls entstand aus dem weiterhin ungeklärten Konflikt zwischen der Autofixierung der konservativen deutschen Verkehrspolitik und dem progressiven Wunsch nach einer nachhaltigen Mobilität, die sich an den Bedürfnissen der Bürger*innen orientieren soll und eine Umverteilung des Straßenraumes zugunsten des Radverkehrs erforderte. Dass Verkehr nachhaltiger gestaltet werden muss, war Konsens. Über das Wie gingen die Meinungen stark auseinander. die den Prozess zur Verabschiedung des Berliner Mobilitätsgesetzes -und damit auch des ersten Fahrradgesetzes -herbeiführte: Die Initiative Volksentscheid Fahrrad (VEF) . Wie andernorts in Deutschland besteht auch in Berlin in weiten Teilen des politischen Spektrums Konsens darüber, dass der motorisierte Individualverkehr auf den ÖPNV und das Fahrrad verlagert werden soll (CDU Berlin 2020; FDP Berlin 2016; SPD, Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen 2016). Trotz dieser Absicht bleibt Berlin bis heute in Bezug auf seine Verkehrsgestaltung eine autogerechte Stadt. Knapp 60 % der Verkehrsflächen in Berlin sind dem Kraftverkehr gewidmet, obwohl dieser nur etwa 25 % der Wege ausmacht -Tendenz sinkend. Dem Radverkehr hingegen werden nur 3 % der Verkehrsflächen zugestanden, obwohl er bereits für 18 % der zurückgelegten Wege aufkommt -Tendenz steigend (Gerike et al. 2020 ; SenUVK 2019; Agentur für clevere Städte 2014). Aus dieser Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit hat sich in der Berliner Zivilgesellschaft der Wunsch nach Veränderung und einer neuen Verkehrspolitik entzündet. Berlin ist Deutschlands größte Stadt und verfügt als Stadtstaat über Kompetenzen der Landesgesetzgebung. Diese Kompetenzen sowie die in der Berliner Verfassung verankerte rechtliche Grundlage für eine Volksgesetzgebung boten die strukturellen Rahmenbedingungen für einen verkehrspolitischen Wandel mit Strahlkraft und Vorbildfunktion über Berlin hinaus. In diesem Kapitel skizziere ich zunächst den verkehrspolitischen Kontext, bevor ich auf den konkreten Fall von Mobilitätsgovernance in Deutschland am Beispiel des VEF eingehe. In diesem Zusammenhang werden Formen der Kollaboration im Feld der Verkehrspolitik erläutert. Anschließend werden die Rollen der beteiligten Akteure im Bereich der Mobilitätssteuerung im Zusammenhang von VEF und dem Mobilitätsgesetz beleuchtet und mit Beispielen veranschaulicht. Schließlich werden Vorschläge für einen neuen Modus der Zusammenarbeit formuliert, um die gegenwärtigen kollaborativen Konstellationen mit einem zivil-orientierten kollaborativen Modus zu ergänzen. Der Weg zum Mobilitätsgesetz Die wirtschaftliche Bedeutung der Automobilindustrie führte dazu, dass das Fahrrad -trotz langer Tradition -von der deutschen Politik vernachlässigt wurde (Oosterhuis 2016) , anders als in den Nachbarländern Dänemark und Niederlande. Das alltägliche Radfahren wurde aber auch nicht völlig ausgeblendet wie z. B. in Italien oder Frankreich. Dies führte zu einer Situation, in der das Fahrrad als Verkehrsmittel zwar normalisiert, aber gleichzeitig in politischer Hinsicht marginalisiert wurde. Als Anfang der 2000er-Jahre verschiedene Faktoren (politische Bedenken hinsichtlich des Klimawandels und Finanzkrisen sowie kontextbezogene Faktoren wie Bevölkerungswachstum, Urbanisierung und Digitalisierung) zusammenkamen, die die Dominanz des Automobils in der Wirtschafts-und Verkehrspolitik hätten infrage stellen können, war das Auto schon lange fest verankert (Schwedes 2017 (Schwedes , 2011 . Die korporatistischen Konstellationen, die die Governanceprozesse in Deutschland prägen (Lijphart 1999) , stabilisierten die politische Relevanz des Automobils. So sind die beiden zentralen