key: cord-0811940-tt92xgx4 authors: Baier, Dirk; Biberstein, Lorenz; Kliem, Sören title: Partnerschaftliche Gewalt während der COVID-19-Pandemie in der Schweiz date: 2022-01-10 journal: Forens Psychiatr Psychol Kriminol DOI: 10.1007/s11757-021-00698-1 sha: 029b6137f54379742fb4601d5b98b31541c2eb34 doc_id: 811940 cord_uid: tt92xgx4 The article reports results from two nationally representative survey studies from Switzerland. In 2018 and again in 2021 adults who lived together with a partner at the time of the survey were asked about their experience of various forms of partner violence in the last 12 months. The results show that there has not been an increase in intimate partner violence over time. The proportion of respondents who experienced psychological violence was 13.8% (2018 survey) and 11.7% (2021 survey), while the proportions of respondents who experienced physical violence were 2.9% and 3.1%, respectively; however, a stability of prevalence rates was not found for all demographic groups: Among younger respondents, there was an increase in experiences of physical violence. gen beinhalteten, wurde die Sorge geäußert, dass Gewalt im häuslichen Bereich steigen könnte. Bislang liegen weitestgehend nur Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik, des sog. Hellfelds, dazu vor, inwieweit sich diese Sorge bestätigt hat. Die Anzahl an registrierten Delikten häuslicher Gewalt lag im Jahr 2020 mit 20.123 2,3 % über der Anzahl von 2019 (Bundesamt für Statistik 2021a); dies deutet zunächst auf einen Pandemieeffekt entsprechend den Erwartungen zur Entwicklung der häuslichen Gewalt hin. Auch die vom Bundesamt für Statistik (2021b) durchgeführte Sonderauswertung konstatiert: "Im Jahr 2020 wurden im Vergleich zum Mittelwert der letzten drei Jahre 5 % mehr Straftaten (+155) im häuslichen Bereich polizeilich registriert, die während der außerordentlichen Lage (16.03.2020 Lage (16.03. bis 19.06.2020 ) stattfanden." Allerdings ist in Bezug auf diese Anstiege zu beachten, dass die Anzahl registrierter Straftaten häuslicher Gewalt seit 2011 -mit Unterbrechung in den Jahren 2014 und 2017 -kontinuierlich steigt, durchschnittlich jährlich um 3,7 % (2012-2019); bereinigt um die Bevölkerungsentwicklung (ansteigende Bevölkerungszahlen in der Schweiz) ergibt sich ein durchschnittlicher jährlicher Anstieg von 2,6 % (2012-2019). Dies bedeutet, dass auch abseits von Pandemieeffekten die Raten von häuslicher Gewalt von Jahr zu Jahr zugenommen haben, womöglich auch deshalb, weil sich die gesellschaftliche Sensibilität und das hiermit verbundene informelle Kontrollverhalten erhöht haben und zunehmend Anzeige erstattet wird. Denkbar ist also auch, dass im Vergleich von 2019 und 2020 auch ohne Pandemie ein Anstieg der Zahlen zu erwarten gewesen wäre, der dann sogar mit 2,3 % hinter dem zugrunde liegenden zeitlichen Trend von 3,7 % zurückbleibt. Ein Pandemieeffekt lässt sich mit den Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik demnach nicht nachweisen. Die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik sind hinsichtlich ihrer Aussagekraft freilich deshalb begrenzt, weil sie maßgeblich von der Anzeigebereitschaft abhängen. Wie Biberstein und Killias (2016, S. 20 f.) anhand einer schweizweiten Befragung feststellen, wird maximal ein Drittel der Gewaltvorfälle im häuslichen Bereich (untersucht wurden sexuelle Gewalt und Tätlichkeiten/Drohungen) bei der Polizei angezeigt. Studien aus Deutschland weisen auf eine noch niedrigere Anzeigerate hin. Hellmann (2014, S. 123) beispielsweise folgert auf