key: cord-0061154-6ipdmcjs authors: Wehler, Markus; Kalch, Anja; Bilandzic, Helena; Händl, Thomas title: Gesundheitskompetenz und Notfallverhalten date: 2021-03-25 journal: Notf Rett Med DOI: 10.1007/s10049-021-00859-z sha: 3d86239a0378ba69047ad560516b277b99bf8600 doc_id: 61154 cord_uid: 6ipdmcjs BACKGROUND: The number of patients with nonurgent health conditions using emergency departments (ED) is growing steadily. It is unclear however whether this is associated with limited health literacy of patients. OBJECTIVES: This study aims to explore the health literacy of patients with nonurgent conditions in an ED, compare it with the health literacy of the general population and identify relationships between health literacy and patients’ views on emergency care. MATERIALS AND METHODS: A total of 448 patients with nonurgent conditions participated in a cross-sectional survey in the ED of a German university hospital. RESULTS: The study shows that health literacy of nonurgent emergency patients is significantly lower than the health literacy of the German population. Patients with lower levels of health literacy perceive higher treatment urgency, are significantly less informed about treatment options other than the ED and are more likely to visit the ED or the outpatient walk-in practice for a second opinion after having seen their general practitioner. CONCLUSION: The results indicate a need for action to improve health literacy in Germany. In particular, current structural changes in emergency care in Germany have to be considered. Die Notaufnahmen in Deutschland waren jahrzehntelang mit einem stetig wachsenden Patientenaufkommen konfrontiert, im Besonderen von Patienten, die im medizinischen Sinne nicht als akuter Notfall gelten [18, 20, 21] . Vorliegende Studien aus Patientenperspektive zeigen bereits, dass neben Terminaspekten bei Haus-oder Fachärzten und zeitlicher Flexibilität vor allem die in der Notaufnahme erwartete qualitativ höherwertige und multidisziplinäre Versorgung als Motiv genannt wird, ebenso wie Unsicherheit und Angst über den eigenen Gesundheitszustand [18, 20, 21, 23] . Die Coronapandemie hat diesen Trend im Bereich der Selbsteinweisungen durch Patienten mit niedriger Behandlungsdringlichkeit umgekehrt [2, 10, 14, 24, 27] . Viele Patienten verzichten derzeit eher auf eine Selbsteinweisung in der Notaufnahme aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus oder möglichen Versorgungsengpässen [14] . Ängste und Unsicherheiten über die eigene Gesundheit scheinen damit in beiden Entwicklungen eine relevante Rolle für das Notfallverhalten bei Patienten mit nichtdringlichem Versorgungsbedarf einzunehmen. Da wenig Zweifel daran besteht, dass nach dem Ende der Coronapandemie wieder mit einem Zuwachs nichtdringlicher Patienten zu rechnen ist [10, 13] , erscheint eine genauere Untersuchung, die über die Nennung von Motiven hinausgeht, dringend erforderlich. Dies gilt umso mehr, da die geplante Strukturreform durch die Coronapandemie vorerst gebremst ist [3] . Die vorliegende Studie analysiert dazu die GK von Patienten mit nichtdringlichem Behandlungsbedarf. Die GK steht generell im Zusammenhang mit einer Vielzahl gesundheitlicher Parameter [12] . Eine Analyse der GK von Notaufnahmepatienten existiert bisher jedoch nur für den angloamerikanischen Raum. Dort zeigt sich eine häufigere Nutzung von Notaufnahmen durch Patienten mit niedriger GK und einem gleichzeitig geringeren Zugang zu Hausärzten [1, 5] . Allerdings kann diese Evidenz aufgrund der strukturellen Unterschiede des Gesundheitswesens nicht direkt auf Deutschland übertragen werden. Ziel der vorliegenden Studie ist deshalb die Erfassung der GK von Notaufnahmepatienten in Deutschland, ein Vergleich zur Verteilung der GK in der allgemeinen Bevölkerung [9, 16] Die GK wurde mit der deutschen Version der HLS-EU-Q16-Kurzskala [15] erfasst, die in dieser Form auch für die deutsche Bevölkerungsstudie [9] verwendet wurde. Die 16 Items erfassten die subjektive Schwierigkeit, mit gesundheitsspezifischen Anforderungen umzugehen (4-stufige Skala von "sehr schwierig" bis "sehr einfach"). Die Einteilung der GK-Stufen