key: cord-0063191-d5sqf9qp authors: Jochimsen, Beate title: Digitalisierung für Gesundheit — ökonomische Aspekte des Gutachtens des SVR Gesundheit date: 2021-05-17 journal: Wirtschaftsdienst DOI: 10.1007/s10273-021-2916-3 sha: 15381cd3b60b6a3c1940d5118abe9ae56b7b109f doc_id: 63191 cord_uid: d5sqf9qp When it comes to digitalising healthcare, Germany lags way behind other countries. In its 2021 report, the Health System Advisory Council discusses a strategy to overcome this shortcoming, i. e. the digitalisation of the German healthcare system. The idea is to shape digitalisation in a way that healthcare provision is improved with patients’ well-being in mind. Therefore, market failures in digital health markets have to be addressed as well as the chances and challenges that come with the usage of large amounts of data. Furthermore, this article highlights the potential of the electronic health record (EHR) and of the digital health app market and discusses requirements for reaching environmental and social sustainability within the context of the digitalisation of health. Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens keinen Spitzenplatz ein. Verbesserungsbedarf gibt es insbesondere bei informationstechnischen, organisatorischen und rechtlichen Aspekten in Bezug auf eine effi ziente Versorgung sowie eine fl ächendeckende Implementierung des medizinischen Fortschritts. Ein Grund mag in der komplexen Struktur des deutschen Gesundheitswesens liegen. Das Prinzip der Selbstverwaltung, die Vielzahl der Träger stationärer und ambulanter Leistungen sowie der Föderalismus sorgen für eine Verfl echtung der Verantwortlichkeiten, die oftmals nur schwer zu durchschauen ist und Innovationen, z. B. den Markteintritt digitaler Produkte, erschweren kann. Ein weiterer Grund liegt in der starken Regulierung dieses Bereichs, die sich zum einen aus verschiedenen Marktversagenstatbeständen ableitet, zum anderen aus einem derzeit sehr rigiden Verständnis von Datenschutz. Da das Ziel einer jeglichen Maßnahme oder Neuerung im Gesundheitswesen stets das Patientenwohl ist, muss sich auch die Digitalisierung im Gesundheitswesen an diesem Maßstab messen lassen. Die Corona-Krise verdeutlicht, dass ihr eine Schlüsselrolle beim Erhalt des Patientenwohls, also beim optimalen Schutz von Leben und Gesundheit, zukommt. Beispiele hierfür wären Patientenwohlsteigerungen aufgrund einer Realtime-Erfassung der gesamten und freien Intensivbetten und Beatmungsplätze in Krankenhäusern, die Beschleunigung der Meldewege von Infektionsnachweisen und Genesungen an Gesundheitsämter und an das Robert Koch-Institut, die Ermittlung des Mobilitätsniveaus der Bevölkerung mit anonymisierten Mobiltelefondaten oder die Entwicklung und Nutzung einer leistungsfähigeren Corona-Warn-App (SVR Gesundheit, 2021, Z 46 Deutschland -solidarisch fi nanzierten Gesundheitssystem, kann es geboten sein, seine (unter starken Schutzgarantien pseudonymisiert auswertbaren) Gesundheitsdaten, etwa für kostenintensive Krebsbehandlungen, zur wissenschaftlichen Auswertung zur Verfügung zu stellen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen meint: Daten teilen, heißt besser heilen. Der Gesundheitsmarkt ist kein vollkommener Markt. Infolge des Konsums von Gesundheitsleistungen entstehen externe Effekte. Beispielsweise schützt eine SARS-CoV-2-Schutzimpung nicht nur den Impfl ing vor einer Erkrankung, sondern vermindert auch das Ansteckungsrisiko anderer. Es handelt sich somit um einen positiven externen Effekt. Darüber hinaus bestehen Informationsasymmetrien zwischen Angehörigen von Gesundheitsberufen und Patient:innen sowie zwischen beiden Gruppen und den Krankenversicherungen. Ferner erfolgt häufi g eine Unterschätzung des Umfangs künftiger Erkrankungen, das Konsumentenverhalten ist also zeit inkonsistent (Oberender und Zerth, 2010) . Schließlich