Basis einer umfassenden Befragung: "Von allen Fällen häuslicher Gewalt durch die Partnerin bzw. den Partner gelangten der Polizei und Staatsanwaltschaft 14,7 % ... zur Kenntnis". Eine Annahme ist, dass die Pandemiesituation die Anzeigebereitschaft noch einmal gesenkt hat, u. a. deshalb, weil die Täter*innen die Opfer noch engmaschiger kontrollieren und damit verhindern können, dass diese sie anzeigen. Zudem können Schulen, Vereine und andere Organisationen ihre Rolle bezüglich der Aufdeckung häuslicher Gewalt schlechter ausüben, wenn sich mögliche Opfer dort seltener aufhalten, was aufgrund von Schulschließungen und des temporären Aussetzens von Vereins-und anderen Freizeitaktivitäten de facto der Fall war. Auch wenn die Effekte der Pandemiesituation auf das Anzeigeverhalten möglicherweise überschätzt werden -so geben Opfer beispielsweise nur selten an, dass sie keine Anzeige erstatten, weil sie vom Täter bedroht werden (Hellmann 2014, S. 128), und Anzeige wird in den allermeisten Fällen von den Opfern, seltener noch von Freund*innen erstattet und kaum von Organisationen im Umfeld (Hellmann 2014, S. 123 f.) -, bleibt grundsätzlich der Nachteil dieser Datenquelle bestehen, dass sie nur einen Teil des Gewaltgeschehens sichtbar machen kann und insofern für die Prüfung eines Pandemieeffekts eher ungeeignet erscheint. Die bisher vorhandenen Studien zum Zusammenhang von COVID-19-Pandemie und häuslicher Gewalt beschränken sich aber weitestgehend auf diese Datengrundlage. So berichten Piquero et al. (2021) Ergebnisse einer 18 Einzelstudien umfassenden Metastudie, die sich sämtlich auf Hellfelddaten beziehen, wobei dies nicht immer polizeiliche Kriminalstatistiken, sondern auch beispielsweise Krankenhausdaten (Einweisungen in Notaufnahmen) sind. Hauptergebnis ist, dass Ausgangsbeschränkungen/Lockdowns während der Pandemie mit einem 8,1-prozentigen Anstieg der häuslichen Gewalt einhergehen. Gleichwohl finden sich auch Studien auf Basis von Kriminalstatistiken, die eine Stabilität bzw. sogar Rückgänge häuslicher Gewalt für diesen Zeitraum berichten (Gerell et al. 2020; Halford et al. 2020) . Auch Piquero et al. (2020) kommen anhand ihrer Analysen für eine US-Stadt zu folgendem Ergebnis: "we do not see, at least with the data we have, any lasting increase or sustained higher levels of domestic violence". Zweifellos stellen aber wiederholt durchgeführte Dunkelfeldbefragungen zum Themenfeld der partnerschaftlichen Gewalt einen geeigneteren Weg dar, um den Einfluss der COVID-19-Pandemie zu untersuchen, weil die Anzeigebereitschaft und deren mögliche Entwicklung hier nicht von Bedeutung sind. Noch liegen aber solche Studien kaum vor. Verschiedene Befragungsstudien haben daher einen anderen Weg gewählt, indem sie retrospektiv den Einfluss der Pandemie abzuschätzen versuchten. In Australien wurde im Mai 2020 eine Befragung unter Frauen durchgeführt, in der die letzten 3 Monate vor der Befragung hinsichtlich des Gewalterlebens eingeschätzt werde sollten (Boxall et al. 2020) . In diesem Zeitraum erlebten 4,6 % der Frauen physische oder sexuelle Gewalt. Entsprechend den Ergebnissen der Studie hat der Lockdown zu einer Erhöhung häuslicher Gewalt beigetragen: Zwei Drittel (65,4 %) der Frauen, die Gewalterfahrungen in Bezug auf die 3 Monate berichteten, erlebten ihrer Aussage nach "either violence for the first time by that partner or an escalation in the frequency and severity of prior violence" (S. 12). Eine ebenfalls im Mai 2020 im Kanton Zürich durchgeführte Befragung kommt hingegen zu einem anderen Befund: "Es