key: cord-0069024-hh0ovnit authors: Behr, Irmtraud; Liedtke, Frank title: Krise im öffentlichen Raum: Formen und Funktionen kleiner Kommunikationsformate zu Covid 19 date: 2021-10-28 journal: Z Literaturwiss Linguistik DOI: 10.1007/s41244-021-00213-3 sha: abc926f21509af42ac87d49a2df8e6a9fe41e438 doc_id: 69024 cord_uid: hh0ovnit In our contribution, we first make fundamental considerations on the medial constitution of the Covid 19 crisis as well as on the concept of crisis itself. Subsequently, an extensive corpus of notices and other communiqués from four European countries – France, Germany, Austria and Sweden – is analysed under the aspect of their materiality, mediality and locality as well as the respective discursive functions. From a temporal perspective, three phases of the use of communicates in the pandemic are assumed. From a fundamental perspective, we then look at the property of areality, which is characteristic of public communicates of the type studied. Areality is understood as the range or scope of the communicates with their specific conditions of reception and compliance. The hypothesis we are pursuing is that a typology of the communicates can be established under the aspect of their areality, thus enabling deeper insights into their social and communicative functions. Niveau von 2015 übertrifft, dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms mit 14.303 Token (s. Abb. 1). Ein Reflex dieser Entwicklung ist ein Beschluss der Gesellschaft für Deutsche Sprache: Am 30. November wählte sie das Wort Corona-Pandemie zum Wort des Jahres, das in Wortbildungen auch mit dem Kompositum ›-krise‹ vorkommt. In ihrer Begründung führt sie Folgendes aus: Als Wort des Jahres steht Corona-Pandemie nicht nur für die nach Einschätzung der Bundeskanzlerin ebenso wie vieler Fachleute schwerste Krise seit dem 2. Weltkrieg, sondern sprachlich auch für eine Vielzahl neuer Wortbildungen (Coronavirus, -krise, -zahlen, -jahr, Corona-Demo, -Hotspot, -Warn-App, coronabedingt, -geplagt ...) . https://gfds.de/wort-des-jahres-2020-1; abgerufen am 25.02.2021 Angesichts der Präsenz des Krisenbegriffs im öffentlichen Sprachgebrauch sind die Krisenleugner mittlerweile ins Hintertreffen geraten, was eine Erklärung für ihre wachsende Radikalisierung sein mag. Indessen scheint es weniger klar zu sein, wovon man genau spricht, wenn von Krise die Rede ist. Was sind die ihr zugeschriebenen, charakteristischen Eigenschaften, wie lassen sie sich von nicht-krisenhaften Verläufen potenzieller Krisenereignisse unterscheiden? Diese Grundsatzfrage soll am Beginn der folgenden Ausführungen stehen. Der Aspekt der öffentlichen Kommunikation, wie sie sich unter anderem in öffentlichen Aushängen und anderen Kommunikationsformaten spiegelt, bildet im Anschluss daran die zentrale Fragestellung, die in diesem Beitrag behandelt werden soll. Um der Vielfalt dieser Formate gerecht zu werden, verwenden wir den Begriff des Kommunikats als zusammenfassende Bezeichnung für Aushänge, Aufkleber, gesprayte Markierungen, elektronische Anzeigetafeln und Aufsteller. Leitend für den hier vorgestellten Ansatz sind zwei Annahmen, für die anhand des präsentierten Materials argumentiert werden soll: Indem die untersuchten Kommunikate sich auf Teilphänomene der Krise beziehen, konstituieren sie diese sprachlichdiskursiv in entscheidender Weise mit. Diese konstitutive Funktion soll anhand der Materialität, der Medialität und der