key: cord-0074800-5kpetww6 authors: Bendau, Antonia; Petzold, Moritz; Ströhle, Andreas title: Bewegung, körperliche Aktivität und Sport bei depressiven Erkrankungen date: 2022-02-15 journal: NeuroTransmitter DOI: 10.1007/s15016-021-9343-y sha: 4b8460ffce18e21c58d7101a1adac2a487d5a0f0 doc_id: 74800 cord_uid: 5kpetww6 nan D er erste Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisa tion, Psychiater Brock Chisholm, postulierte 1954, dass ohne psychische Gesundheit keine wahre körperliche Gesundheit existieren könne [1] . Umgekehrt scheinen aber auch Defizite in der körperlichen häufig die psychische Ge sundheit zu beeinträchtigen [1, 2] . Bei depressiven Erkrankun gen stellt beispielsweise ein deutlich verringertes körperliches Aktivitätslevel ein häufiges Symptom dar, wobei eine bidirek tionale Beziehung zwischen der Reduktion des Aktivitäts niveaus und der Ausprägung der depressiven Erkrankung zu bestehen scheint [3] . Entsprechend ist es nicht überraschend, dass der gezielte Einsatz von körperlicher Aktivität in der Prä vention und Behandlung depressiver Erkrankungen zuneh mend in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen und praktischer Anwendungen rückte (Abb. 1). Im Vergleich zu anderen psychischen Erkrankungen ist die Forschungsbasis bei unipolaren depressiven Erkrankungen am größten [2, 4] . Neben körperlicher Inaktivität als einem häufi gen Symptom, liegt das unter anderem auch daran, dass depres sive Erkrankungen weltweit sehr häufig auftreten (geschätzte Lebenszeitprävalenz 16-20 %) und mit massiven Belastungen auf individueller sowie gesamtgesellschaftlicher Ebene einher gehen [3] . Bewährte Therapieverfahren (z. B. Psychotherapie und Psychopharmakotherapie) weisen eine begrenzte Wirk samkeit sowie teilweise Nebenwirkungen auf, chronische Ver läufe sowie sekundäre Komorbiditäten (z. B. Substanzge brauchsstörungen, kardiovaskuläre Erkrankungen, Stoffwech selerkrankungen, Übergewicht) sind häufig. Das verleiht der Suche nach Optimierungs und Ergänzungsmöglichkeiten für die Prävention und Behandlung depressiver Erkrankungen eine hohe Priorität [3, 4] . Neuere Forschungsbefunde weisen darauf hin, dass körperliche Aktivität eine wichtige Rolle in diesem Kontext spielen könnte -gerade, weil es sich um ein gut modi fizierbares Verhalten handelt, das sowohl in der Prävention als auch Behandlung depressiver Erkrankungen sowie Begleiter krankungen eingesetzt werden kann und sich gut mit unter schiedlichen Behandlungsmethoden und settings kombinie ren lässt (Abb. 2). Der antidepressive Effekt körperlicher Aktivität wurde meist für depressive Episoden und rezidivierende depressive Störun gen evaluiert, scheint jedoch auch bei anderen Störungen aus dem depressiven Spektrum, wie etwa zyklusassoziierten de pressiven Störungen vorhanden. Zu depressiven Episoden im Rahmen bipolarer affektiver Erkrankungen existieren bisher kaum empirische Befunde, weshalb sich der vorliegende Über blick auf unipolare depressive Erkrankungen fokussiert, wobei ähnliche Effekte auf bipolare Depressionen zu erwarten sind [2, 4] . Im Bereich der Prävention und Behandlung depressiver Er krankungen wurden bereits viele verschiedene Aktivitätsfor men auf ihre Wirksamkeit untersucht, wobei sowohl körperliche Aktivität im Allgemeinen als auch spezifische Formen von Sport und Training Gegenstand von Studien waren. Als kurze Begriffsdefinition lässt sich anführen, dass körperliche Aktivität und Bewegung breite Kategorien repräsentieren und alle muskulären Aktivitäten umfassen, die mit einer Steigerung des Energieverbrauchs assoziiert sind [5, 4] . Training beschreibt Aktivitäten zur Verfolgung bestimmter (z. B. gesundheitlicher oder leistungsbezogener) Zielstellungen und Sport addiert als engste Kategorie dazu meist einen Wettkampfcharakter oder stärkeren Leistungsaspekt. Die meisten vorhandenen Studien beziehen sich auf Ausdauertraining wie beispielsweise Joggen oder Fahrradfahren. Es existieren aber auch erste Studien zu Krafttraining sowie Yoga, Kampfsport und vielen anderen Be wegungsformen [2, 4] . Zahlreiche korrelative Beobachtungsstudien, Reviews und Meta analysen haben den Zusammenhang körperlicher Akti vität mit der kategorialen Prävalenz sowie dem dimensionalen Schweregrad depressiver Erkrankungen untersucht [2, 4, 6, 7, 8] . Überwiegend unabhängig von