herrscht auf Gesundheitsmärkten keine vollkommene Information. Transparenz von Qualität und Preisen ist vielfach nur rudimentär oder gar nicht vorhanden (Breyer, Zweifel und Kifman, 2013) . Die Marktversagenstatbestände führen zu einer starken Regulierung des Gesundheitsmarkts und damit häufi g zu einem Hemmnis bei der Implementierung innovativer digitaler Produkte in der Versorgung. Um die Potenziale der Digitalisierung in der Versorgung nutzen zu können, sollten "Innovationsoffenheit und die Bereitschaft zur regulatorischen Nachsteuerung" die leitenden Prinzipien sein (SVR Wirtschaft, 2018). Betrachtet man nicht den gesamten Gesundheitsmarkt, sondern spezielle Produkte, nämlich digitale Gesundheitsprodukte, weisen diese weitere Merkmale auf, die ein Marktversagen begründen können. Bei Entwicklung und Erstproduktion fallen häufi g hohe Fixkosten an, bei Reproduktion und Vertrieb hingegen nur geringe, gegen null tendierende, variable Kosten (Urbach, 2017 (Urbach, 2017) . Ende 2020 gab es in den großen App Stores "Google Play" und "App Store" gut 90.000 Apps mit Gesundheitsbezug (Statista 2020a (Statista , 2020b . Trotz dieses reichhaltigen Angebots und großen Nutzenpotenzials sind sie bisher kaum in den ersten Gesundheitsmarkt, d. h. in den Erstattungsprozess der Gesetzlichen Krankenkassen, integriert. Auch im zweiten Gesundheitsmarkt, der alle privat fi nanzierten Gesundheitsprodukte und -dienstleistungen umfasst, spielen Gesundheits-Apps bisher keine große Rolle. In Deutschland nutzen sie lediglich 26 % der Bevölkerung regelmäßig (SVR Gesundheit, 2021, Z 323 Angebot von Produktbündeln, aber auch zur Weiterverarbeitung personenspezifi scher Daten als zusätzlicher Einnahmequelle kommen (Urbach, 2017) . Im ersten Gesundheitsmarkt besteht die Herausforderung darin, Preise zu fi nden, die einerseits das solidarisch fi nanzierte Gesundheitssystem nicht überfordern und andererseits für den Anbieter ausreichende Anreize bieten, in die Entwicklung und Verbesserung von Di-Ga zu investieren. Derzeit gibt es neben einem festen Stückpreis die Möglichkeit, erfolgsabhängige Preisbestandteile zu gewähren ( § 134 Abs. 1 Satz 3 SGB V). Bei einer App zum Selbstmanagement bei einer chronischen Erkrankung könnten diese z. B. anhand der regelmäßigen Verwendung der App und damit der steigenden Wahrscheinlichkeit auf einen Therapieerfolg bemessen werden. Die fehlende Interoperabilität innerhalb und zwischen Betriebssystemen und der damit einhergehende potenzielle Lock-in-Effekt sind derzeit fester Bestandteil des Geschäftsmodells der großen Internetplattformen bei DiGa. Solange der Vertrieb von Apps über die beiden großen Plattformen erfolgt, können diese ihre ohnehin vorhandene Marktmacht durch ihre Torwächter-und Regelsetzungsfunktion weiter ausbauen. Es gilt, den Wettbewerb in diesem Bereich zu sichern. Mit der Möglichkeit, hinsichtlich technischer Qualität gesicherte Gesundheits-Apps direkt über das Nationale Gesundheitsportal herunterladen zu können, wäre ein erster Schritt in diese Richtung getan (SVR Gesundheit, 2021, Z 158). Wie viele lebensrettende Hinweise hätten digital verfügbare Datensätze von Patient:innen in der Corona-Pandemie geben können? Wenn ein Abgleich potenzieller Risikofaktoren wie Übergewicht, Blutgruppe oder Vorerkrankungen digital und zeitnah möglich gewesen wäre? Wie viel besser hätte die medizinische Betreuung von Patient:innen mit COVID-19 sein können, wenn telemedizinische Unterstützung fl ächendeckend möglich gewesen wäre? Wie viel kontaktärmer und damit pandemieabschwächender wäre dies zudem gewesen? (SVR Gesundheit, 2021, Z 45). Eine elementare Form der ePa gibt es erst seit Januar 2021. Deshalb lagen diese Daten weder beim Ausbruch der Corona-Pandemie vor, noch liegen sie jetzt vor. Bei der momentan vorgesehenen Gestaltung der ePa werden sie auch noch lange nicht, vermutlich nie, vorliegen. Bei einer ePa kann durch den zeitnahen und ortsunabhängigen Zugang zu strukturierten und konsistenten medizinischen Informationen eine bedarfsgerechte Versorgung erfolgen. Der SVR Gesundheit empfi ehlt, eine ePa für jede Person mit Geburt oder Zuzug einzurichten und damit zugleich den Zugriff auf ePa-Daten für behandelnde Leistungserbringer zu ermöglichen. Jeder Person soll freistehen, der Einrichtung oder dieser Art von Zugriff zu widersprechen (Opt-out-Verfahren). Dies ist ein im internationalen Vergleich übliches Verfahren (vgl. Tabelle 1). Zudem sollte der oder die Versicherte entscheiden können, einzelne Inhalte der ePa für einzelne Leistungserbringer zu "verschatten", sie also nicht zugänglich zu machen (SVR Gesundheit, 2021, Z 293). Für den Erfolg der ePa in Deutschland wird von entscheidender Bedeutung sein, wie viele Personen sie nutzen. Nur bei einer hinreichend großen Zahl von Nutzer:innen lohnen sich zum einen Investitionen der Leistungserbringer in eine leistungsstarke Internetverbindung (z. B. um Röntgenbilder in der ePa abrufen zu können) sowie in sichere und effi ziente Hard-und Software. Zum anderen werden sie nur dann routiniert mit der ePa umgehen. Die in Deutschland derzeit vorgesehene ePa erfordert separate und wiederholte Zustimmungen für Einrichtung, Zugriff zur Befüllung bzw. zur Einsichtnahme sowie für die Nutzung der Daten zu Forschungszwecken (mehrfaches Opt-in-Verfahren). Zu befürchten ist, dass aufgrund dieses großen und wiederholt auftretenden Aufwands, die Chancen und Potenziale der ePa von zu wenigen genutzt werden (SVR Gesundheit, 2021, Z 294). Die Gesundheitsausgaben in Deutschland betrugen 2018 rund 12 % des Bruttoinlandsprodukts (391 Mrd. Euro), wovon jedoch nur 2 % (7 Mrd. Euro) auf Investitionen (auch für Digitalisierung) entfi elen (Destatis, 2020a) . Knapp 60 % der Ausgaben trug die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), 13 % die privaten Haushalte und private Organisationen ohne Erwerbszweck, gefolgt von der Pfl egeversicherung mit 10 % und der Privaten Krankenversicherung mit 8,5 %. Auf die öffentlichen Haushalte entfi elen 4 % der Ausgaben (Destatis, 2020b) . Die fi nanziellen Auswirkungen der Digitalisierung im Gesundheitswesen sind derzeit praktisch nicht abschätzbar. Digitalisierung führt erst einmal zu hohen zusätzlichen Ausgaben in Infrastruktur und Kompetenzaneignung, später zu Einsparungen z. B. infolge wegfallender Doppeluntersuchungen und zielgerichteter Behandlung. Inwiefern die zusätzlichen Ausgaben die zu erwartenden Einsparungen übersteigen ist offen. Im regulierten deutschen Gesundheitssystem werden Investitionen in Digitalisierungsprojekte sowie die Finanzierung der laufenden Kosten von informationstechnischen Systemen zum Großteil mit den bestehenden Finanzierungsinstrumenten getätigt. Dazu zählen die Beitragsmittel der GKV, Steuermittel von Bund und Ländern (teilweise kofi nanziert durch die EU) sowie Investitionen Privater im stationären und ambulanten Bereich (SVR Gesundheit, 2021, Z 145) . Mit dem Krankenhauszukunftsfonds stellt der Bund beispielsweise für 2021 bis 2023 insgesamt 3 Mrd. Euro zur Verfügung, die explizit für die Förderung der digitalen Ausstattung der Krankenhäuser vorgesehen sind und mit zusätzlich 1,3 Mrd. Euro von den Ländern kofi nanziert wer-den sollen. Die GKV fi nanziert etwa einen Teil der Digitalisierung im ambulanten Bereich durch pauschale Erstattungsbeträge für Hardwareinvestitionen und Softwareleistungen. Ebenso wenig wie die insgesamt durch die GKV zu tragenden Kosten der Digitalisierung im Gesundheitswesen sind die gesamtwirtschaftlichen Kosten derselben abzuschätzen. Fragen nach Kosten-Nutzen-Abwägungen/ Analysen vor Einführung bestimmter digitaler Elemente werden de facto nicht gestellt. Gerade aufgrund dieser komplexen Gemengelage ist es wichtig, eine effi ziente, anreizkonforme und transparente Finanzierung sicherzustellen. Bei der Finanzierung im stationären Sektor sollte darauf geachtet werden, die Digitalisierung zu fördern, ohne dabei ineffi ziente Krankenhausstrukturen zu festigen. Das kann geschehen, indem die z. B. durch den Krankenhauszukunftsfonds fi nanzierten Investitionen an Strukturveränderungen geknüpft werden. Langfristig bietet sich eine Übernahme der Investitionskosten im Digitalisierungsbereich in die Regelfi nanzierung an, vorzugsweise parallel zu einem Übergang zu einer monistischen Krankenhausfi nanzierung (SVR Gesundheit, 2018). Für eine effektive Digitalisierung des Gesundheitswesens ist eine vermehrte Datenerzeugung und -speicherung unabdingbar. Damit geht ein erhöhter Strombedarf zum Betrieb einer größeren Zahl technischer Geräte einher, der -je nach Energieerzeugungsmethode -zu einem vermehrten Schadstoffausstoß führen kann. Ferner wird es einen gesteigerten Bedarf an Rohstoffen wie Lithium oder Seltenen Erden geben, der eine Übernutzung dieser sowie Gesund-heitsschäden beim Abbau verursachen kann. Standards für menschenwürdige Arbeitsbedingungen entlang der Lieferkette sowie für Energieeffi zienz, Recyclingvorgaben und Langlebigkeitsanreize für Produkte können politische Maßnahmen sein, um dem Ziel der ökologischen Nachhaltigkeit näherzukommen. Sofern sich diese Maßnahmen nicht kostenneutral umsetzen lassen, müssten höhere Kosten in Kauf genommen werden (SVR Gesundheit, 2021, Z 159 Die Digitalisierung kann die Gesundheitsversorgung verbessern und das Patientenwohl steigern. Um diese Ziele zu erreichen, müssen die notwendigen infrastrukturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu zählen unter anderem der Ausbau des Glasfasernetzes, die zeitnahe Implementierung der nötigen Hard-und Software (z. B. bei der Telematik), eine verbindliche und international anschlussfähige Inter operabilität (z. B. bei der ePa) sowie die Sicherung des Wettbewerbs trotz der Besonderheiten des Gesundheitsmarkts und der -produkte. Mit der Digitalisierung geht die Generierung von Daten einher, deren verantwortungsvolle Auswertung zu Forschungszwecken den Nutzen der heutigen und künftigen Patient:innen steigern kann. Um die Bereitschaft der Menschen, ihre Daten zu Forschungszwecken zur Verfügung zu stellen, und ihr Vertrauen beispielsweise in die ePa zu steigern, müssen höchste Anforderungen an Daten-und Informationssicherheit sämtlicher digitaler Technologien im Gesundheitswesen gelten. Statt Datenschutz sollte somit Datensicherheit zur Norm werden. Im Sinne einer sozialen Nachhaltigkeit gilt es, Ungleichheit aufgrund sozioökonomischer Charakteristika zu mindern. Dafür ist die Förderung der digitalen Gesundheitskompetenz der gesamten Bevölkerung ebenso notwendig wie die gezielte Unterstützung benachteiligter sozialer Gruppen. Schließlich fordert der SVR Gesundheit, die Digitalisierung des Gesundheitswesens in eine umfassende Nachhaltigkeitsstrategie einzubetten (SVR Gesundheit 2021, Z 30). Towards an equitable digital public health era: promoting equity through a health literacy perspective Gesundheitsökonomik, Springer Gabler Digital Divide -Soziale Unterschiede in der Nutzung digitaler Gesundheitsangebote Gesundheitsausgaben nach Einrichtungen Gesundheitsausgaben nach Ausgabenträgern Digitales pricing Ein neuer Wettbewerbsrahmen für die Digitalwirtschaft Wachstumsmarkt Gesundheit, 3. Aufl Absatz von Smartphones weltweit vom 1. Quartal 2009 bis zum 2. Quartal 2020 nach Betriebssystem Anteil der Computernutzer* in Deutschland in verschiedenen Altersgruppen von Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen) (2021), Digitalisierung für Gesundheit, Gutachten 2021 Vor wichtigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen Betriebswirtschaftliche Besonderheiten digitaler Güter