erfolgte nach dem in der Literatur empfohlenen Verfahren [15] : Die Items wurden dichotomisiert ("sehr einfach" und "ziemlich einfach" = 1, "ziemlich schwierig" und "sehr schwierig" = 0) und anschließend in einem Summenscore zusammengefasst. Ein Score zwischen 13 und 16 wurde als ausreichende GK kategorisiert, von 9 bis 12 als problematische GK und von 1 bis 8 als inadäquate GK [9, 15] . Als soziodemografische Faktoren wurden Alter, Geschlecht, Bildung und Migrationshintergrund erfasst. Das Alter wurde in drei Altersgruppen zusammengefasst (junge Patienten: 18 bis 39 Jahre, Patienten mittleren Alters: 40 bis 59 Jahre, ältere Patienten: 60 Jahre und älter; [9] ). Die Bildung wurde mit der International-Standard-Classification-of-Education-1997-Skala (ISCED-97) erhoben und kategorisiert [9, 22] . Ein Migrationshintergrund wurde erfasst, wenn der Patient selbst oder die El- Ressourcenverbrauch · Notaufnahme · Patienten mit nichtdringlichem Behandlungsbedarf · Querschnittsbefragung · Motive Health literacy and nonurgent emergency department visits Abstract Background. The number of patients with nonurgent health conditions using emergency departments (ED) is growing steadily. It is unclear however whether this is associated with limited health literacy of patients. Objectives. This study aims to explore the health literacy of patients with nonurgent conditions in an ED, compare it with the health literacy of the general population and identify relationships between health literacy and patients' views on emergency care. Materials and methods. A total of 448 patients with nonurgent conditions participated in a cross-sectional survey in the ED of a German university hospital. Results. The study shows that health literacy of nonurgent emergency patients is significantly lower than the health literacy of the German population. Patients with lower levels of health literacy perceive higher treatment urgency, are significantly less informed about treatment options other than the ED and are more likely to visit the ED or the outpatient walk-in practice for a second opinion after having seen their general practitioner. The results indicate a need for action to improve health literacy in Germany. In particular, current structural changes in emergency care in Germany have to be considered. Ressource utilisation · Emergency department · Patients with nonurgent conditions · Cross-sectional survey · Motivations tern des Patienten nicht in Deutschland geboren wurden [16] . Um die Einweisung der Patienten zu erfassen, wurde erfragt, wie die Patienten in die Klinik gekommen sind (1 = "Notarzt und Rettungswa-gen", 2 = "formale Einweisung des eigenen Arztes in die Klinik, nach direkter vorhergehender Untersuchung", 3 = "Selbsteinweisung nach telefonischem Kontakt mit Praxis", 4 = "Selbsteinweisung ohne Arztkontakt"). Die Die subjektive Behandlungsdringlichkeit wurde mit der Frage "Wie dringend schätzen Sie ihren Behandlungsbedarf selbst ein?" ermittelt (5-stufige Antwortskala: 0 = "nicht dringlich", 1 = "weniger dringlich", 2 = "dringlich", 3 = "sehr dringlich", 4 = "akut"). Zur Erfassung der hausärztlichen Versorgung wurden die Patienten gebeten anzugeben, ob sie einen Hausarzt haben (1 = "ja", 0 = "nein") und ob sie kurz zuvor schon bei diesem (oder einem anderen niedergelassenen Arzt) in Behandlung waren (1 = "ja", 0 = "nein"). Die Variable Beschwerdedauer unterscheidet akute Beschwerden (1 = "bis zu 24 h") von länger andauernden Beschwerden (0 = "länger als 24 h"). Zur Erfassung der Motive wurden die Patienten gebeten, die genauen Gründe anzugeben, "wieso Sie heute in die Notaufnahme bzw. Kassenärztliche Bereitschaftspraxis gekommen sind". Den Befragten wurden eine Liste aus elf Motiven sowie eine offene Antwortkategorie für sonstige Motive vorgelegt (. Tab. 1; [7] ). Es waren Mehrfachantworten möglich. Für den Vergleich der GK-Level in der Gesamtpopulation und der Notfallpatienten wurde ein χ 2 -Unabhängigkeitstest auf Basis der publizierten Häufigkei-ten der Kurzskala berechnet [9] . Zur Überprüfung eines Zusammenhangs zwischen dem GK-Level und soziodemografischen Merkmalen wurden Kreuztabellen sowie weitere χ 2 -Unabhängigkeitstests berechnet. Zur Analyse des Zusammenhangs von GK und subjektiver Behandlungsdringlichkeit diente eine ANCOVA. Für den Zusammenhang von GK mit dem Einbezug der hausärztlichen Versorgung, der Symptomdauer sowie den Motivationen, die ZNA aufzusuchen, wurden logistische Regressionen gerechnet. Von den 448 befragten Patienten haben 415 den deutschsprachigen Fragebogen ausgefüllt, 19 den russischsprachigen Fragebogen und 14 den türkischsprachigen Fragebogen. Es wurden 334 Patienten im Wartebereich der ZNA und 114 Patienten im Wartebereich der KVB-Praxis befragt. Die Mehrheit der Patienten ist selbstständig oder mit Angehörigen in die Klinik gekommen (n = 252, 56,3 %), 114 Patienten gaben an, über eine formale Einweisung des eigenen Arztes zu verfügen (n = 114, 25,4 %), 36 Personen (8 %) gaben einen telefonischen Verweis an das Klinikum an und nur 13 Befragte (2,9 %) gaben an, mit dem Rettungsdienst gebracht worden zu sein, 33 Personen haben dazu keine Angabe gemacht (7,4 %). Das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 37,15 Jahren (SD = 16,42). Zur Verteilung der Soziodemografie siehe . Tab. 2. Der Vergleich der GK-Level zeigt, dass die GK der Notfallpatienten insgesamt schlechter ausgeprägt ist als in der Gesamtpopulation, χ 2 (2) = 85,70, p < 0,001, Cramers V = 0,13. Dies zeigt sich auch, wenn man nur die Gruppe der selbsteingewiesenen Patienten im Vergleich zur Gesamtpopulation betrachtet, χ 2 (2) = 68,14, p < 0,001, Cramers V = 0,11 (. Abb. 1). Es liegen keine signifikanten Unterschiede der GK-Levels in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund oder der Bildung der Patienten vor (. Tab Die vorliegende Analyse zeigt erstmals einen Zusammenhang zwischen der GK von Patienten, dem Aufsuchen einer Notfallversorgung sowie gesundheitsbezogenen Parametern in Deutschland. Vergleichbar mit den Ergebnissen aus USamerikanischen Notaufnahmen [1, 5] ha-ben auch die Patienten in der betrachteten deutschen ZNA sowie der benachbarten KVB-Praxis eine niedrigere GK als die Gesamtbevölkerung. Auch wenn die Zusammenhänge mit gesundheitsbezogenen Faktoren aufgrund der begrenzten Fallzahlen vorsichtig interpretiert werden müssen, weisen sie auf einen zweifachen Einfluss der GK hin: Einerseits zeigt sich, dass Patienten mit niedriger GK ihren eigenen Versorgungsbedarfdringlichereinschätzen;andererseits scheint es ihnen schwerer zu fallen, sich in dem komplexen deutschen Gesundheitssystem zu orientieren [11] und alternative Versorgungsmöglichkeiten zur Notfallversorgung zu finden. Dies spricht grundsätzlich für die geplanten strukturellen Änderungen der Notfallversorgung. In Zukunft sollen integrierte Notfallzentren die Patienten in die adäquate Versorgungsebene lenken [11] . Dies entlastet nicht nur die Versorgungssysteme, sondern verringert auch die Entscheidungskomplexität der Patienten. Aus Sicht der Patienten stellt dies jedoch gleichzeitig auch eine Einschränkung der individuellen Entscheidungsfreiheit dar. Eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass diese strukturelle Änderung von den Patienten, insbesondere Patienten mit niedriger GK, akzeptiert wird, ist die Bereitstellung umfassender und vor allem passgenauer Informationen zu den strukturellen Veränderungen und der Einbezug der Patienten in eine informierte Entscheidungsfindung. In einem zweiten Schritt ist eine entsprechende Förderung der GK anzustreben. Eine aktuelle Studie konnte zeigen, dass eine dreijährige webbasierte Informationsund Schulungsmaßnahme zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz die Inanspruchnahme der Notaufnahme, die Hospitalisierungsrate wie auch die Gesundheitskosten pro Kopf relevant senken konnte [4] . Die Stichprobe weist im Hinblick auf das Alter, den Bildungsstand und den Migrationsanteil leichte Abweichungen zur Gesamtbevölkerung in Deutschland auf. Vor allem der Anteil jüngerer Personen ist in der Stichprobe erhöht [25] . Das Alter steht jedoch weder hier noch in der Gesamtbevölkerung in Abhängigkeit zur GK [9] . Die Stichprobe weist zudem weniger niedrig gebildete Personen auf [26] . Diese spezifische Zusammensetzung der Stichprobe kann eine mögliche Ursache dafür sein, dass sich im Gegensatz zur Gesamtbevölkerung [9] kein Unterschied in Abhängigkeit vom Bildungstand zeigt. Allerdings finden auch andere Studien keinen [16] oder nur sehr schwache Zusammenhänge zwischen GK und Bildung [8] . Sowohl beim Alter als auch bei der Bildung ist zu berücksichtigen, dass die Tablet-gestützte Durchführung und die Befragungssituation in der ZNA möglicherweise ältere oder auch niedrig gebildete Patienten von der Teilnahme abgeschreckt haben. Die Vergleichbarkeit mit den Daten der Gesamtbevölkerung wird zudem dadurch beschränkt, dass sich die Befragten hier in einer Notfallsituation befanden, wodurch eine andere Interpretation der GK-Items möglich ist. Politische Maßnahmen als Reaktion auf die steigenden Patientenzahlen in deutschen Notaufnahmen fokussieren strukturelle Veränderungen primär aus klinisch-ökonomischer Perspektive. Eine patientenorientierte Sicht wird dabei kaum eingenommen. Dabei erscheint es vor allem notwendig, die GK als rele- Primary care experiences of emergency department patients with limited health literacy Inanspruchnahme deutscher Notaufnahmen während der COVID-19-Pandemie -der Notaufnahme-Situationsreport (SitRep) Reform der Notfallversorgung Reduced hospitalizations, emergency room visits, and costs associated with a web-based health literacy, aligned-incentive intervention: mixed methods study Is low health literacy associated with increased emergency department utilization and recidivism? Emergency Severity Index. Deutsche Übersetzung eines validen Triageinstruments Inanspruchnahme von Notfallambulanzen in Berlin in den Jahren Comparative report of health literacy in eight EU member states. The European Health Literacy Survey HLS-EU 2012 Gesundheitskompetenz von Erwachsenen in Deutschland Early lessons from COVID-19 that may reduce future emergency department crowding Die Zukunft der Notfallversorgung in Deutschland Health literacy and adherence to medical treatment in chronic and acute illness: a meta-analysis Emergency departments must not return to pre-covid days of overcrowding and lack of safety, says college Notaufnahme während der Corona-Pandemie: WenigerNon-COVID-19-Notfälle Die Gesundheitskompetenz der 15-jährigen Jugendlichen in Österreich Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz. Die Gesundheitskompetenz in Deutschland stärken Querschnittstudie zur subjektiv empfundenen Behandlungsdringlichkeit und zu den Motiven die Notfallambulanzen von Krankenhäusern aufzusuchen Patient motives behind low-acuity visits to the emergency department in Germany: a qualitative study comparing urban and rural sites Inanspruchnahme zentraler Notaufnahmen: Qualitative Erhebung der Motivation von Patientinnen und Patienten mit nichtdringlichem Behandlungsbedarf Die Umsetzung der Bildungsskala ISCED-1997 für die Volkszählung 1970, die Mikrozensus-Zusatzerhebung 1971 und die Mikrozensen 1976-2004. ZUMA-Methodenbericht. ZUMA, Mannheim 23 Medical emergencies during the COVID-19 pandemic Bevölkerung im Alter von 15 Jahren und mehr nach allgemeinen und beruflichen Bildungsabschlüssen nach Jahren Bildungsstand/Tabellen/bildungsabschluss.html. Zugegriffen: 21 Patientenzahlen im Rahmen der COVID-19-Pandemie in einer zentralen Notaufnahme Abb. 2 9 Geschätzte Randmittel und Standardfehler der subjektiven Behandlungsdringlichkeit in Abhängigkeit vom GK-Level der Notfallpatienten (n = 382); F(2, 374) = 8,45, p < 0,001, η 2 part = 0,043 vanten Faktor für das Notfallverhalten und die gesundheitliche Wahrnehmung der Patienten zu fördern, um einen patientenseitigen Einbezug in informierte Entscheidungsprozesse zur medizinischen Versorgung gewährleisten zu können. Dies steht im Einklang mit der im Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz formulierten Zielsetzung, die Teilhabe aller Bürger durch eine systematische und bundesweite Förderung der GK zu stärken und bestehende Ungleichheiten zu verringern [17] . Orientierung können vorhandene Leitlinien und Materialsammlungen zur Förderung der GK bieten [19] , die um notaufnahmespezifische Aspekte zu ergänzen sind.