Alter, Region, Kulturkreis und Zielgruppe (stationär, ambulant, subklinisch, Allgemein bevölkerung) kamen diese Untersuchungen weitgehend ein heitlich zu dem Ergebnis, dass höhere Aktivitätslevel im Schnitt mit weniger depressiven Symptomen einhergehen. Dieser Befund wurde auch in Ausnahmesituationen, wie zum Beispiel der COVID19Pandemie repliziert [9, 10] . In längsschnittlichen Kohortenstudien sagte körperliche Ak tivität zudem prospektiv ein im Schnitt deutlich reduziertes Ri siko für die Inzidenz einer depressiven Erkrankungen in den nachfolgenden Jahren vorher [2, 11, 12] . Eine umfangreiche Me tanalyse [11] über 49 Studien, 266939 Personen und einen pro spektiven Beobachtungszeitraum von einem bis zu 26 Jahren bezifferte den protektiven Effekt regelmäßiger Aktivität, ver glichen mit geringer oder keiner körperlichen Aktivität für de pressive Symptome in den Folgejahren, auf eine angepasste Odds Ratio (OR) von 0,84 und für das verringerte Inzidenzri siko einer diagnostizierten Major Depression auf 0,86. Der Ge samteffekt wurde auf eine OR von 0,83 geschätzt, wobei die Ri sikoreduktion über Altersgruppen und Regionen hinweg rela tiv stabil ausfiel. Für einen positiven Effekt schienen hier mit unter auch bereits relativ niedrigintensive sowie kurze Aktivitäten gegenüber körperlicher Inaktivität effektiv zu sein [13, 14] . Besonders deutlich fiel die Risikoreduktion durch kör perliche Aktivität bei Personen mit einer ausgeprägten geneti schen Vulnerabilität aus [15] . Zudem stellte sich körperliche In aktivität in Kombination mit mentaler Passivität (z. B. Fernse hen) als besonders risikobehaftet heraus [12] . In umgekehrter Wirkrichtung konnte aber auch eine Depres sion zum Ausgangszeitpunkt eine Verringerung der körperli chen Aktivität in den Folgejahren in mehreren Studien prädizie ren [2, 4, 16, 17] . Das gilt es vor allem hinsichtlich der Präventi on sekundärer komorbider Erkrankungen, die durch Inaktivität begünstigt werden, sowie potenzieller Hürden bei der Förderung körperlicher Aktivität in dieser Zielgruppe zu beachten. Der Ansatz der Anwendung körperlicher Aktivität in der Be handlung von Depressionen wurde bereits seit den 1970erJah ren in zahlreichen randomisiertkontrollierten Studien verfolgt und in über 20 Metaanalysen sowie weiteren Übersichtsarbei ten zusammenfassend geprüft, die überwiegend zu positiven Ergebnissen kamen [2, 18, 19, 20] . Auch aktuelle Metaanalysen zeigen, dass körperliche Aktivität depressive Symptome redu zieren kann [2] . Die Effektstärken fallen hierbei allerdings teils sehr heterogen aus und variieren von nicht signifikanten klei nen bis zur sehr großen Effekten [2, 18] . Gründe hierfür liegen zum Beispiel in der verwendeten Kontrollgruppe, am Studien design, in der betrachteten Gruppe, an der Charakteristika der Intervention (Aktivitätsform, Intensität, Dauer, Frequenz, etc.) und der Heterogenität der unipolaren Depressionen an sich so wie an den Unterschieden in der verwendeten Diagnostik [2, 4, 18, 21, 22] . Zusammenfassende Aussagen über die Wirksam keit sind daher schwer abzuleiten. Bezogen auf Studien mit ho her Qualität fanden Schuch et al. aber eine signifikante mittle re Effektstärke (Standardized Mean Difference) von 0,88 und insgesamt erzielte körperliche Aktivität in den verschiedenen Metaanalysen im Schnitt mit einem mittleren bis großen Effekt auf depressive Erkrankungen [18] . Die Heterogenität in den Er Abb. 1: Entwicklung der Anzahl wissenschaftlicher Publikationen, die körperliche Aktivität und Depressionen/Affektive Störungen thematisieren pro Jahr in den letzten 50 Jahren. Basierend auf einer Pubmed-Suche am 8. April 2021 mit Suchterm: ("physical activity" OR "exercise" OR "sports") AND ("depression" OR "affective disorder" OR "bipolar disorder" OR "dysthymia"). Die Daten aus den Jahren 1996, 2005 und 2012 wurden ausgeschlossen, da es sich hierbei um Ausreißer handelte. gebnissen und die Diskrepanz zwischen den Studien sollte bei der Interpretation aber berücksichtigt werden. Der Großteil der untersuchten Interventionen bezog sich auf angeleitete Trainingsprogramme mit einer Dauer mit acht bis 20 Wochen und fokussierte auf mittel und langfristige Effekte [2] . Auch für eine akute Wirksamkeit im Sinne kurzfristiger stimmungsaufhellender Effekte einzelner Bewegungseinheiten fanden sich aber bereits Belege [23] . Eine