key: cord-0064791-1h0u0tfy authors: Hüther, Michael; Vogel, Markus title: Souveränität und Verantwortung im Mehrebenensystem: Subsidiarität als Leitmotiv? date: 2021-06-22 journal: Wirtschaftsdienst DOI: 10.1007/s10273-021-2940-3 sha: 98b038d5f6fdae7a5ff0df3834e06726d00e4f65 doc_id: 64791 cord_uid: 1h0u0tfy In the German political debate, the principle of subsidiarity plays an important role in the acceptance of the European multilevel system. In such a system, there is a collision of historically diverging, systematically inconsistent and qualitatively different needs. This combination demands an “active subsidiarity” and a “subsidiarity routine” in order to dynamically shape the heterogeneous EU. This way, we may find a balance between the needs of the citizens (acceptancy), the EU institutions (efficiency) as well as of the different levels of decision making and acting (reason for being). Above all, subsidiarity must start at home, it can be strengthened in the EU if it does not erode in the member states. This challenge has been regularly neglected til now. Die Rede ist vom EU-Richtlinienentwurf für angemessene Mindestlöhne (Europäische Kommission, 2020a), die zu einem Kernvorhaben der Kommissionspräsidentin von der Leyen zählt und im Fokus ihrer Wahl im Juli 2019 stand. Unabhängig von der Befürwortung bestimmter politischer Maßnahmen muss es bei der rechtlichen und organisatorischen Verfasstheit der Europäischen Union (EU) eine Rolle spielen, wer was und wie regeln darf. Wenn die Wächter der Subsidiarität ihrer Aufgabe nicht nachkommen (wollen), verpufft jeder Ruf nach aktiver Subsidiarität. Es wächst das Risiko, dass die Bürger:innen ohne Orientierung zurückbleiben. Das ist nicht ohne Gefahr, vor allem in Zeiten, die als unübersichtlicher denn je wahrgenommen werden. Die EU hat allen Befürchtungen zum Trotz immer noch hohe Zustimmungswerte in der Bevölkerung. Unvermindert hoch ist aber der Druck, sich neben der Überwindung der Pandemie den drängenden Zukunftsthemen -wie Sicherheit, Migration, Digitalisierung, Innovation, Rechtsstaatlichkeit sowie Klimawandel -zuzuwenden. Besondere Erwartungen an weiterführende Impulse liegen auf der geplanten Zukunftskonferenz, die -über zwei Jahre -einen interinstitutionellen Dialog über die Zukunft der EU unter Einbeziehung der Bürger:innen vorsieht. Nachdem der Europatag 2020 coronabedingt abgesagt werden musste, ist auch unter Prof. Dr. Michael Hüther ist Direktor des IW in Köln und Honorarprofessor an der European Business School. Europaabteilung der Hessischen Staatskanzlei. deutscher EU-Ratspräsidentschaft trotz aller Versprechungen kein Start erfolgt. Das Thema Subsidiarität und Verantwortung ist jedenfalls aktuell, sodass -auch wenn sich die EU-Institutionen nicht mehr dazu geäußert haben -damit zu rechnen ist, dass das Thema von den Bürger:innen in der Debatte eingefordert wird. Das Subsidiaritätsprinzip hat in der deutschen Diskussion eine besondere Bedeutung. Aus der katholischen Soziallehre und dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts stammend hat es seine Wirkung vor allem als Orientierung für die Verantwortungsteilung zwischen Selbstverantwortung und subsidiärer kollektiver Unterstützung entfaltet. Eine (staatliche) Aufgabe soll so weit wie möglich von der unteren Ebene bzw. der kleineren Einheit wahrgenommen werden; zentrale Begriffe sind Selbsthilfe und Selbstorganisation, notwendiger staatlicher Schutz sowie familiäre und genossenschaftliche Solidarität. Über den sozialpolitischen Diskurs und die Debatte über die Verantwortung im föderalen System ist der Grundsatz der Subsidiarität schließlich in die ökonomische Diskussion gelangt, auch als Ordnungsidee für die soziale Marktwirtschaft. Theoretisch referenziert dieser Grundsatz auf die räumlichen Allokationswirkungen unterschiedlicher Güterkategorien, um Verzerrungen durch Überlagerungen, Interdependenzen, Haftungsunklarheiten zu vermeiden und einen angemessenen Konnex zu den Finanzierungsentscheidungen sicherzustellen. Ebenso bezieht sich das Subsidiaritätsprinzip juristisch auf das Verhältnis der föderalen Ebenen und hat so seinen Weg in die europäischen Verträge gefunden, zunächst in der Einheitlichen Europäischen Akte 1987 für den Bereich der Umweltpolitik, dann mit dem Maastrichter Vertrag 1992 als generelle Norm für die EU. Mit dem Lissaboner Vertrag 2009 wurde den nationalen Parlamenten zugewiesen, über die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu wachen; ihnen wurde somit eine Präventivkontrolle mittels Subsidiaritätsrüge sowie eine nachträgliche Klarstellung durch den Europäischen Gerichtshof mittels Subsidiaritätsklage eröffnet (Parlament der Republik Österreich, 2008 Das Subsidiaritätsprinzip in Artikel 5 Abs. 3 EUV unterscheidet in der Frage, wer für die Ausübung einer Kompetenz zuständig ist, nur zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsebene. Dass aber "die Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nicht nur die Mitgliedstaaten betreffen, sondern auch deren Gebietskörperschaften, soweit diese nach nationalem Verfassungsrecht eigene gesetzgeberische Befugnisse besitzen", hat die -vom Amsterdamer Gipfel zur Kenntnis genommene -"Erklärung Deutschlands, Österreichs und Belgiens zur Subsidiarität" zum Ausdruck gebracht (Landtagspräsidentenkonferenz, 2017) . Die wichtigste Option ist hier die Erhebung einer Subsidiaritätsrüge mitsamt begründeter Stellungnahme durch die nationalen Parlamente. Sie haben damit ein formales Recht, im europäischen Gesetzgebungsprozess zu einem frühen Zeitpunkt zu rügen, wenn die EU eine Materie regeln will, die nach ihrer Auffassung ausreichend auf mitgliedstaatlicher Ebene geregelt werden kann. Zwar mangelt es nicht an Subsidiaritätsrügen, 2 doch wurde das notwendige Quorum erst in drei Fällen 3 überschritten. Die Handhabung der Subsidiaritätsrüge ist in der Praxis durch unterschiedliche Rechtsauffassungen und politische Präferenzen geprägt. Kompliziert wird die Situation dadurch, dass unter den nationalen Parlamenten keine einheitliche Auffassung darüber herrscht, wie weit die Subsidiaritätsrüge gehen kann: Ist diese streng juristisch auf die Rüge eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip beschränkt oder umfasst sie auch Verstöße gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie gegen das Prinzip begrenzter Einzelermächtigung (weiter politischer Subsidiaritätsbegriff) 4 ? Jedenfalls bleibt das Thema Subsidiarität -wie es die Rüge im Mindestlohnfall erkennen lässt -bedeutsam in der eu-Analysen und Berichte Subsidiarität ropapolitischen Befassung der nationalen Parlamente, insbesondere beim Bundesrat (Deutscher Bundesrat, 2019) . In dem Mehrebenensystem EU kollidieren historisch divergierende, systematisch inkonsistente und qualitativ unterschiedliche Bedürfnisse, die auszugleichen sind. So besteht die Herausforderung, ein differenziertes und gleichzeitig demokratisches Mehrebenensystem zu gestalten. Während die Erwartungen an die völkerrechtliche Funktion des Subsidiaritätsprinzips mit präventivem Schutz der unteren Ebenen nicht erfüllt werden konnten (Hatje und Schwarze, 2019, 185) und die juristische Orientierung zwischen Verfassungsrecht sowie Völkerrecht zu leichtfertig einen Transfer mit Effektivitätshoffnung nahegelegt hat, eröffnet der ökonomische Diskurs mit der Theorie der Allmende eine interessante Orientierung. Die Theorie der Allmende (Hardin, 1968 ) bezieht sich auf ein Gut, bei dem der Konsum rivalisiert, aber ein Ausschluss von Nichtzahlenden unmöglich ist und es deshalb zur Übernutzung kommt (Ausbeutung freier Ressourcen). Der Staat ist deshalb gefordert, Nutzungsordnungen zu erlassen. Öffentlicher Raum, Öffentlichkeit und Sozialkapital können als Allmendegut gedeutet werden, indem man deren Bewirtschaftung durch mehrere staatliche Ebenen als Konkurrenz um die Wählerpräferenzen deutet, der es infolge der Komplexität an Transparenz fehlt. Das führt zu einem Koordinierungsversagen und dazu, dass die Wahlbürger:innen -quasi die Ressourcen der Allmende "öffentlicher Raum" -zunehmend indifferent werden; sie werden "übernutzt", und das Vertrauen in die staatlichen Institutionen droht zu schwinden. Dies entspricht im Grundsatz der Erosion von Allmendegütern. Die grundsätzliche Dynamik des Mehrebenensystems darf zudem nicht übersehen werden. Insofern richtet sich die Orientierungssuche nicht auf einmalige, quasi defi nitive Systemlösungen, sondern auf Gestaltungsprinzipien, die den Ausgleich der verschiedenen historischen Pfade und systematischen Perspektiven unter sich wandelnden Bedingungen möglich machen. Folgende Orientierungen (Designprinzipien) lassen sich im Analogieschluss zum Allmendephänomen ableiten (Ostrom, 1990 (Ostrom, , 1999 (3) Subsidiaritäts-und Verhältnismäßigkeitsprüfung, (4) Einbindung nationaler Parlamente, (5) koordinierter legislativer Prozess, (6) Umsetzung, (7) Evaluation. In der aktuellen Debatte um die Zukunft der EU müssen diese Perspektiven auf Subsidiarität sowie auf Strukturen und Verantwortlichkeiten im europäischen Mehrebenensystem in den Fokus rücken. Es sollte nicht nur um die Auswahl von politischen Schwerpunkten anhand von "europäischen Zukunftsthemen" gehen, sondern vor allem um Überlegungen zu Aufgabenverortungen im Mehrebenen system. Hierbei wird eine große Rolle spielen, welcher Spieler bzw. welche Institution was vorschlägt. Speziell sollten die politischen Akteure die ihnen zugedachte Rolle und Stellung im Mehrebenensystem kennen. Aus der ökonomischen Theorie der Bürokratie lassen sich grundlegende Zweifel ableiten, ob die Europäische Kommission (EK) überhaupt die geeignete Instanz ist, über die Subsidiarität einer Maßnahme zu befi nden. "Bürokraten wird -wie in der ökonomischen Theorie der Politik üblich -Maximierung ihres Eigennutzens unterstellt; an der Erreichung der offi ziellen Ziele der Organisation sind sie nicht direkt interessiert" (Frey, 1980, 663) . Bürokrat:innen orientieren sich somit an Zielen wie "Macht, Prestige, Sicherheit und Einkommen". Nach Niskanen wollen Bürokraten ihr Budget maximieren; Williamson zufolge nutzen Bürokraten einen diskretionären Spielraum aus, da sie nur unvollständig von Regierung und Wählern kontrolliert werden können (Frey, 1980, 664) . So dürfte die EK eher an "mehr" als an "weniger Integration" interessiert sein und insofern auch dem Subsidiaritätsprinzip weniger Bedeutung zuzusprechen geneigt sein als der Europäische Rat und natürlich der Ausschuss der Regionen. Das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 EUV und seine Kontrolle Subsidiäres Krisenmanagement in der Corona-Pandemie: Bundesrepublikanisches Erfolgsmodell und grenzübergreifende Perspektiven, Groupe d'études géopolitiques (B).pdf;jsessionid=E7FE0EEC189EF152336CFD9BE4C5F455 Vorschlag für eine Richtliche des Europäischen Parlamentes und des Rates über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, COM(2020) 682 fi nal Communication from The Commission to the European Parliament and the Council Shaping the Conference on the Future of Europe Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Januar 2020 zum Standpunkt des Europäischen Parlaments zur Konferenz über die Zukunft Europas, P9_TA(2020)0010 Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW) The tragedy of the commons Der Zusammenhalt der Europäischen Union Souveränität und Verantwortung im Mehr ebenensystem: Föderalismus als Orientierung für eine zukunftsfähige EU? Brüsseler Erklärung der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen und österreichischen Landesparlamente und des Südtiroler Landtags unter Beteiligung des Parlaments der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens anlässlich der 2. Europa-Konferenz am 26. und 27 Es gibt keine europäische Identität, Frankfurter Allgemeine Zeitung Territorium und Mitgliedschaftsraum der EU. Ein genuin europäisches Spaltungsstrukturmuster? Governing the commons: The evolution of institutions for collective action Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit Die Macht der Parlamente: Funktionen und Leistungsprofi le nationaler Volksvertretungen in den alten Demokratien der Welt Report of the Task Force on Subsidiarity, Proportionality and