Lokalität der Corona-Kommunikate nachgewiesen werden. Die Kommunikate haben dabei nicht nur informative Funktion, sondern offenkundig aufgrund ihres vorschreibenden Charakters auch regulative Funktion; schließlich sind, vor allem zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020, Kommunikate mit expressiver Funktion häufig. Die zweite hier zu begründende Annahme bezieht sich auf den Stellenwert dessen, was wir die Arealität der Kommunikate nennen. Der spezifische Ort der Kommunikate, die jeweilige Reichweite ihrer Botschaften, sowie die areale Beziehung zwischen den Kommunikaten und den Rezipient*innen, von denen teilweise ein sehr spezifisches und auf den Moment der Lektüre bezogenes Verhalten erfordert wird, spielen eine entscheidende Rolle bei der Beschreibung der Funktionsweise der Kommunikate. Konstitutive Funktion und Arealität sind somit zentrale Eigenschaften der untersuchten Kommunikate, wobei es sicher lohnend wäre, diese Eigenschaften auch in anderen Fällen öffentlicher Kommunikation mittels kurzer Formate zu untersuchen. Unsere Überlegungen stützen sich auf Beobachtungen in Deutschland, Frankreich, Österreich und Schweden zwischen März 2020 und März 2021. Die Kommunikate sind fotografisch dokumentiert, datiert und lokalisiert. 1 Die sprunghaft angestiegenen Zahlen von Zeitungsmeldungen, wie sie sich in der Zahl der gemessenen Token des Wortes Krise für das Jahr 2020 spiegeln, aber auch öffentliche Aushänge, die vielfältigen Ver-und Gebote, die medial weit verbreiteten Aufrufe und motivierenden Durchhalteappelle sind Teil dessen, was als eine diskursiv-sprachliche Fassung und damit auch eine gesellschaftliche Konzeptualisierung der Krise gelten kann. Öffentliche Kommunikationsformate und ihre Erscheinungsformen beziehen sich auf einzelne Aspekte der krisenhaften Ereignisse, und sie sind gleichzeitig selbst Teil der Krise -ja der ›unsichtbare Feind‹ des Infektionsgeschehens wird durch diese zum Teil erst sichtbar gemacht. Eine Zeitungsmeldung, dass die Zahl der Infektionen wieder gestiegen ist, oder auch ein Aushang an einer Schaufensterscheibe, dass dieses bestimmte Geschäft aufgrund der Corona-Krise geschlossen ist, informieren über die Entwicklung der Pandemie oder über die Schließung des Geschäfts, wobei offenkundig der Bericht oder die Information nicht nur von der Krise oder ihren Folgen handelt, sondern sie auch mitkonstituiert. Zunächst jedoch zum Grundsätzlichen: Wovon sprechen wir, wenn wir von Krise sprechen? Ursprünglich als ein Zeitpunkt im Krankheitsverlauf verstanden, an dem sich der gute oder schlechte Ausgang ihrer Entwicklung entscheidet, hat sich der Begriff aus dem medizinischen Kontext herausentwickelt und wurde entscheidend verallgemeinert. Krise wird als ein Herausfallen aus einer Normalität oder einer Routine gefasst, wobei dieses Herausfallen Risiken in sich birgt, aber auch Möglichkeiten der Innovation und der Weiterentwicklung. Für den Soziologen Ulrich Oevermann ist das Spannungsverhältnis von Krise und Routine entscheidend, wobei sich in bestimmten gesellschaftlichen oder historischen Konstellationen entscheidet, »ob etwas als Krise thematisch ist oder in einer Routine für gültig gehalten wird« (Oevermann 2006, S. 85) . In einer wissenssoziologischen Sicht geht Oevermann von der Struktur einer Proposition aus, die einen Referenzausdruck X und ein Prädikat P enthält und in Gänze somit ›X ist P‹ ergibt. Das individuelle X wird dann in einem