Akteursgruppen bei der bundespolitischen Verkehrsgovernance -Industrie-und Wirtschaftsverbände sowie Gewerkschaften -wirtschaftsorientierte Akteure und stark in der Automobilindustrie oder verwandten Branchen verwurzelt. Diese wirtschaftsorientierten Strukturen verdrängten potenzielle zivile Partner*innen aus Governanceprozessen. Darüber hinaus war die Bedeutung zivilorientierter Partner durch ihre begrenzten Ressourcen weiter eingeschränkt, insbesondere im Vergleich zu Industriepartnern wie der Automobilindustrie oder den Gewerkschaften mit eigenen Finanzierungsquellen und entsprechend professioneller Organisation. Und sogar innerhalb der Zivilgesellschaft verfügten automobilindustrienahe Gruppen wie der ADAC (Allgemeiner Deutscher Automobil-Club) über weitaus mehr Ressourcen als ihr fahrradorientiertes Pendant, der ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club) (Schwedes 2011) . Diese Gruppen, allen voran der ADFC, waren stärker in zivilen Strukturen verankert als Ihre auto-orientierten Pendants. Sie konzentrierten sich weniger auf den Rennsport und hatten weniger Kontakte zur Fahrradindustrie als der ADAC zur Autoindustrie, sodass insgesamt deutlich weniger finanzielle Unterstützung zur Verfügung stand (Oosterhuis 2016 Zwei Jahre später herrschte Enttäuschung: Exakt einer von mehr als 5000 im Radsicherheitsdialog identifizierten Orte war aus Sicht der Bürger*innen von der Regierung sicherer gestaltet worden (Brückner 2016 (Dill und Gliebe 2008; Dill und McNiel 2012; Geller 2006 Denn so können sich auch die zahlreichen Menschen für das Rad entscheiden, die diesem Verkehrsmittel zwar aufgeschlossen gegenüberstehen, sich jedoch Sorgen um ihre Sicherheit machen (Geller 2006) . Der Berliner Ortsverband des ADFC war in der Frage der getrennten Infrastruktur gespalten. Als mitgliederorientierte Organisation mit basisdemokratischer Struktur vertrat der ADFC diejenigen, die bereits Rad fuhren. Einige im ADFC argumentierten, dass Radfahrende auf der Straße oder direkt neben der Fahrbahn auf markierten Radwegen am sichersten unterwegs seien, weil sie sich so im Sichtbereich der Kraftfahrzeugfahrenden befänden. Der VEF hingegen argumentierte, dass viele Menschen es sich nicht zutrauten, mit dem Rad direkt neben dem Kraftfahrzeugverkehr zu fahren. Eine Vermittlung oder gar Lösung dieses Konflikts gestaltete sich schwierig, da die Grundannahmen sowie die daraus resultierenden Ziele dieser beiden Positionen grundverschieden waren. Die Aktivist*innen des VEF wollten möglichst viele Menschen aus dem Auto und auf das Fahrrad locken. Der ADFC wollte Sicherheit schaffen für seine Mitglieder, die das Rad bereits regelmäßig nutzten. Damit trat ein neuer Akteur in die Öffentlichkeit, der akzeptierte und kaum hinterfragte Grundlagen der bisherigen Fahrradlobby, wie z. B. dem ADFC, ablehnte. Dennoch suchte der VEF die Unterstützung des ADFC. Denn eine Spaltung der Berliner Fahrradlobby hinsichtlich eines Fahrradgesetzes hätte dem gesetzesorientierten Ansatz geschadet. Der Konflikt zwischen beiden Standpunkten wurde auf einer Abstimmung auf der Jahrestagung des ADFC Berlin zugunsten des VEF entschieden, was jedoch den ADFC-Vorstand entzweite und zu mehreren Rücktritten führte (Hasselmann 2016) . Damit war zwar die politische Ausrichtung der Berliner Fahrradlobby festgelegt, in den Ortsgruppen der deutschen Fahrradlobby jedoch sorgt diese Frage weiterhin für Konflikte. Wie im vorherigen Abschnitt erwähnt, gab es unterschiedliche Vorstellungen über den wichtigsten verkehrspolitischen Schwerpunkt. Das Feld der Verkehrspolitik selbst wird im Allgemeinen eher von technisch orientierten Experten und technokratischen Eliten