key: cord-0064281-hxethdlw authors: Faulhaber, Alexandra; Ribler, Angelika title: … damit sie uns nicht verloren gehen!: Der Sport und die Kinderrechte während der Pandemie date: 2021-06-10 journal: Forum Kind Jugend Sport DOI: 10.1007/s43594-021-00028-7 sha: e8b0d6f3243ccd65f8efe0953272ba31ac25ba2d doc_id: 64281 cord_uid: hxethdlw nan Seit November 2020 befindet sich Deutschland wieder im Lockdown. Für viele Kinder und Jugendliche ist die Situation besonders belastend. Die Pandemie und deren Folgen betreffen alle Menschen auf die eine oder andere Weise; je nach Lebenssituation in sehr unterschiedlicher Intensität. Aus verschiedenen Gründen erfordert die Situation von Kindern und Jugendlichen einen spezifischen Blick: Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene in Transitionsphasen gehören zu den vulnerablen Gruppen. Emotionale und räumliche Ablösungsprozesse -der Auszug aus dem Elternhaus, einen Ausbildungsplatz oder ein Studium aufnehmen, Reisen -werden in der aktuellen Situation genauso verzögert oder verhindert wie andere zentrale Entwicklungsstufen des Erwachsenwerdens: eine*n Partner*in finden, Verantwortung im Beruf übernehmen und finanziell unabhängig werden. Bei kleineren Kindern hängt das Wohlbefinden stark von der familiären Situation ab. Kinder, die zu Hause Raum und Ruhe haben für Spiel und Lernen, einen Garten nutzen können und deren Familien keine existentiellen Ängste haben, kommen tendenziell gut durch die Krise. Sie genießen es teil-weise sogar, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen (Langmeyer et al. 2020) . Die Situation in weniger gut gestellten Familien wird dagegen verschärft. Das Schließen von Schulen, Kinderbetreuungseinrichtungen und Beratungsstellen bedeutet für viele Kinder nicht nur, dass soziale Kontakte, Schulbildung und Bewegungsangebote wegfallen, sondern oft auch das warme Mittagessen und Platz zum Spielen (Andresen et al. 2021) . In der aktuellen Lage kommt dem Sport eine noch bedeutsamere Rolle zu als in "normalen" Zeiten. Gesundheit ist das dominierende Thema, seitdem das Virus SARS-CoV-2 sich weltweit ausbreitet und schwere Erkrankungen und Todesfälle zur Folge hat. Für die Aufrechterhaltung der Gesundheit ist Bewegung von zentraler Bedeutung. Neben den direkten positiven Auswirkungen auf den Körper verbinden viele Menschen Sport mit Gemeinschaftsgefühl, Freundschaften, Vereinstätigkeit, Sinn und Freude -Sportvereine sind Orte des sozialen Miteinanders. Als Wissenschaftler*innen des Forschungsverbundes der Universitäten Hildesheim und Frankfurt am Main im November 2020 im Rahmen der JuCo-II-Studie über 7000 Jugendliche zu ihren Erfahrungen während der Corona-Maßnahmen befragten, gaben nur noch 8,4 % von ihnen an, regelmäßig an Sportangeboten teilzunehmen (Andresen et al. 2021 Das übergeordnete Prinzip der UN-Kinderrechtskonvention ist der Kindeswohlvorbehalt -"best interest of the child". Das Wohl des Kindes ist bei allen Maßnahmen, die es betreffen, vorrangig zu berücksichtigen. Ergebnisse aus den bereits erwähnten beiden großen "Online-Befragungen zu Erfahrungen und Per-Forum Kinder-und Jugendsport Abb. 1 8 In der Grube. Online-Befragungen zeigen, dass sich Kinder und Jugendliche während der Pandemie nicht gehört fühlen. Foto: LSB NRW/Andrea Bowinkelmann spektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen" (JuCo I und JuCo II) zeigen, dass sich Kinder und Jugendliche während der Pandemie nicht gehört fühlen (. Abb. 1). Schon im Mai 2020 ergab die erste Befragung von über 5000 Jugendlichen, dass diese ihre vielfältigen Lebenswelten und Perspektiven bei den Maßnahmen nicht berücksichtigt sehen (Andresen et al. 2020a ). In der Folgebefragung im November 2020 gaben fast 65 % der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, dass sie eher nicht oder gar nicht das Gefühl haben, dass die Sorgen junger Menschen in der Politik gehört werden (Andresen et al. 2020b) . Eine Freitextantwort (Online-Fragebogen) aus der ersten JuCo-Studie im Mai 2020 offenbart einige Herausforderungen und Probleme im vereinsgebundenen Sport in Zeiten der Krise: "Ich habe das Gefühl das meine Ängste nicht verstanden werden. Mir fehlt ein Plan wie es für mich und meine Wünsche wei-tergeht. Ich bin Schwimmer und möchte das wieder tun. Alle reden aber nur vom bezahlten Sport, nicht wie es uns geht die wir aus Idealen das tun aber auch von großartigen Wettkämpfen träumen. Wer schreibt darüber das alle Titelkämpfe im Schwimmen ausfallen oder verschoben wurden? Das wir nicht trainieren können ohne Wasser?" (Andresen et al. 2020a) . Junge Menschen können aktuell ihren Interessen und Hobbys nicht nachgehen; nicht tun, was ihnen gut tut. In unsicheren oder ängstlichen Zeiten fehlt das Gewohnte besonders. Außerdem wird die Diskrepanz zwischen Breitenund Spitzensport sichtbar. Während in einigen Sportarten die professionellen Wettbewerbe bereits wieder stattfinden, bleibt dem Großteil der Breitensportler*innen das aktive Trainieren untersagt. Kinder und Jugendliche leiden unter der fehlenden Bewegung genauso wie unter dem Fehlen von Spaß und Spiel unter Gleichaltrigen. Sportvereine sind dabei viel mehr als Anbieter von Trai-ningsmöglichkeiten. In Vereinen und Trainingsgruppen wird gesellschaftliches Miteinander gelebt. Hier finden Aushandlungsprozesse und Anerkennung statt. Sportvereine sind Orte der Teilhabe unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und soziale Initiativenund damit auch Orte der Demokratie und ein sozialer Nahraum. In Sportvereinen wird demokratisches Handeln eingeübt. Kinder und Jugendliche lernen, Verantwortung zu übernehmen, die Interessen vielfältiger Menschen wahrzunehmen und Kompromisse einzugehen. Fairness, Respekt, Solidarität, Gemeinschaft sind Werte des Sports, die das Handeln in Sportvereinen leiten. Die zahlreichen ehrenamtlich Engagierten wirken dabei über den Verein hinaus -der Sport ist ein Spiegelbild der Gesellschaft und der Sportverein ein aktiver Teil der Stadt oder des Dorfs, in dem er sich befindet. Diese demokratischen und sozialen Dimensionen können digital am Laptop oder Han-dy nur begrenzt vermittelt und gelebt werden. Zentrale Bereiche der Kinderrechte sind im Satzungszweck vieler Sportvereine bereits verankert. Übungsleiter*innen und Engagierte stärken Inklusion, Integration, Beteiligung, Gleichberechtigung qua Ausübung ihrer Tätigkeit. Die Verknüpfung mit den Kinderrechten ist dabei nicht immer offensichtlich. Die Sportjugend Hessen sieht ihre Aufgabe darin, den Bezug zu den Kinderrechten herauszuarbeiten und hierdurch die Haltung von Sportvereinen zu stärken. Wissen über die Kinderrechte wird unter anderem in Fortbildungen und Workshops für Sportvereine, Fachverbandsund Sportkreisjugenden vermittelt, außerdem sind die Inhalte in Weiterbildungen für Übungs-und Jugendleiter*innen eingeflossen. Genauso wichtig ist es, die Um-und Übersetzung in den Sportalltag zu begleiten. Dies ist voraussetzungsvoll. In vielen Sportvereinen gibt es historisch gewachsene Strukturen, zum Beispiel auf Vorstandsebene oder bei der Organisation von Gremien und Veranstaltungen, die ohne Beteiligung von Kindern und Jugendlichen beibehalten werden. Teilweise besteht eine Unsicherheit bei den Verantwortlichen, wie viele Aufgaben und (Entscheidungs-)Räume Kindern und Jugendlichen zugemutet werden können. Deren Überforderung und auch die Überforderung des Ehrenamts allgemein werden befürchtet. Dabei geht es nicht darum, dass Kinder und Jugendliche alles entscheiden sollen oder bestehende Strukturen und Prozesse in Sportvereinen und -verbänden komplett umgeplant werden müssen. Die Umsetzung der Kinderrechtecharta mit der Prämisse des Kindeswohlvorbehalts bedeutet jedoch, die