Erkenntnisakt dem allgemeinen P zugewiesen. Dies heißt für das Verhältnis von Krise und Routine: »Die Realität der ›X.e‹, also die Wirklichkeit, steht zugleich für die Krise, und die Realität des Begriffs-Allgemeinen, der Prädikate, für die Routine« (ebd., S. 91). Sobald ein Gegenstand auftaucht, der noch nicht einem Allgemeinen zugeordnet werden kann, ergibt sich eine für die Erkenntnis krisenhafte Situati-1 Die Auswahl der Länder lässt sich auf Aufenthalte der Verf. in dem fraglichen Zeitraum der Jahre 2020-2021 zurückführen. S. auch Androutsopoulos 2020, der In der Perspektive der kritischen Diskursanalyse hebt David Römer den schon angesprochenen konstitutiven Aspekt der medialen Krisenkommunikation hervor, indem er festhält: »Eine Krise erhält ihre spezifische Qualität allerdings erst, wenn sie diskursiv-sprachlich repräsentiert wird« (Römer 2020, S. 233 (Auer 2010, S. 275) . Vor dem Hintergrund der Überlegungen zu Routine und Krise können wir ergänzen, dass die Relevanz für öffentlichen Schriftgebrauch durch den potenziell krisenhaften Charakter der Situationen entsteht, die noch interpretationsbedürftig sind. In dieser Sichtweise geben die coronaspezifischen Aushänge auch eine Orientierung für die Rezipient*innen, wie sie sich an prekären Orten verhalten sollten oder müssen (oder nicht dürfen). Die Form der kleinen Kommunikationsformate ist durch diese Funktion bestimmt, denn sie sind stark auf den Lektürekontext zugeschnitten. Anders wäre ihre kurze und in vielen Fällen elliptische Gestalt nicht zu erklären. Für Heiko Hausendorf kommt der Textcharakter der Kommunikate »vor allem aus dem Ausschöpfen der Lektüresituation (kraft sinnlicher Wahrnehmung) und des Lektürekontextes (kraft erworbenen Wissens) zustande« (Hausendorf 2009, S. 8 Auffallend ist hier zunächst die Verblosigkeit des rot gehaltenen Haupttextes (b), der die eigentliche Handlung nicht benennt, sondern als selbstverständlich voraussetzt. Dies entspricht der empraktischen Zeichenverwendung bei Bühler (1934, §10,2) . Benannt wird nur die Art und Weise, wie das Betreten der Postfiliale erfolgen sollte, wobei diejenigen, zwischen denen der Abstand gehalten werden soll, auch nicht erwähnt werden. Zusätzlich wird der Inhalt der Bitte noch einmal bildhaft in einer Art Sprechblase (a) konkretisiert, wobei die Personen mit dem entsprechenden Abstand von 1,5 Metern ikonisch abgebildet sind. Im fortlaufenden Text (c) wird die ergangene Bitte begründet mit einem für viele Aushänge typischen Motiv, demjenigen des kollektiven Guts. Indem darauf hingewiesen wird, dass die Abstandsregel ›uns alle‹ schützt, wird an die Solidarität jedes Einzelnen appelliert gegenüber der Gemeinschaft, deren Teil er/sie ist. Wir können mit Auer festhalten, dass das routinehafte Betreten einer Postfiliale durch die Erfordernis durchkreuzt wird, dies in einer bestimmten Weise mit einer bestimmten Art der Gesichtsbedeckung zu tun -was nach Oevermann und Bosch ein krisenhaftes Moment im Alltagshandeln darstellt. Mit Hausendorf können wir das Plakat eingewoben sehen in eine bestimmte Lektüresituation -das Betreten einer Filiale -mit einem spezifischen Hintergrundwissender Coronapandemie, was beides die elliptische Form des Aushangs erklären kann. Die solidaritätsmarkierende Funktion der Wendung ›uns alle‹ hat dabei zweifellos die Funktion, Zustimmung zu den verhängten Maßnahmen zu erzeugen und gemeinschaftliches Handeln zu erreichen (s. hierzu Spieß 2020, S. 206). Sie findet sich in dieser oder in einer ähnlichen Form, unter Verwendung von Ausdrücken wie ›zu-sammen‹, ›gemeinsam‹ oder auch ›Sie und Ich‹, auf vielen Aushängen wieder. 