kann weder von einem deutlichen Anstieg noch von einem deutlichen Rückgang häuslicher Gewalt während des Lockdowns gesprochen werden. Der Anteil an Befragten, die von einem Rückgang der einzelnen Übergriffsformen [partnerschaftlicher Gewalt; d. A.] berichten, entspricht weitestgehend dem Anteil an Befragten, die von einem Anstieg während des Lockdowns berichten" (Baier 2020, S. 458) . Auch in dieser Befragung sollten die Befragten retrospektiv einschätzen, ob es ihrer Ansicht nach während des Lockdowns zur häufigeren Gewaltanwendung durch den Partner bzw. die Partnerin kam oder nicht. Jenseits von Befragungsstudien findet sich für die Schweiz noch eine Studie, die Anrufe bei der "Dargebotenen Hand" (der Schweizer Telefonseelsorge) analysiert hat. Diese kommt zu dem Befund, dass während des Lockdowns im Frühjahr 2020 die Anrufe wegen häuslicher Gewalt im Vergleich zum entsprechenden Vorjahrszeitraum um 25 % gesunken sind (Brülhart und Lalive 2020) . Bislang kann in der Literatur nur eine Studie identifiziert werden, die tatsächlich Raten häuslicher Gewalt vor und während der Pandemie auf Basis von 2 unabhängigen Befragungen und damit im Sinne einer Pre-und Postmessung miteinander vergleicht: Kliem et al. (2021) berichten Zwölfmonatsprävalenzraten partnerschaftlicher Gewalt anhand einer Befragung des Jahres 2016 (1.317 Befragte in Partnerschaft) und einer Befragung des Jahres 2021 (1.005 Befragte in Partnerschaft). Die Ergebnisse zeigen hinsichtlich der Viktimisierungserfahrungen für weibliche Befragte eine Zwölfmonatsprävalenz zum Zeitpunkt 2016 von 9,3 % und für männliche Befragte von 9,1 %. Für keine der beiden Gruppen konnte eine statistisch bedeutsame Veränderung der Zwölfmonatsprävalenzraten vom Beobachtungsjahr 2016 zu 2021 festgestellt werden. Eigene Gewalthandlungen innerhalb der zurückliegenden 12 Monate wurden zum Zeitpunkt 2016 von 7,3 % der weiblichen und von 9,3 % der männlichen Befragten berichtet. Auch hier ergaben sich über die Beobachtungsjahre hinweg keine statistisch bedeutsamen Veränderungen. Partnerschaftliche Tab Die partnerschaftliche Gewalt wurde im Rahmen von 2 schweizweit repräsentativen Erwachsenenbefragungen erfasst, die in den Jahren 2018 und 2021 durchgeführt wurden (Baier 2019) . Die Befragung des Jahres 2018 erfolgte als schriftliche, postalische Befragung, die Befragung des Jahres 2021 als Online-Befragung. Um zu einer repräsentativen Stichprobe zu gelangen, wurden verschiedene Wege beschritten: Im Jahr 2018 wurden schweizweit per Zufall Adressen gezogen; dies erfolgte durch ein Marketing-Unternehmen, wobei insgesamt 10.749 Adressen bzw. Personen in die Stichprobe einbezogen wurden. Im Jahr 2021 wurde auf das Panel des Markt-und Sozialforschungsunternehmens LINK zurückgegriffen, wobei 18.686 Einladungen verschickt wurden. An der Befragung des Jahres 2018 beteiligten sich letztlich 2.111 Personen, was einer Rücklaufquote von 20,1 % entspricht, an der Befragung des Jahre 2021 3.010 Personen (Rücklaufquote 16,1 %). Bei beiden Fragen entsprach die soziodemografische Zusammensetzung nicht exakt der Zusammensetzung der Grundgesamtheit, weshalb eine Anpassungsgewichtung an die Alters-und Geschlechtsverteilung der Schweizer Bevölkerung erfolgte. Alle in diesem Beitrag berichteten Ergebnisse basieren auf gewichteten Stichproben. In die nachfolgenden Auswertungen werden nur Befragte einbezogen, die auf die Frage "Hatten Sie in den letzten K 12 Monaten eine*n Lebenspartner*in?" mit "ja" antworteten und die ebenfalls angaben, mit der Partnerin bzw. dem Partner gemeinsam