Perspektive von Kindern und Jugendlichen in allen sie betreffenden Belangen angemessen zu berücksichtigen. Die Sportjugend Hessen hat sich in den vergangenen Jahren und vor allem auch während der Corona-Pandemie dafür stark gemacht, Kinder und Jugendliche wieder in Bewegung zu bringen und sie an den Maßnahmen teilhaben zu lassen, die ihren (Sport-)Alltag prägen. Im Folgenden stellen wir zwei Beispiele aus der Praxis vor. Die Sportjugend Hessen hat zwei Befragungen zum Thema "Kinder-und Jugendsport in Zeiten von Corona" durchgeführt. Während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 lag der Fokus der Befragung von Vereinsvertreter*innen (n = 40) auf der Umsetzung des Wiedereinstiegs in den Sportbetrieb. Hier wurde deutlich, dass vor allem Kindern unter zehn Jahren nicht zugetraut wurde, die jeweils geltenden Hygieneregeln einzuhalten und sie deshalb bei der Wiederaufnahme des Sportbetriebs am längsten unberücksichtigt blieben. Auch nannten Vorstandsvertreter*innen als Grund für die Nicht-Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen, dass man die sich ständig ändernden Vorschriften umzusetzen habe und dies Vorstandsangelegenheit sei. Teilweise wurden Übungsleiter*innen und Trainer*innen in die Umsetzung der Entscheidungen der Vorstände miteinbezogen. . 2) . O-Töne: "Weil so lange Pause war"; "Online ist es blöd"; "Man verliert die Lust, weil das Training nur 1 mal pro Monat ist". Ein weiterer Fokus lag auf dem Thema der Beteiligung von Kindern und Jugend-lichen. Auf die Frage "Gibt es in eurem Verein Ideen, Kinder und Jugendliche in Zukunft in Entscheidungsfindungsprozesse vermehrt einzubinden?" antworteten 44 % der Freiwilligendienstleistenden mit "Ja" und nannten folgende Beispiele: "Ein neues Jugendkonzept -Kinder vermehrt einbinden"; "Teammeetings in allen Altersstufen"; "Trainingseinheiten werden von Kindern mitgestaltet"; "Angestrebte Modernisierung und Professionalisierung des Vereins, u. a. durch eine Mitgliederbefragung". Jugendliche gaben hier sehr unterschiedliche Antworten. 29 % antworteten auf die Frage "Wirst du bei Diskussionen und Entscheidungen deines Vereins während der Corona-Pandemie beteiligt?" mit "Ja", 12 % gaben an, dies nicht zu wollen (um diese Aussagen zu interpretieren, bedarf es weiterer Befragungen. Eine mögliche Lesart besteht darin, dass sich manche Jugendliche unter der Frage nicht vorstellen können, was mit Beteiligung gemeint ist und sie zum Beispiel denken, dass sie nun das Trainingskonzept selbst erstellen sollen, so die Rückmeldung eines Handballmädchenteams). Jugendliche werden bei der Sammlung von digitalen Trainingsideen durch die Trainer*innen einbezogen beziehungsweise werden die Trainingseinheiten auch direkt durch Jugendliche angeleitet. Kinder hatten im Gruppengespräch viele kreative Ideen für die Zukunft, zum Beispiel "Grillen" oder "Gemeinsam Übernachten auf Sportgelände". Die Trainer*innen zeigten sich in dem Gruppengespräch überrascht, welche Wirkung Fragen nach den Wünschen der Kinder haben können und reflektierten darüber, dass sie die Kinder über Weihnachten im zweiten Lockdown aus den Augen verloren hätten. Auf die Frage "Hat sich bei dir etwas verändert, was die Bedeutung des Sports für dich persönlich angeht?" gab es einige aufschlussreiche Antworten: "Mit Sport geht es mir viel besser"; "Ich schätze es viel mehr"; "Ich merke, wie wichtig mir derSport im Alltag ist"; "Mirfehlt derGemeinschaftssport"; "Mir fehlt der Sport sehr, die Bewegung. So konnte ich dem Stress der Schule entfliehen." Gute Aktionen, um Mitglieder -vor allem Kinder und Jugendliche -zu binden und ihnen Aufmerksamkeit zu geben, waren und sind sportliche Wettbewerbe, die über digitale Medien organisiert werden: Es wurde eine Vielzahl an kreativen Ideen geschaffen, von denen in den Gesprächsrunden begeistert berichtet wurde. Ein