5 Mit ihnen wird auf eine Akzeptanz abgezielt, die ein eigenverantwortliches Verhalten voraussetzt, was natürlich eine bessere Grundlage für ihre Befolgung darstellt als einfache Ver-/Gebote mit der Androhung von Sanktionen. Dies kann auch als Versuch gelten, die mehr oder minder abstrakte, kollektive Ebene (der Eindämmung der Virusverbreitung durch ›Abflachen‹ der Infektionskurve) und die individuelle Ebene des einzelnen Verhaltens besser miteinander zu vereinbaren (s. hierzu Liedtke 2020). Unter dem Aspekt der formalen Gestaltung lassen sich verschiedene Klassen von Kommunikaten bilden. Hier ist zunächst der Gesichtspunkt der Materialität leitend: Sind die Kommunikate als vorgedruckte, gesetzte und anspruchsvoll gestaltete Aus- der regulativen Kommunikate sind improvisiert oder professionell, permanent oder zeitlich begrenzt -was zählt, ist, dass der Leser sie an den relevanten Orten zu relevanten Zeitpunkten lesen kann. Die Corona-Kommunikate erfüllen verschiedene Funktionen, die in unserer Untersuchung im Vordergrund stehen. Die Kommunikate werden sowohl von Privatpersonen, von gemeinnützigen Organisationen und von Geschäftsinhabern als auch von verschiedenen Institutionen verfasst (öffentliche und private Transportunternehmen, Verwaltung, Bildungseinrichtungen etc.), daneben gibt es auch anonyme Verfasser. Expressive Elemente in Corona-Kommunikaten dienen dazu, den eigenen Emotionen angesichts der auferlegten Restriktionen oder der gesundheitlichen Situation Ausdruck zu geben. Die Palette umfasst sowohl positive als auch negative Einschätzungen und Emotionen, wie z.B. DANKBARKEIT gegenüber den Pflegekräften und systemrelevanten Arbeiter*innen: (01) Merci à nos soignants et à tous ceux en 1ère ligne (handgeschriebenes Plakat, Paris, Juni 2020) 9 ›Dank an unsere Pflegekräfte und an alle der ersten Linie‹ (02) Zusammenfassend kann man sagen, dass die Unerhörtheit der Krise einen diskursiven Raum erfordert, in dem die im weitesten Sinne emotionalen Reaktionen ausgedrückt werden können. Regulative Corona-Kommunikate dienen dazu, einen Teil der Maßnahmen im öffentlichen Bereich konkret in Handlungen und Verhalten umzusetzen (s. Abb. 2), und zwar mit unmittelbarer oder zeitlich versetzter Wirkung. So sollen die Leser*innen konkret und punktuell zur Befolgung der Verordnungen aufgefordert werden, wie z.B. Abstand halten und Maske tragen; oder es werden ihnen Ersatzhandlungen angeboten, wie z.B. online-Kaufen statt im Geschäft. (11) Sehr geehrte Kundinnen, sehr geehrte Kunden, aufgrund gesetzlicher Bestimmungen dürfen diesen SB-Bereich nur 2 Personen gleichzeitig betreten. Bitte achten Sie zwingend auf einen Mindestabstand von 1,50 m. Verstöße können mit einem Bußgeld geahndet werden. (Bankfiliale, Düsseldorf, Mai 2020) Informative Corona-Aushänge erscheinen in dem beobachteten Zeitraum etwas später, als es darum geht, den Vorrat an Gesichtsmasken anzugeben oder im öffentlichen Raum Test-oder Impfstellen zu kennzeichnen bzw. auf sie zu verweisen. Die Aufforderungen können begründet werden (»pour la sécurité de tous/pour notre santé à tous« ›für unser aller Sicherheit/Gesundheit‹, »zum Schutz unserer Kunden und Mitarbeiter«, »zu Ihrer und unserer Sicherheit«), oder es wird für die Einhaltung der Vorschrift gedankt (»merci de votre compréhension« ›Danke für Ihr Verständnis‹, »vielen Dank und bleiben Sie gesund«). Schließlich wird auch mit kurzen Slogans gearbeitet, die entweder isoliert in einer Schrift/Bild-Kombination vorkommen oder als Zusatz auf anderen Aushängen platziert werden. Der folgende Slogan (Abb. 9), der in unterschiedlichen Kontexten immer wiederkehrt, kann dabei als Versuch gelten, so etwas wie eine Routine in das krisenhafte Geschehen hineinzubringen. Grafisch auffallend ist hier das stilisierte Herz, das zugleich einen Pfeil nach unten darstellt, als Symbol für sinkende Infektionszahlen. Die Wahl einer weißen Schrift auf dunklem Hintergrund steigert die Dramatik der Bildgebung. Dies wird unterstützt durch die verblose Form des Slogans, die der Botschaft einen komprimierten Charakter verleiht. Auf französischen Aushängen findet sich die Devise »protégez-vous et protégez les autres« (›schützen Sie sich und schützen Sie die anderen‹) häufig auf der obersten oder der untersten Zeile, allerdings ohne visuelle Unterstützung. Die Corona-Krise durchläuft verschiedene Phasen. Von Mitte März 2020 bis März 2021 lassen sich en gros drei Phasen ausmachen. Die erste Phase entspricht dem Ausbruch der Pandemie und den ersten restriktiven Maßnahmen, also dem Frühjahr 2020. Die zweite Phase entspricht den allgemeinen Lockerungen nach der restriktiven Phase, also dem Sommer 2020. Die dritte Phase hingegen entspricht einer chronischen Phase, also der Zeit ab dem Herbst 2020: Die gesundheitliche Lage verschlechtert sich wieder, ähnliche Einschränkungen wie schon im Frühjahr und vorsichtige Lockerungen lösen einander ab. Es entsteht eine Art Gewöhnungs-oder Déjà-vu-Effekt. 13 Die erste Phase ist die Phase der akuten Not, der Überraschung, der ›Schockstar-re‹ (›sidération‹). Verständlicherweise sind die emotionalen Aspekte sehr wichtig. Die regulativen Aspekte sind noch nicht so ausgefeilt und stabil wie im Herbst und Winter 2020. In der ersten Phase dominieren drei Aspekte, die sich in den Kommunikaten niederschlagen: verkehrs werden zu neuen Quasi-Routinen -so präzisieren die Kommunikate ständig die jeweils geltenden Öffnungszeiten und Zulassungszahlen. Inhaltlich sind sie flexibel und werden den wechselnden Vorgaben angepasst, formal haben sie ihre Formen gefunden. Daneben stellt man fest, dass sich alte und neue Risiken überlagern. So finden sich nach dem Nizzaer Attentat vom Oktober 2020 Corona-und Vigipirate-Kommunikate nebeneinander (s. Abb. 13). Fordern Corona-Kommunikate zu bestimmten Handlungen bzw. Verhaltensformen auf, um sich und andere vor dem unsichtbaren Virus zu schützen, so fordern Vigipirate-Kommunikate die Rezipienten auf, wachsam zu sein und materielle Anzeichen für Gefahren zu erkennen. Insgesamt scheint sich die Einhaltung der über die Kommunikate vermittelten Vorschriften auf der Ebene des Verhaltens im Straßenverkehr einzuspielen -die Mehrheit hält sich eher mehr als weniger an die Regeln. Expressive Elemente sind dann zwar noch möglich und sozial wohl auch erwünscht als Abfederung der restriktiven Vorschriften, sie haben aber nunmehr den Stellenwert rhetorischer Elemente und haben als solche eine nicht zu unterschätzende soziale Nützlichkeit. Betrachtet man die Kant 1974) Anknüpfend an die Erkenntnistheorie der Phänomenologie Edmund Husserls entwickelte sich eine Phänomenologie der Lebenswelt von handelnden Individuen, die auf der Basis einer -sozusagen apriorischselbstverständlichen Wirklichkeit agieren. Im Sinne von Alfred Schütz und Thomas Luckmann kann dabei von folgender Voraussetzung ausgegangen werden: »Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren.« (Schütz/Luckmann 1979, S. 25 ) Ein wesentlicher Bestandteil dieser kommunikativen Umwelt ist für Schütz/Luckmann die »räumliche Aufschichtung der alltäglichen Lebenswelt« (ebd., S. 63). Der uns als in der Lebenswelt agierenden Personen umgebende Raum ist strukturiert in verschiedene Ebenen oder Schichten, je nachdem, ob er für uns näher oder ferner ist. George Herbert Mead, auf den sich Schütz/Luckmann in ihrer Argumentation beziehen, hatte unterschieden zwischen verschiedenen Zonen des menschlichen Handelns, und zwar einerseits eine manipu-lative Zone, die unmittelbar wahrgenommen und manipuliert werden kann, und eine Zone der Ferndinge, die zwar gesehen, aber nicht mehr manipuliert werden können. (vgl. Mead 1938, S. 124 f.) Im Gegensatz zu Mead trennen Schütz/Luckmann die uns umgebende Lebenswelt in drei Schichten auf, die sie mit dem Begriff der Reichweite beschreiben: Es geht um eine Welt in aktueller Reichweite, einen »Sektor der Welt, der meiner unmittelbaren Erfahrung zugänglich ist« (Schütz/Luckmann 1979, S. 64) ; andererseits um eine Welt in potentieller Reichweite, die sich in eine Welt wiederherstellbarer Reichweite gliedert -einen »Sektor, der eben noch in meiner aktuellen Reichweite war« (ebd., S. 65) und in eine Welt erlangbarer Reichweiteeine »Welt, die nie in meiner Reichweite war, die aber in sie gebracht werden kann« (ebd., S. 66). Die Schütz/Luckmannsche Unterscheidung von lebensweltlichen Wirklichkeitsformen, die eine aktuelle und zwei, jeweils in die Vergangenheit und in die Zukunft weisende potenzielle Reichweiten annimmt, ist in diesem phänomenologisch geprägten Ansatz auf das wahrnehmende und handelnde Individuum bezogen. Es geht um die Reichweite meines Erlebens und Agierens. Der in diesem Beitrag vertretene Begriff der Arealität dreht gleichsam die Perspektive um und nimmt die Modi der Reichweiten von Kommunikaten selbst, also in phänomenologischer Sicht der wahrzunehmenden, kommunikativen Zeichengebilde, in den Blick. Wie greifen sie in die räumliche Aufschichtung der alltäglichen Lebenswelt ihrer Rezipient*innen ein? Bei der Beantwortung dieser Frage nehmen wir in Analogie zu Schütz/Luckmann ebenfalls unterschiedliche Reichweiten an, die sich jedoch auf die Beziehung des jeweiligen Kommunikats zu den intendierten Rezipient*innen richten. Wir unterscheiden drei Typen von Reichweiten, wobei diese als Geltungsbereiche gefasst werden können: eine allgemeine, nicht näher bestimmte und eine begrenzte Reichweite, wobei letztere wiederum unterteilt wird ein eine relativ weite und eine engbegrenzte Reichweite. Jeder dieser Typen wird wiederum in drei Kategorien unterteilt, somit ergeben sich insgesamt neun Kategorien (s. Tabelle 2), die im Folgenden erläutert werden. Diese Reichweiten weisen durch ihre arealen Eigenschaften nicht nur Spezifika in Termini der Entfernung auf, sondern auch in der spezifischen Art der Lektüresituation durch die Rezipient*innen. Vor allem die Kommunikate mit eng bestimmter Reichweite erfordern bisweilen synchron zur Lektüresituation eine bestimmte Positionierung oder eine Verhaltensweise, während die Kommunikate mit weiter oder allgemeiner Reichweite keine Angaben zur Position oder zum Verhalten in der Lektüresituation machen. So