in einem Haushalt zu leben. Dies waren in der Befragung 2018 1.503 Personen, in der Befragung 2021 1.916 Personen. Die soziodemografische Zusammensetzung dieser Substichproben ist in Tab K Der Fokus der Auswertungen liegt allerdings auf den Veränderungen im Zeitvergleich, wobei sich drittens zeigt, dass bei nahezu allen Gewaltformen sowie bei allen Gewaltindizes keine signifikanten Veränderungen festzustellen sind. Das Ausmaß partnerschaftlicher Gewalt vor und während der COVID-19-Pandemie ist damit weitestgehend identisch. Die psychische Gewalt ist in nichtsignifikanter Weise von 13,8 auf 11,7 % zurückgegangen; in Bezug auf diesen Gewaltbereich findet sich zugleich die einzige signifikante Veränderung, nach der das Kontrollverhalten von 8,7 auf 5,7 % gesunken ist. Physische Gewalt ist von 2,9 auf 3,1 % nicht signifikant gestiegen. Bei der Bedrohung hat es keine Veränderung geben (jeweils 1,5 %). Um auszuschließen, dass die Vergleiche der Zwölfmonatsprävalenzen durch soziodemografische Faktoren beeinflusst sind, wurden multivariate Analysen mit den 4 Indizes berechnet. In Tab Zu den soziodemografischen Faktoren ergeben sich folgende Haupteffekte: Ältere Befragte berichten signifikant seltener, alle Formen der partnerschaftlichen Gewalt erlebt zu haben, als jüngere Befragte. In der Westschweiz bzw. im Tessin ist im Wesentlichen die psychische Gewalt weniger verbreitet als in der deutschsprachigen Schweiz. Im ländlichen Raum, d. h. in Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern, findet sich ein höheres Niveau psychischer Gewalt. Die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit bzw. der Bezug von Arbeitslosengeld/Sozialhilfe steht zuletzt signifikant mit erhöhter psychischer Gewalt in Beziehung. Auch zu den anderen Gewaltindizes zeigen sich gewaltsteigernde Effekte dieser Variable, die allerdings nicht als signifikant ausgewiesen werden. Von den insgesamt geprüften 28 Interaktionseffekten werden nur 4 als signifikant ausgewiesen. Die Entwicklungen (bzw. in diesem Fall: Nichtentwicklungen) gelten damit für die verschiedenen soziodemografischen Gruppen gleichermaßen. Gleichwohl deuten sich einige differenzielle Entwicklungen bei Betrachtung der Interaktionsvariablen an. Um diese darzustellen, finden sich in Abb. 1 Zwölfmonatsprävalenzraten für verschiedene soziodemografische Subgruppen. Hinsichtlich der psychischen Gewalt gilt, dass bei weiblichen Befragten ein signifikanter Rückgang im Zeitvergleich eingetreten ist (von 14,6 auf 10,4 %; χ 2 = 6,555, p < 0,01). Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. 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Bundesamt für Statistik, Neuchâtel Bundesamt für Statistik (2020b) Bevölkerung nach Migrationsstatus Jahresbericht 2020 der polizeilich registrierten Straftaten. Bundesamt für Statistik, Neuchâtel Bundesamt für Statistik (2021b) Spezialauswertung zu den polizeilich registrierten Straftaten während der COVID-19-Pandemie. Häusliche Gewalt Odermatt M (2021) Gewalt in Paarbeziehungen in der Schweiz Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG, Bern Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (2020) Ursachen, Risiko-und Schutzfaktoren von Gewalt in Paarbeziehungen Minor covid-19 association with crime in Sweden Sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt an Frauen sind in der Schweiz verbreitet Crime and coronavirus: Social distancing, lockdown and the mobility elasticity of crime Häusliche Gewalt vor und während der COVID-19-Pandemie. 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