Vielzahl an Studien untersuchte die Wirksamkeit be wegungsbasierter Interventionen als alleinstehende Behand lungsform [2] . Die Reduktion depressiver Symptomatik durch körperliche Aktivität (z. B. 16 Wochen Ausdauertraining) fiel in verschiedenen Studien hierbei hinsichtlich der Effektstärke vergleichbar mit der Wirksamkeit von Psychopharmakothera pie (z. B. mit Sertralin) und Psychotherapie aus [2, 4, 24] . Ne ben der Wirksamkeit als alleinstehende Intervention kann kör perliche Aktivität auch genutzt werden, um andere Behand lungsmaßnahmen zu ergänzen oder deren Effektivität zu erhö hen (Abb. 2) [4, 25] . Ein zwölfwöchiges Trainingsprogramm konnte beispielsweise in Kombination mit der StandardPsy chopharmakotherapie die Remissionsrate bei Menschen mit unipolaren Depressionen signifikant steigern [26] . Auch die Kombination von Psychotherapie und körperlicher Aktivität zeigte größere Effekte als jede Behandlungsmethode für sich genommen [27] . Außerdem kann Bewegung auch negative Ne benwirkungen einer PsychopharmakaBehandlung mildern so wie zusätzlich günstige Effekte zur allgemeinen physischen und psychischen Gesundheitsförderung erzielen [25] . Hinsichtlich der Mechanismen, über die der antidepressive Ef fekt körperlicher Aktivität vermittelt wird, existiert trotz einer umfassenden Studienbasis noch keine eindeutige Evidenz [4, 28, 29] . Das liegt unter anderem daran, dass Symptomatologie, Ätiologie und Pathogenese depressiver Erkrankungen hetero gen ausfallen und nicht durch einzelne klar abgrenzbare phy siologische oder psychosoziale Anomalien definiert werden [3, 4] . Analog scheinen unterschiedliche und komplex interagie rende Wirkprozesse den Effekten körperlicher Aktivität zu grunde zu liegen. Einige dieser potenziellen Mechanismen wer den im Folgenden ohne den Anspruch der Vollständigkeit überblicksartig dargestellt (Abb. 3) . Als ein wesentlicher neurobiologischer Mechanismus wer den die langfristige Normalisierung der HypothalamusHypo physenNebennierenrindenAchse und eine entsprechend ver ringerte Cortisolkonzentration angenommen [4, 27, 30] . Des Weiteren werden Prozesse des endokrinen Systems, der Ther moregulation und der Immunreaktion über einer Reduktion von Entzündungsmarkern wie Interleukin (IL)1 und 6 sowie des Tumornekrosefaktors (TNF)α als Wirkmechanismen in Betracht gezogen, da diese durch körperliche Aktivität günstig beeinflusst werden und in Zusammenhang mit depressiven Symptomen stehen [4, 29] . Auch in Hinblick auf hirnstrukturelle Auffälligkeiten bei De pressionen (z. B. herabgesetzte Funktionalität und verringerte Volumina im Hippocampusareal sowie weiteren Cortexberei chen) scheint körperliche Aktivität eine normalisierende Rolle zu spielen [28, 29, 31] . Durch die Aktivierung neuroplastizitä rer Mechanismen -beispielsweise über die Beteiligung des Nervenwachstumsfaktors "Brain Derived Neurotrophic Factor" (BDNF) an neuronalen Neu und Umbildungsvorgängen, des sen Expression durch Bewegung gesteigert wird -konnten diese Defizite in einigen (Tier)Studien gemildert werden [28, 29, 31, 32] . Eine ebenfalls häufige, wenn auch bisher nicht ausreichend bestätigte Annahme hinsichtlich der Wirkmechanismen be zieht sich auf die Produktion und Speicherung von Monoami nen (z. B. serotonerges und noradrenerges System), da diese bei Depressionen oftmals Auffälligkeiten aufweisen und durch körperliche Aktivität positiv beeinflussbar sind. Ansatzpunkte der präventiven und therapeutischen Anwendung körperlicher Aktivität in der Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver Erkrankungen. In der Regel ist die Orientierung an individuellen Präferen zen sinnvoll und die körperliche Ausgangsverfassung sollte be achtet werden [2, 4, 25] . Eine realistische Zielsetzung sollte langsam gesteigert werden, bis das empfohlene Bewegungsaus maß erreicht ist [25] . Natürlich müssen auch mögliche Kontra indikationen gegen körperliches Training wie beispielsweise körperliche Einschränkungen berücksichtigt werden [4] . Außerdem gilt es zu beachten, dass es Menschen mit depres siven Erkrankungen häufig besonders schwer fällt, sich regel mäßig körperlich zu betätigen, was sich auch in geringen Ad Trotz heterogener und einzelner nicht signifikanter Befunde kann davon ausgegangen werden, dass körperliche Aktivität in der Regel kurz-, mittel-und langfristig positive Effekte auf depressive Symptomatik hat und als präventives sowie therapeutisches Instrument für unipolare depressive Erkrankungen geeignet ist. Um körperliche Bewegung optimal einsetzen zu können, sollte die Evidenzlage hierzu in zukünftigen Studien noch weiter gestärkt werden -gerade hinsichtlich heterogener Effekte und möglicher methodischer Verzerrungen. Auch eine Verbesserung des Verständnisses der Wirkmechanismen und konkretere Handlungsempfehlungen wären wünschenswert. Außerdem sollte neben der Schaffung geeigneter Angebote auch die Inanspruchnahme seitens der Betroffenen und die Förderung der Verschreibung körperlicher Aktivität seitens klinischer Fachkräfte in Zukunft verbessert werden [25, 40] . No physical health without mental health: lessons un-learned? Exercise Based Interventions for Mental Illness: Physical Activity as Part of Clinical Treatment. London: Elsevier Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde Auflage: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie Bundesärztekammer (BÄK) körperliche Aktivität und Sport in der Entstehung und Behandlung psychischer Erkrankungen Sports psychiatry: mental health and mental disorders in athletes and exercise treatment of mental disorders. Eur Arch Psychiatry The Role of Exercise in Preventing and Treating Depression A meta-meta-analysis of the effect of physical activity on depression and anxiety in non-clinical adult populations Adolescent Sport Participation and Symptoms of Anxiety and Depression: A Systematic Review and Meta-Analysis Risk, resilience, psychological distress, and anxiety at the beginning of the COVID-19 pandemic in Germany When Pandemic Hits: Exercise Frequency and Subjective Well-Being During COVID-19 Pandemic Physical Activity and Incident Depression: A Meta-Analysis of Prospective Cohort Studies Sedentary behaviors and risk of depression: a meta-analysis of prospective studies Physical activity and the prevention of depression: a systematic review of prospective studies Dimensions of leisure-time physical activity and risk of depression in the "Seguimiento Universidad de Navarra" (SUN) prospective cohort Assessment of Bidirectional Relationships Between Physical Activity and Depression Among Adults: A 2-Sample Mendelian Randomization Study Examining the bidirectional relationship between physical activity, screen time, and symptoms of anxiety and depression over time during adolescence The longitudinal effects of depression on physical activity Exercise as a treatment for depression: A meta-analysis adjusting for publication bias Aerobic exercise for adult patients with major depressive disorder in mental health services: A systematic review and meta-analysis Physical Activity for the Treatment of Adolescent Depression: A Systematic Review and Meta-Analysis Heterogeneity: the issue of apples, oranges and fruit pie Körperliche Aktivität als therapeutische Intervention bei Depression. [Physical activity as therapeutic intervention for depression Influence of Exercise Intensity for Improving Depressed Mood in Depression: A Dose-Response Study Exercise and pharmacotherapy in the treatment of major depressive disorder. Psychosomatic Training und Sport und psychotherapeutische Behandlungsverfahren Exercise as an Augmentation Strategy for Treatment of Major Depression Depression and Exercise: A Clinical Review and Management Guideline Physical activity and depression: Towards understanding the antidepressant mechanisms of physical activity Neurobiological effects of exercise on major depressive disorder: A systematic review Can physical exercise modulate cortisol level in subjects with depression? A systematic review and meta-analysis Körperliche Aktivität und psychische Gesundheit Körperliche Aktivität in der Prävention und Behandlung von Angsterkrankungen Physical activity in outpatients with mental disorders: status, measurement and social cognitive determinants of health behavior change Aktiv für die Psyche: Sport und Bewegungsinterventionen bei psychisch kranken Menschen Treating depression with physical activity in adolescents and young adults: a systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials Psychosoziale Therapien bei schwer psychisch kranken Menschen aus: NeuroTransmitter 9/2021 von: U. Gühne, S. G. Riedel-Heller zertifiziert bis: 1