verlangen Aufkleber auf dem Boden mit der Aufschrift In der folgenden Klassifikation werden innerhalb der drei Kategorien der allgemeinen, weiten und engen Reichweite jeweils drei Funktionen unterschieden, die oben schon eingeführt wurden: die Funktion der Expressivität, der Regulierung und der Information. Auf der unteren Granulationsebene liegen also neun Kategorien vor, die im Folgenden näher erläutert und beschrieben werden sollen. ist, die markiert wurde. In den Beispielen Abb. 22 wiederum wird ein konkretes Verhalten entweder statisch (Sich-Hinstellen) oder dynamisch (in eine bestimmte Richtung gehen) vorgeschrieben. Kategorie 9. Eng/Informativ: Der dingfeste (Bühler 1934 (Bühler /1978 , 2) Anbringungsort des informativen Kommunikats prädiziert Eigenschaften oder identifiziert die Funktion eines bestimmten Ortes/Objekts. Ein auf dem Tisch aufgeklebter QR-Code, hier in Wien, gibt Zugang zur Speisekarte eines Restaurants, ohne Manipulierung der Karte durch den Gast oder die Bedienung (Abb. 23a). Neben einem Wasserund Seifenspender in einem Pariser Park wurde ein spezieller Desinfektionsmittel-Spender aufgestellt (Abb. 23b). Abb. 23 Dingfest angebrachte Informationen (Kategorie 9. Eng/Informativ Die Sprachlandschaft im Dispositiv der Pandemie Arnulf Deppermann/Angelika Linke (Hg.). Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité À travers champs. Mélanges en l'honneur de Nicole Fernandez-Bravo Indexicalité linguistique, iconique et matérielle -l'emploi du déictique »hier« dans quelques panneaux allemands Zur Rolle der Dinge in der menschlichen Lebenswelt Ortsgebundenheit als distinktives Merkmal in der Textanalyse Chronifizierung der Krise. Ein, zugegeben gedrängter, Versuch zum Zeitlichkeitsdiskurs von Corona. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. 16. Jahrgang Faktizitätsherstellung mittels handlungsleitender Konzepte und agonaler Zentren. Der diskursive Wettkampf um Geltungsansprüche. In: Ekkehard Felder (Hg.): Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen Performatisierung und Verräumlichung von Diskursen. Zur soziomateriellen Herstellung von ›Sicherheit‹ an öffentlichen Orten Kleine Texte -über Randerscheinungen von Textualität Grammatik multikodal: ein Vorschlag am Beispiel ortsgebundener Schriftlichkeit. In: Kodikas/Code Intermedialität -Intramedialität -Transkriptivität. Überlegungen zu einigen Prinzipien der kulturellen Semiosis Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp Typologie exploratoire des affordances textuelles. In: Pratiques Wirus oder: Was es heißt, solidarisch zu sein Philosophy of the Present. Chicago: Open Court Ein Vorschlag zu einer Theorie des Wissens aus krisentheoretischer Perspektive Krise/Katastrophe. Normalismustheoretische Überlegungen zu einem semantischen Diferential Contributions à une théorie du dispositif. In: Hermès, La Revue Deutsche Satzsemantik Krisendiskurs. In: Thomas Niehr/Jörg Kilian/Jochen Schiewe (Hg.), Handbuch Sprachkritik Sehflächenforschung. Eine Einführung Strukturen der Lebenswelt. Frankfurt/M.: Suhrkamp Discourses in Place. Language in the Material World »Passen Sie gut auf sich und Ihre Liebsten auf« und »Vive la France!« -Linguistische Anmerkungen zu den TV-Ansprachen von Merkel und Macron. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 16/2020 Eine diskurslinguistische Pilotstudie zum Wandel von Argumentationsmustern und Metapherngebrauch Défi collaboratif VintrinesEnConfinement