dominiert (Martens 2017) , dies gilt insbesondere für die deutsche Verkehrspolitik (Schwedes 2011) sowie für verwandte Bereiche wie die Klimapolitik (Hustedt 2013) . Zivilgesellschaftliche Aktivist*innen, die in Deutschland Zugang zu verkehrspolitischen Gremien finden, passen sich häufig an und übernehmen diese technischen Tendenzen. Die in der deutschen Verkehrspolitik akzeptierte Expertise nimmt daher überwiegend eine vor allem technische Perspektive ein. Dies wiederum erschwert eine Berücksichtigung bürgerschaftlicher oder zivilgesellschaftlicher Expertise in politischen Prozessen. Der VEF drängte darauf, dass andere Arten von Expertise als Grundlage für eine neue Verkehrspolitik verwendet werden sollten, die über den gewohnten Horizont hinausreichten (Schneidemesser et al. 2018) . Denn es standen kaum quantitative Daten aus Deutschland zur Verfügung, mit denen sich die vom VEF geforderten Veränderungen unterstützen ließen. Diese Situation bedeutete eine Zäsur in der Herangehensweise und zeigte das Dilemma auf, eine Änderung der etablierten Verkehrspolitik in Deutschland herbeizuführen: Da die geforderten infrastrukturellen Maßnahmen in Deutschland kaum vorhanden waren, ließ sich deren Wirksamkeit kaum mit Zahlen aus Deutschland belegen. Diese paradoxe Situation unterstreicht den Paradigmenwechsel, den der VEF einläutete. Der verfolgte Politikwechsel war radikaler als alle Forderungen, die aus dem Bereich der etablierten Verkehrspolitik selbst kommen konnten. Vor Auftreten des VEF zeigten sich häufig Probleme, wenn Spannungen nicht angegangen wurden, die durch strukturell bedingte blinde Flecken verursacht wurden. Der oben beschriebene Radsicherheitsdialog war ein Versuch der Berliner Regierung, die Rolle der Bürger*innen als Expert*innen für ihre Stadt anzuerkennen. Allerdings waren die Verkehrspolitiker*innen nicht in der Lage, den Input der bürgerschaftlichen Expert*innen in die Praxis zu integrieren. Die Informationen wurden als nicht relevant abgetan. Denn die Bürger*innen waren gebeten worden, anzugeben, wo sie sich unsicher fühlten. Die subjektiven Angaben und daraus formulierten Verbesserungsvorschläge widersprachen der von den Entscheider*innen erwarteten Objektivität. Die Erkenntnisse des Dialogs wurden planungskulturell wegmarginalisiert. Für fachfremde Vorschläge, die auf subjektiven Erfahrungen mit der Infrastruktur basierten, war kein Erfassungsprozess vorgesehen. Für zahlreiche Aktive in der VEF-Initiative war genau diese Enttäuschung über die Unfähigkeit der Regierung, auf die von den Bürger*innen identifizierten Probleme zu reagieren, eine Motivation, den Politikwechsel mithilfe eines Volksentscheids zu erzwingen. Die Abwehrreaktionen der verkehrsplanerischen und politischen Expert*innen weisen auf die Hindernisse hin, die einer Öffnung für andere Formen der Erkenntnisgewinnung entgegenstehen. Dies galt sowohl für die politischen Akteure (Liebigt 2016) als auch für Verwaltungsakteure (Kunst 2018 Vergleicht man den Gesetzesentwurf mit dem Mobilitätsgesetz, so zeigt sich, dass viele Passagen Wort für Wort aus dem Entwurf in das Gesetz übernommen wurden. In vielen weiteren Passagen wurden Inhalte direkt übertragen. In diesem Gesetz ist also buchstäblich festgeschrieben, dass sich zivilgesellschaftliches Wissen direkt in die Verkehrsplanung integrieren lässt. Die Mechanismen, die das Bürger*innenwissen als wertvolle Expertise im verkehrspolitischen Prozess zu marginalisieren suchten, ließen sich durch von der Öffentlichkeit unterstützte direktdemokratische Verfahren überwinden. Diese direkte Gestaltung verkehrspolitischer Prozesse durch Bürger*innenwissen war beispiellos und stellte in zweierlei Hinsicht einen Paradigmenwechsel dar. Zum einen war der Inhalt eine radikale Abkehr von der in Deutschland praktizierten Verkehrspolitik. Zum anderen handelte es sich um eine neuartige Weise, wie die Politik betrieben, von Bürger*innen initiiert und schließlich in einem breit aufgestellten Prozess mit der Zivilgesellschaft verhandelt wurde. Während es bereits üblich ist, Beiträge von Interessengruppen in der Gesetzgebung zu berücksichtigen, war dieser direkte Initiierungs-und Verhandlungsprozess zwischen politischen Akteuren und der Zivilgesellschaft neu. Denn mit Verabschiedung des Gesetzes ist die zivilgesellschaftliche Beteiligung nicht vorbei: Im Gesetz ist die kontinuierliche Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Weiterentwicklung der Verkehrspolitik sowohl auf Landes-als auch auf Bezirksebene (beispielsweise mit dem sogenannten FahrRat) festgeschrieben. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Planungskultur damit schon erneuert ist, denn diesem partizipativen Organ sind keine verbindlichen Kompetenzen übertragen worden (Land Berlin 2018, S. 475). Es ist also derzeit noch unklar, ob der verkehrspolitische Entscheidungsprozess nachhaltig verändert wurde: Hat das Berliner Mobilitätsgesetz das Spiel tatsächlich verändert oder nur die Karten neu gemischt? Dessen ungeachtet haben zivilgesellschaftliche Akteure in Berlin und in ganz Deutschland das Thema Verkehrspolitik in die Öffentlichkeit getragen. Immer mehr Initiativen beanspruchen das Recht, an der Stadtentwicklungs-und Verkehrspolitik mitzuwirken (Rehmet et al. 2018 Wissen ist also nichts, was man besitzt oder nicht. Es wird in einem dynamischen Prozess immer wieder neu entwickelt. Dieses Verständnis von Wissen und Expertise ist etwas, das von den institutionellen Akteuren der Verkehrspolitik akzeptiert werden muss, um einen verkehrspolitischen und -kulturellen Wandel politischer Prozesse zu ermöglichen. Wie Arancibia (2016) argumentiert, ist die Auffassung von Wissen als persönliches Eigentum die Grundlage dafür, den Ausschluss vieler Wissensquellen (zum Beispiel von ganzen Gesellschaftsschichten) zu rechtfertigen. Denn so wird eine Trennung zwischen ‚Lai*innen' und ‚Expert*innen' ermöglicht. Demgegenüber beruht das für die Verkehrspolitik notwendige neue Verhältnis zwischen Bürger*innen, Politik und Verwaltung auf der Vorstellung, dass die Bürgerinnen und Bürger Expertise zu den Erfordernissen einer zukunftsfähigen Öffentlichen Mobilität einbringen können. In diesem Sinne bedarf es eines neuen Rollenverständnisses -insbesondere auf Seiten der Verwaltungsakteure. Dafür wurden bereits Wege aufgezeigt. Fischer (2000) hat vorgeschlagen, dass sich die Rolle der Verwaltung (zumindest teilweise) von der eines Expert*innengremiums zu einer Institution für die Vermittlung von Expertise wandeln soll. Das neue Verhältnis zwischen Bürger*innen und Verwaltung erfordert einen Wandel der Erwartungen aufseiten ersterer und grundlegend andere Strukturen, Schnittstellen und Arbeitsweisen aufseiten letzterer. Gegenwärtig ist es üblich, dass sich Verwaltungsakteure ausschließlich auf ihren Verantwortungsbereich konzentrieren und die Bearbeitung von Themen außerhalb ihrer unmittelbaren Zuständigkeit ablehnen. Dies ist selten auf böse Absicht zurückzuführen. Vielmehr beruht es auf Erfahrungen -es ist Teil des Ausdrucks einer gelernten Kultur. Für engagierte Bürger*innen kann es jedoch entmutigend sein, sich erst durch einen komplizierten Dschungel von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten schlagen zu müssen. Im Bereich Mobilität als öffentliche Dienstleistung kann dies noch mühsamer sein, wenn man nicht nur den Zuständigkeitsdschungel der Verwaltung, sondern auch den der Dienstleister und Auftragnehmer durchblicken muss. Aktuell sind diese Verantwortlichkeiten teilweise sogar derart gestaltet, dass die Verantwortung nicht bei einem Akteur liegt, sondern in den Zwischenräumen versinkt (Bach und Wegrich 2016). Mit solchen Strukturen werden Bürger*innen absichtlich auf Distanz gehalten. Öffentliches Interesse an Mobilität wird hier nicht als Ressource, sondern als Bedrohung begriffen. Darüber hinaus behindern weitere Faktoren den beschriebenen Wandel. In Berlin wurde die öffentliche Verwaltung etwa 20 Jahre lang einem Sparkurs unterworfen. Dies bedeutet, dass aufgrund fehlender Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung die Kapazitäten ohnehin knapp sind. Es bedeutet ferner, dass die dort Beschäftigten tendenziell älter sind (Berliner Senat 2018). Ihre Ausbildung und prägenden Erfahrungen fielen in eine Zeit, in der es darum ging, a) die autogerechte Stadt zu bauen und b) kein Geld auszugeben. Jetzt stehen dieselben Personen vor einer Aufgabe, die erheblich von ihrer gelernten Praxis abweicht: Nämlich die Gestaltung der Stadt auf die öffentliche Mobilität auszurichten und die dafür erforderlichen Mittel auszugeben. Die Anpassung an diese Transformationsphase ist daher für viele Verwaltungsmitarbeitenden eine neue Herausforderung. Viele der in der öffentlichen Verwaltung beschäftigten Verkehrsingenieur*innen und -planer*innen beklagen, dass sie nicht genug Zeit für ihre Aufgaben hätten, weil sie ständig Anfragen und Beschwerden der Öffentlichkeit entgegennehmen und beantworten müssten. Gleichzeitig beklagen Politik und Verwaltungsleiter*innen, dass sie keine qualifizierten Fachkräfte fänden ( Die Defizite der Umsetzung werden in der Praxis deutlich. Das erste Treffen des (gesetzlich verankerten) FahrRats fand im März 2020 statt -fast zwei Jahre nach Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes. Die Verzögerung wurde der Landesregierung zugeschrieben, da sie seit der Verabschiedung des Gesetzes die Besetzung des FahrRats bestimmt. Vor der gesetzlichen Verankerung des FahrRats traf sich das Gremium dreimal pro Jahr einen ganzen Tag, aktuell wollen Verwaltungsakteure dreimal pro Jahr einen halben Tag lang zusammenkommen. Trotz der Tatsache, dass das Gesetz "transparente und offene Verfahrensabläufe" fordert, wurde bei der ersten Sitzung vorgeschlagen, viele der Themen nicht öffentlich zu machen. Die Begründung lautete, dass andernfalls nur endgültig in der Verwaltung geprüfte und genehmigte Dinge zur Sprache kämen, keine Zwischenstände oder ungeprüfte Ideen (Quelle: persönliche Korrespondenz). Die aus der Sicht des Delegierten von Changing Cities e. V. wichtigen Themen wurden nicht auf die Tagesordnung genommen (z. B. Beschleunigung von Prozessen in der Verwaltung, Festlegung von Zuständigkeiten und Zeitvorgaben für wichtige Verwaltungsrichtlinien, Umsetzung der im Gesetz vorgesehenen Infrastruktur [mit Zeithorizonten] sowie die anstehenden großen Infrastrukturprojekte [mit Zeithorizonten]). Der Umgang mit dem FahrRat lässt vermuten, dass die Verwaltungskultur noch sehr stark von einem statischen Wissens-bzw. Expertisebegriff geprägt ist. Der Umgang zeugt von einem Gefühl der Notwendigkeit, Strukturen aufrechtzuerhalten, in denen Expert*innen ein hohes Maß an Wissen exklusiv besitzen und somit ihre Machtposition begründen und verteidigen können. So steht weiterhin die Frage im Vordergrund, wer über welches Wissen verfügt, anstatt gemeinsam danach zu fragen, welches Wissen wie eingesetzt werden kann. Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung des Radverkehrsnetzes. Laut Mobilitätsgesetz hätte innerhalb eines Jahres nach dessen Verabschiedung ein Netzplan erarbeitet werden müssen. Dieser soll, zusammen mit anderen (ebenfalls noch ausstehenden) Verwaltungsrichtlinien, die Grundlage dafür bilden, wo welche Infrastruktur gebaut wird (Land Berlin 2018, §41). Über zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes ist der Radnetzplan immer noch nicht erstellt. Zivilgesellschaftliche Akteure wie Changing Cities e. V., ADFC Berlin, VCD Nordost oder BUND Berlin bildeten gemeinsam ein 30-köpfiges Team von Bürger*innen, das einen Radverkehrsnetzplan erarbeitete und Ende 2019 der Senatsverwaltung übergab (Changing Cities 2019b). Um der Verwaltung als Grundlage dienen zu können, bräuchte es entsprechende Überprüfungen und Anpassungen an die Arbeitsprozesse der Verwaltung. Und selbst ohne diese Überprüfungen hätte das Dokument zumindest als wertvoller Input genutzt werden können. Die Verwaltung schien jedoch nicht darauf vorbereitet zu sein, diesen Input zu akzeptieren und in ihre Prozesse zu integrieren. Stattdessen lässt die Verwaltung trotz des immensen zeitlichen Verzugs weiterhin ein Radnetz von traditionellen Expert*innen in einem Verfahren erstellen, das gewohnten Beschaffungsverfahren entspricht. (Die Errichtung von sogenannten ‚Pop-up-Radwegen' im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie zeigt jedoch, wie hilfreich der von der Zivilgesellschaft vorgeschlagene Radnetzplan für die Verwaltungsarbeit sein kann. Denn diese Radwege verlaufen auf den darin vorgeschlagenen Strecken). Voraussetzung dafür, dass die Verwaltung von der Expertise der Zivilgesellschaft profitieren kann, wäre der oben beschriebene Kulturwandel. Die Rekonzeptualisierung von Wissen als Erwerbsprozess und nicht als Besitz würde die Integration des Wissens der Zivilgesellschaft in die Verkehrspolitik ermöglichen. Aufgrund der derzeitigen Strukturen und der verbreiteten Haltung in der Verwaltung werden Beiträge aus der Zivilgesellschaft wie das Radverkehrsnetz als ‚falsche Art' von Expertise abgelehnt. Dies erklärt auch die defensive und ausschließende Haltung gegenüber Gremien wie dem FahrRat. Mit einer neuen Haltung könnten diese Beiträge und Formate als Ressourcen angesehen werden. Denn wenn die Zivilgesellschaft in der Lage ist, einen Gesetzesentwurf zu schreiben, der die wichtigsten Elemente für ein fortschrittliches und zeitgemäßes Fahrrad-bzw (Schwedes et al. 2018) . Das zu versäumen, wäre ein fatales Signal an die Bürger*innen, die sich engagierten, an rechtliche Vorgaben hielten und sich demokratischer Institutionen und Verfahren bedienten. Unveröffentlichtes Manuskript Regulatory reform, accountability and blame in public service delivery: the public transport crisis in Berlin Berlin braucht eine leistungsstarke Verwaltung: Abschlussbericht der Steuerungsgruppe zur Verbesserung der gesamtstädtischen Verwaltungssteuerung Perspektiven zur Bergmannstraße als Ergebnisse aus den Werkstätten vom 13. und 15 Umweltbewusstsein in Deutschland 2018: Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage Cycling in Berlin. Theory vs. Reality, 2016. Zugriff am 1. Juli 2020 Berlin in Bewegung Bringen: Auf dem Weg zur Mobilitätsstadt nummer eins in Europa Verbände schenken Senat fertiges Radnetz Changing Cities. 2020 Zugriff am 24 Understanding and Measuring Bicycling Behavior: a Focus on Travel Time and Route Choice Four Types of Cyclists? 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Zugriff am 24 Deutschlands erstes Radverkehrs-und Mobilitätsgesetz wird morgen dank Volksentscheidsinitiative und drei Jahren Engagement beschlossen Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. 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