key: cord-0074886-z10gmfmx authors: Krämer, Walter title: Interview Bernd Fitzenberger für „Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv“ date: 2022-02-18 journal: AStA Wirtsch Sozialstat Arch DOI: 10.1007/s11943-022-00302-w sha: 7455169b52e66730f0ef5adcd51d2712a369124e doc_id: 74886 cord_uid: z10gmfmx nan und ist Mitglied der Leopoldina (Sektion Ökonomik und Empirische Sozialwissenschaften). Im Jahr 2020 erhielt er den Deutschen Wirtschaftspreis der Joachim Herz Stiftung für das beste Forschungswerk eines etablierten Wissenschaftlers zur Ökonomik der Arbeit. Bernd Fitzenbergers Hauptforschungsgebiete sind Einkommens-und Lohnungleichheit, Beschäftigungsentwicklung, Evaluation von Maßnahmen der Arbeitsmarkt-und Bildungspolitik, berufliche Bildung und Übergang von Schule zu Beruf, Beschäftigung von Müttern, Gewerkschaften (Tarifbindung, Organisationsgrad, Lohnstrukturen und Beschäftigung), Evaluationsmethoden und Methoden der Quantilsregression. Die Mitglieder der Deutschen Statistischen Gesellschaft kennen ihn auch als Vertreter der Statistik und Ökonometrie im Fachkollegium Wirtschaftswissenschaften der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Fragen stellte Walter Krämer. (Abb. 1). Einiges. In Stanford -ein phantastischer Ort, der mich sehr geprägt hat -konnte ich Geistesgrößen wie Karl Popper oder Spitzen meiner Fächer VWL, Ökonometrie und Statistik persönlich erleben, wie Ken Arrow, James Tobin, Jim Heckman, Clive Granger, Takeshi Amemiya, T.W. Anderson oder Bradley Efron, auch angehen-de weibliche Stars wie Penny Goldberg, Hilary Hoynes oder Susan Athey, oder Menschen der Zeitgeschichte wie Michail Gorbatschow und Helmut Schmidt. Eine solche intellektuelle Konzentration und Offenheit erlebbar zu machen, da machen uns die amerikanischen Spitzenuniversitäten einiges vor. Und betreffend die Ausbildung? Auch eine Menge. Als Diplom-Volkswirt mit einem Vordiplom in Mathematik war ich sehr gut für eine Promotion vorbereitet, habe aber trotzdem im PhD-Programm in Stanford noch extrem viel gelernt. Diese Programme bereiten in einem weit umfassenderen Maß auf eine forschungsorientierte Promotion vor, als das damals in Deutschland der Fall gewesen ist. Mit den neuen Doktorandenprogrammen in der VWL haben wir inzwischen zwar wichtige Schritte in diese Richtung getan, sind aber nach meiner Einschätzung noch weit entfernt von der breiten Exzellenz der Ausbildung, wie ich sie selbst in Stanford erlebt habe. Beeindruckt war ich auch von der Unkompliziertheit und Selbstverständlichkeit, mit der ich als Nichtamerikaner in einem internationalen Jahrgang mit einem Ausländeranteil von ca. 50 % in das Doktorandenprogramm aufgenommen und von der Universität ab dem zweiten Jahr ohne Vorfestlegung auf einen Betreuer finanziert wurde. Als ich nach Stanford ging, wollte ich Zeitreihenökonometriker und empirisch arbeitender Makroökonom mit dem Fokus auf Arbeitsmärkte werden. Promoviert habe ich bei einem mikroökonometrisch versierten Arbeitsökonomen zu einem methodischen Thema an der Schnittstelle zwischen Zeitreihenökonometrie und Mikroökonometrie. Diese methodischen Kenntnisse habe ich als empirischer Arbeitsmarktforscher später vielfach angewandt (siehe etwa Fitzenberger 1999; Fitzenberger et al. 2001 oder Fitzenberger et al. 2004 ) -aber prägend war vor allem die Erfahrung, dass die Mikroökonometrie in Verbindung mit tollen Mikrodaten der Schlüssel zum Erkenntnisgewinn in der empirischen Arbeitsmarktforschung warund immer noch ist. So selbstverständlich dies für das Fach auch in Deutschland heute ist, so revolutionär war das für mich damals in den USA. Und der Anfang Ihres Wegs dahin? War das Ziel Statistik geplant oder zufällig? Durchaus geplant, mit einigen glücklichen Zufällen. Im Mathe-Leistungskurs in der Schule hat mir im zweiten Halbjahr der 13. Klasse, als das Abitur schon gelaufen war, der Statistikschwerpunkt am meisten Spaß gemacht. Und danach spielte Statistik in meinem Studium in Konstanz eine große Rolle -schließlich studierte ich in der damaligen Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Statistik. Da war ich auch schon früh als Tutor in die Statistikausbildung im Grundstudium eingebunden, dadurch habe ich extrem viel gelernt. Und durch Gerd Ronning erhielt ich erste Einblicke in die Mikroökonometrie -und in eine Vorabversion seines späteren Lehrbuchs zu diesem Thema (Ronning 1991 Rein quantitativ stimme ich der These im Wesentlichen zu. Ohne Zuwanderung können wir den Arbeitskräftebedarf unserer Wirtschaft nicht voll decken -und ohne Zuwanderung ergäben sich auch dramatische Folgen für unser System der sozialen Sicherung. Bei einer schrumpfenden Wirtschaft infolge von zunehmender Arbeitskräfteknappheit würden die Steuereinnahmen zurückgehen und die Beitragszahlungen fehlen, die wir insbesondere für die Rentenversicherung benötigen. Die Problematik ist schon in den Jahren 2020 und 2021 deutlich sichtbar geworden. Im beiden Jahren sank alterungsbedingt die Zahl der Personen, die dem Arbeitsmarkt insgesamt zur Verfügung stehen, jährlich um 300.000 bis 350.000 Personen. Die Erwerbsbeteiligung im Inland, bspw. über die weiter zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen, wuchs nach Rückgängen am Anfang der Covid-19-Pandemie im Jahr 2021 um gut 100.000 Personen -und damit langsamer als im letzten Jahrzehnt. Und die Immigration nach Deutschland ist in der Corona-Krise deutlich zurückgegangen, so dass dem Arbeitsmarkt in Deutschland zwei Jahre in Folge weniger Arbeitskräfte K zur Verfügung standen. Schon im zweiten Halbjahr 2021 waren in einigen Bereichen wieder Arbeitskräfteengpässe zu erkennen. Der Demographie-Effekt dürfte im nächsten Jahrzehnt in jedem Jahr in der gleichen Größenordnung liegen. In der Summe müssten daher 300.000 bis 400.000 Personen pro Jahr mehr zuwandern als unser Land verlassen, um die Zahl der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Personen konstant zu halten. In Folge der Covid-19-Pandemie ist die Zuwanderung allerdings kurzfristig zurückgegangen und die Zuwanderungspotenziale aus anderen EU-Ländern sind geringer als vor einigen Jahren, da auch dort vergleichbare demographische Effekte wirken. Sind wir auf dem richtigen Weg? Die Politik hat richtigerweise mit dem Berufsanerkennungsgesetz und dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Hürden für die Einwanderung von vor allem benötigten Fachkräften gesenkt und unterstützende Maßnahmen auf den Weg gebracht. Das IAB wird evaluieren, ob das Fachkräfteeinwanderungsgesetz die intendierten Effekte nach Ende der Corona-Krise zeigen wird. Der ist sehr hoch einzuschätzen. Ich wurde zweimal in das Fachkollegium Wirtschaftswissenschaften für das Gebiet Statistik und Ökonometrie gewählt, hatte also die Ehre, insgesamt acht Jahre in diesem Gremium mitzuarbeiten, darunter zwei Jahre als stellvertretender Vorsitzender und zwei Jahre als Vorsitzender. Für meine zweite Amtszeit war ich sowohl vom Verein für Socialpolitik wie auch von der Deutschen Statistischen Gesellschaft (DStatG) als Kandidat vorgeschlagen worden. Hierüber habe ich mich besonders gefreut -und danke der DStatG für das mir entgegengebrachte Vertrauen. Besonders spannend und gleichzeitig herausfordernd war es dabei für mich, angemessen die Fachspezifika und Fachkulturen in einem Gremium zu berücksichtigen, in dem BWL, VWL, Wirtschafts-und Sozialgeschichte und eben Statistik und Ökonometrie zusammen vertreten sind. Die Vertraulichkeit der Beratungen verbietet mir, auf Einzelheiten einzugehen, aber die unterschiedlichen Fachkulturen führten zu teilweise leicht unterschiedlichen Kriterien für die Förderentscheidungen und zu leicht unterschiedlichen Einschätzungen der Sinnhaftigkeit einzelner Förderinstrumente. Für das Gremium ist es daher wichtig, ein gemeinsames Verständnis für angemessene und faire Förderentscheidungen zu entwickeln, die den Anträgen in ihrer Heterogenität und den eingeholten Gutachten gerecht werden und die die Wirtschaftswissenschaften insgesamt voranbringen. Die angemessenen Maßstäbe für Anträge an der Schnittstelle verschiedener Fächer -sei es an der Schnittstelle Statistik und Mathematik oder an der Schnittstelle zwischen Wirtschaftsgeschichte und Geschichtswissenschaft -stellten hierbei eine Herausforderung dar, die das Fachkollegium nach meiner Einschätzung in meinen zwei Amtsperioden gut gemeistert hat. Dabei haben wir uns gelegentlich und nach ausführlicher Diskussion auch schon mal über den Mainstream in VWL und BWL hinweggesetzt. (Abb. 4). Irgendwelche Empfehlungen für Ihre Nachfolger? Anders als bei den von der EU vergebenen ERC grants ist bei der DFG auch die Förderung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern ganz am Anfang ihrer Karriere ein wichtiges Ziel. Die Bedeutung und Konzeption dieser Nachwuchsförderprogramme ist aber dem Nachwuchs in Deutschland noch nicht hinreichend bekannt. Deshalb finde ich es gut und wichtig, dass die DFG auf den Tagungen der Fachgesellschaften hierüber informiert -hieran habe ich mich immer gerne beteiligt -und der Nachwuchs die Beratungsleistung der DFG vor der Antragstellung nutzt. Das könnte man noch weiter intensivieren. Von der DFG zur Forschung und zu den deutschen Universitäten allgemein. In einem kürzlichen Interview mit Gerd Hansen (Krämer 2022) haben sowohl ich als auch der Interviewte das geistige Klima an deutschen Universitäten heutzutage kritisiert. Wie sehen Sie das denn? Mit dem Begriff "geistiges Klima" tue ich mir schwer. Speziell bei dem Begriff "Geist" im Zusammenhang mit Universitäten erinnere ich mich an ein für mich unvergessliches Radio-Interview mit Walter Jens. Walter Jens galt bekanntermaßen als streitbarer Geist und scharfzüngiger Denker, dessen Ansichten ich nicht immer teilte, aber den ich sehr schätzte. Auf die Frage hin, wie es passieren konnte, dass er im kleinen Tübingen lehre und dort geblieben sei, antwortete Walter Jens u. a., dass ihn gleich als er nach Tübingen gekommen sei, der "Geischt" [schwäbisch für Geist] dort angesprochen habe. Ich habe das so verstanden, dass er das "geistige Klima", sprich die Form und die Inhalte des akademischen Austausches, die Kommunikation in Universität und Stadtgesellschaft und auch die Streitkultur im Tübingen der 1950er-Jahre geschätzt hat. Lebt der von Walter Jens geschätzte Geist in Form rhetorisch geschliffener aber akademisch gehaltvoller und respektvoller Kommunikation und Diskussion, die hart in der Sache ist, an den deutschen Universitäten heute fort? Ich halte dies für ein schönes Ideal, eine schöne Utopie, und schätze sehr, wenn ich dieses Ideal in Realität erlebe -wofür es an deutschen Universitäten immer wieder schöne Beispiele gibt. Aber es wäre ein zu hoher, elitärer Anspruch, um die Realität an deutschen Universitäten daran zu messen, denn die Universitäten sind natürlich Teil der Gesellschaft, deren Verhaltensmuster sich nicht unbedingt an humanistischen Bildungsidealen orientiert. Die Universitäten spiegeln somit auch negative Entwicklungen in der Gesellschaft wider. Im großen Ganzen garantieren sie in der öffentlichen Diskussion und in Auseinandersetzung über unterschiedliche Meinungen ein hohes Maß an Freiheit und kritischem Diskurs, auch wenn dies nicht völlig dem skizzierten Ideal entspricht. Ich schätze die Offenheit und das Engagement, mit denen beispielsweise Studierende der Wirtschaftswissenschaften alternative Sichtweisen in unser Lehrprogramm einbringen oder mit der sie sich für politische Forderungen einsetzen, selbst