Beispiel: die "3 × 5 Challenge" (5 km Laufen, 5 € spenden, 5 weitere Personen für die Challenge motivieren). Das Geld wurde an ein Altersheim im Ort gespendet. Auch andere soziale Projekte trugen dazu bei, denZusammenhaltim Vereinzu stärken, zum Beispiel digitale Weihnachtsfeiern oder ein "Online-Adventskalender mit sportlichen Challenges". Die bisherigen Ergebnisse aus den Befragungen der Sportjugend Hessen bestätigen viele Ergebnisse aktueller Jugendstudien wie der JuCo II von November 2020: "Junge Menschen erfahren in Bildung und Freizeit sehr starke Einschränkungen. Viele Jugendliche erleben in Zeiten der Pandemie eine große psychische Belastung -Ausgleichsmöglichkeiten fehlen hingegen (. . . ). Auch weiterhin fühlen sich viele junge Menschen mit ihren Sorgen nicht gehört. Sie geben an, so gut wie gar nicht an den Aushandlungs-und Entscheidungsprozessen über die Gestaltung der Infektionsschutzmaßnahmen und ihrer zeitweiligen Lockerungen beteiligt worden zu sein" (Universität Hildesheim 2020). Ein weiteres Praxisbeispiel, um die Kinderrechte im und durch den Sport sichtbarer zu machen und umzusetzen, ist der "Lauf für Kinderrechte Hessen 2020" (www.makista.de/lauf-fuerkinderrechte-hessen-2020 DerVorstand derDeutschenSportjugend wählte für das Jahr 2021 in Anlehnung an das Zitat des Fußballers Alfred "Adi" Preißler das Schwerpunktthema "Grau is alle Pandemie -Entscheidend is aufm Platz: Kinder und Jugendliche wieder in Bewegung bringen!" Der "Lauf für Kinderrechte Hessen" zeigt anschaulich, wie das gehen kann: Über tausend kleine und große Sportler*innen laufen für die gute Sache und handeln dabei verantwortlich. Das SARS-CoV-2 Virus ist auch nach über einem Jahr mit harten Einschränkungen noch nicht unter Kontrolle und erfordert weiterhin ein hohes Maß an gesellschaftlicher Anstrengung und Solidarität. Rücksichtsvoll miteinander umzugehen muss aber nicht gleichbedeutend sein mit Vereinzelung und Isolation. Mit Umsicht, Kreativität, guten Hygienekon-zepten und Organisation ist es möglich, Sportzutreiben,inkleinenGruppenoder virtuell miteinander verbunden. Sport ist ein zentraler Schlüssel, um einigen negativen Folgen der aktuellen Situation entgegenzuwirken. Neben dem Bewegungsmangel sind auch der Rückzug ins Private und das Gefühl, der Situation ausgeliefert und alleine zu sein, Gift für die Gesellschaft und jede*n Einzelne*n. Dabei sind Kinder und Jugendliche Teil der Lösung und nicht des Problems. Um besonders vulnerable Gruppen wie ältere Menschen zu schützen, wird von jungen Menschen erwartet, dass sie sich regelkonform verhalten und ihre sozialen Bedürfnisse unterordnen. Die Ergebnisse von JuCo II zeigen, dass die Mehrzahl der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen der politischen Prioritätensetzung in hohem Maße zustimmthinsichtlich der Akzeptanz gegenüber den Maßnahmen gibt es keinen Gene-rationenkonflikt (Andresen et al. 2021 , S. 10 f). Gleichzeitig ist der Anteil an Kindern und Jugendlichen, die sich übergangen und nicht beteiligt fühlen, eklatant. Beide Phänomene zusammen betrachtet -die Erwartung an junge Menschen, sich unterzuordnen, und das Ignorieren ihrer Perspektiven und Lebensrealitäten -birgt Zündstoff. Vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeigen sich schon jetzt große Ängste und vermehrt Perspektivlosigkeit (Andresen et al. 2021 Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie JuCo Die Corona-Pandemie hat mir wertvolle Zeit genommen Das Leben von jungen Menschen in der Corona-Pandemie. Erfahrungen, Sorgen, Bedarfe. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung Corona sorgt für schrumpfende Sportvereine Kind sein in Zeiten von Corona. Ergebnisbericht zur Situation von Kindern während des Lockdowns im Frühjahr 2020 Angst vor der Zukunft -Jugendalltag 2020: Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie