key: cord-0075530-rq7zb3i2 authors: Nadjafi-Bösch, Marie title: Kinderrechte in der Pandemie: Raus aus der Krise, rein ins Grundgesetz date: 2022-03-08 journal: Sozial Extra DOI: 10.1007/s12054-022-00469-0 sha: 1235c341e22bdc9b556a8c629fca8cc2ee0dee72 doc_id: 75530 cord_uid: rq7zb3i2 Die Bedarfe und Interessen von Kindern als eigene Rechtssubjekte, scheinen während der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie in einer Entität von Kindern und Erwachsenen unterzugehen und bleiben auch 30 Jahre nach der Geltung der UN-Kinderrechtskonvention hinter deren Vorgaben zurück. Dass die Corona-Pandemie und die Maßnahmen zu deren Eindämmung nicht auf alle Alters-und Sozialgruppen gleich wirk(t)en, scheint inzwischen eine Binsenweisheit. Für Kinder und vor allem für armutsbetroffene Minderjährige bedeuteten die Corona-Maßnahmen und insbesondere der so genannte Lockdown enorme Einschränkungen ihrer zivilen, sozialen und kulturellen Rechte auf Schutz, Förderung und Beteiligungbesonders in den Bereichen Kindeswohl, Gesundheit und Bildung (Klundt 2021) . Die viel benutzte Brennglas-Metapher, welche verbildlicht, wie die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie bereits vorhandene Ungleichheiten potenziert, kann nahezu für alle gesellschaftlichen und sozialen Kontexte beispielhaft angeführt werden. Die Krise legt bestehende Versorgungslücken und Mängel im Sozial-, Sicherungs-und Bildungssystem schonungslos offen und verschärft sie. So gerieten armutsbetroffene Familien beispielsweise durch die fehlende Mittagsverpflegung in Schulen und Kitas sowie krisenbedingte Mehrkosten besonders in Bedrängnis. Auch wurde die Mangellage in der Kinder-und Jugendhilfe in der Pandemie deutlicher denn je (DKHW 2020). Der Umstand, dass Kinderschutz noch immer keine Chef_ innen-Sache ist, hat in der Krise besondere Auswirkun-gen auf armutsbetroffene Kinder, welche aufgrund der Maßnahmen zur Corona-Eindämmung spezifische Ausmaße erreicht haben. Die Folgen der seit Jahren von Praxis und Forschung monierten Anbindung der finanziellen und personellen Ausstattung der Jugendämter an unterster anstatt föderaler oberster Ebene, wurden während der Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 in all ihrer Härte sichtbar (Beckmann und Berneiser 2021) . Ebenso verschärfte sich die Situation von vielen geflüchteten Kindern und ihren Familien durch die Pandemiemaßnahmen. Dass das Konzept der zentralen Unterbringung geflüchteter Familien und Kinder in Anker-und funktionsgleichen Einrichtungen eine Vielzahl von Risiken für Kinder birgt, zeigt sich in der Pandemie deutlich. Diese Orte der Ausgrenzung, Stigmatisierung und Isolation entwickelten sich jüngst aufgrund der meist räumlichen Abgeschiedenheit und einer gewissen Geschlossenheit zu sogenannten Corona-Hotspots, die gesundheitliche und psychosoziale Belastungen bei Kindern und ihren Familien verursachen (Pro Asyl 2021). Während der Pandemie sind junge Menschen aufgrund zunehmend psychischer Belastungen einer Dauer-Stress-Situation ausgesetzt. Mittlerweile macht eine Vielzahl von Untersuchungen deutlich, dass junge Menschen von den Einschränkungen massiv belastet sind. Die Mahnung der Kinderkommission des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2020, dass jede politische Entscheidung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie mit dem Blick auf Kinder und Jugendliche eine besondere Interessenabwägung erfahren muss, scheint bisher ins Leere zu laufen (Pressemitteilung der Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder 2020). Die öffentlichen Debatten wurden sehr stark aus der Perspektive von Erwachsenen geführt. Dabei fehlt eine zentrale Perspektive -die der Kinder (Deutscher Bundestag 2020). Auch in der gegenwärtigen sogenannten dritten Phase des Pandemiegeschehens befinden sich Familien und v. a. Kinder in einer Art Chaos-Situation (Baumann 2022) . So fehlt es beispielsweise weiterhin an Infrastrukturen zum Infektionsschutz in Schulen und Einrichtungen der Kinder-und Jugendhilfe. Die Dimensionen der psychischen Belastungen und Folgeerscheinungen für Kinder und Jugendliche sind noch nicht abzusehen. Eine besondere Stellung kommt dem Kindeswohlprinzip nach Art. 3 Abs. 1 UN-KRK zu. Demnach ist das Kindeswohl bei allen Maßnahmen, die das Kind betreffen gleich, ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtun-gen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden -ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Bei der Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 3 Abs. 1 KRK geht es darum, dass sich die Entscheidungsträger_innen über die Auswirkungen der jeweiligen Entscheidung auf ein individuelles Kind, eine Gruppe von Kindern oder Kinder im Allgemeinen bewusst werden. Das Kindeswohl soll damit nicht eine Entscheidung vorgeben, sondern als eine wesentliche Leitlinie fungieren (Lorz und Sauer 2011) . Bei der Definition des Kindeswohls bzw. der Festlegung des Wohles des Kindes ist die Perspektive und die Ansicht des betroffenen Kindes oder der Gruppe der Kinder dem Entwicklungsstand angemessen zu berücksichtigen. Das Beteiligungsrecht gibt die Methode zur Festlegung des Kindeswohls vor (Schmahl 2017) . Vor diesem Hintergrund ist gegenwärtig nicht festzustellen, dass der Kindeswohlvorrang sich als Grundprinzip durch die politischen Entscheidungen von Bund und Ländern gezogen hätte. Auch wurden Kinder und Jugendliche nicht an Entscheidungsprozessen beteiligt (Deutscher Bundestag, 2020). Der Schutz und die besondere Perspektive von Kindern wurden bislang nicht in die Pandemiepläne des Bundes und der Länder aufgenommen. Entsprechend wenig Gehör erfuhren Kinder-und Jugendorganisationen bei den staatlichen Grundsatzentscheidungen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie (Feige und Gerbig 2020, S. 5 der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt, vgl Gender and generation: feminism and the "child question Stimme der Kinder oder Stimmung in der Familie? ZSE, Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation Zum dritten Mal in einer Chaos-Situation Kinderschutz in der Krise: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Heft 1, 2021 ZKJ, Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, S. 4-10 Factsheet Kinderarmut in Deutschland Kinderrechte in Zeiten von Corona wichtiger denn je! Kinderrechte ins Grundgesetz aber richtig, Aktionsbünndis Kinderrechte Kinderrechte ins Grundgesetz ?gclid=Cj0KCQiA3-yQBhD3ARIsAHuHT66q5D1enmj-gORJegnBaK3nbB2Qavcd6Qysq-d2yrDxZuuQL6YQIUnkaAmPkEALw_wcB. Zugegriffen: 27 Deutsches Institut für Menschenrechte, Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention (Hrsg United Nations Human Rights Treaty Bodies, databse, CRC/C/GC/19 Soziale Spaltung und Corona-Kapitalismus Kinderrechte ohne Vorbehalt Sozial Extra Durchblick: Kinderrechte in Corona-Zeiten Nadjafi-Bösch, M. (2022). 30 Jahre Ratifizierung der UN-Kinderrechte Wie steht es um das Prinzip des Kindeswohlvorranges? Zum Umsetzungsstand in Deutschland am Beispiel kindgerechter Justiz. MRM, Menschenrechts Magazin, 1/2022, Verlag. Publikation im Bedeutet unser Leben nichts? Erfahrungen von Asylsuchenden in Flüchtlingsunterkünften während der Corona-Pandemie Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Handkommentar (2. Aufl.) General comment No. 19 on public budgeting for the realization of children's rights (art. 4), UN Doc. CRC/C/GC/19