wenn ich diese nicht teile. Dies ist an deutschen Universitäten gut möglich, ohne dass der oder die Betreffende Nachteile befürchten muss. Schockierend dagegen -und meinem Idealbild des geistigen Klimas an einer Universität widersprechend -ist beleidigende oder respektlose Kommunikation, wie sie teilweise in anonymer Form in sozialen Medien oder in Kommentarspalten im Internet vorkommt. Dazu zähle ich anonyme, beleidigende Kritik an Lehrenden, wie ich sie leider viel zu oft auf Bewertungsplattformen, Onlineforen oder in anonymen Lehrevaluationen für meine Person oder Kolleginnen und Kollegen gelesen habe. Auch sexistische Äußerungen über weibliche Lehrende sind hier zu beklagen. Keine Frage: Berechtigte Kritik und kritische Diskussionen müssen sein -ich bin offen dafür und bewundere Studierende und die Vertreterinnen und Vertreter anderer Statusgruppen an der Universität, wenn sie offen Missstände ansprechen, ihre Einschätzungen einbringen und sich an Entscheidungsfindungsprozessen beteiligen. Aber beleidigende und entwürdigende Kommunikation in Anonymität ist immer unangemessen und einer Universität unwürdig -und ich vermisse einen höheren Schutz der Adressaten dieser Kommunikation an den Universitäten, aber auch in der Gesellschaft insgesamt. Ich möchte meine Antwort als zwei Einschätzungen verstanden wissen, die ich zur Diskussion stelle. Erstens, der aktuelle Hype im Bereich Data Science, Maschinellem Lernen, Künstliche Intelligenz in Verbindung mit der Verfügbarkeit von neuen Datentypen ist eine große Chance, das Fach Statistik zu stärken. Bei Anwendungen dieser Methoden in den Wirtschaftswissenschaften ist eine dezidiert statistische und ökonometrische Perspektive sinnvoll und wichtig. Zugespitzt formuliert heißt das: Die Frage der angemessenen statistischen Inferenz, Messfehlerprobleme oder Selektionseffekte, um nur drei Beispiele zu nennen, verschwinden mit den neuen Methoden nicht von selbst. Zweitens, die DStatG stellt sich vielen wichtigen Aufgaben -das ist großartig, birgt aber besondere Herausforderungen. Lassen Sie mich zwei davon nennen. Amtliche Statistik und Wissenschaft/Lehre an den Universitäten kontinuierlich zusammenzubringen ist sehr wichtig, gerade weil der Stellenwert der Vermittlung von Kenntnissen in der Wirtschafts-und Sozialstatistik an den Universitäten höher sein K sollte und weil die amtliche Statistik von dem Austausch mit der Hochschulforschung profitiert. Eine Herausforderung entsteht daraus, dass die amtliche Statistik größtenteils, wenn auch nicht ausschließlich (Beispiel: Eurostat), national aufgestellt ist, während die Methodenforschung als Grundlagenforschung durch und durch international ist. Und Statistik ist in vielen Anwendungsdisziplinen vertreten, von denen die DStatG nur einige repräsentiert. Die Herausforderung besteht darin, den Austausch im Fach Statistik über die Anwendungsdisziplinen hinweg zu ermöglichen und zu organisieren. Für beide Herausforderungen hat die DStatG funktionierende Lösungen gefunden, die jedoch regelmäßig einer Überprüfung und Anpassung an sich verändernde Rahmenbedingungen bedürfen The moving blocks bootstrap and robust inference in linear least squares and quantile regressions Wages and employment across skill groups: an analysis for west Germany Testing for uniform wage trends in west Germany: a cohort analysis using quantile regressions for censored data The gender gap in labor market participation and employment: a cohort analysis for west Germany Methoden der empirischen Wirtschaftsforschung: Verfahren zur Diagnose und Prognose makroökonomischer Prozesse Die demografische Zeitbombe: Ursachen und Folgen der Kinderlosigkeit (Heinz-Grohmann-Vorlesung) Krämer W (2022) Interview mit Gerd Hansen Berlin Heidelberg Hinweis des Verlags Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral