über die Bedeutung der Sprache für die * Naturgescliiclite des Menschen. Von August Schleicher. Weimar Hermann Böhlau. 1865. ^\^' "y- Estate of W. R. H«M«li 1920. .Das Folgende ward vor einem kleinen Privat- kreise hier in Jena mit einigen Zusätzen und Ei'lauterungen, wie sie der Augenblick an die Hand gab, vorgetragen. Wenn ich nun diesen kleinen Vortrag veröffentliche, so geschieht dies hauptsächlich deshalb, weil ich hier ver- sucht habe, ein Bedenken zu beseitigen, welches meiner kleinen Schrift 'Di^ Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft, Weimar 1863' ge- genüber mehrfach erhoben ward. Man bestritt mir nämlich das Recht , die Sprachen als mate- rielle Existenzen, als reale Naturwesen zu be- handeln, als welche ich sie dort allerdings ohne weitere Begründung vorausgesetzt hatte. Dass sie dies aber wirklich sind, suche ich vor allem in Nachstehendem darzuthun. So mag denn das Folgende als ein ergänzender Nachtrag zu der 1* genannten Schrift betrachtet werden. Da ich diese nicht in den Händen jedes Lesers der vor- liegenden Blätter voranssetzen kann, muste ich Einiges von dem dort Gesagten hier nochmals zur Sprache bringen. Zu S. 6, Z. 6 V. u. des Schriftchens ^die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft'' habe ich leider unterlassen, eine Einschränkung des dort Gesagten beizufügen, die ich mir er- laube jetzt nachzutragen. Es ist an der ge- nannten Stelle einzuschalten: ''Es versteht sich, dass hier nur von den sogenannten descriptiven Naturwissenschaften die Rede ist. Die Bedeu- tung, welche der apriorische, mathematische Weg für Astronomie und Physik hat, kann na- türlich nicht im Entferntesten in Frage gestellt werden.' Jena, Ende December 1864. iug. Schleif her. Über die Bedeutung der Sprache für die Murgeschiclile des Menschen. Schwerlich bezweifelt noch heute zu Tage ein Naturforscher, dass die Thätigkeit irgend eines Or- ganes, der Verdauungsorgane, der Drüsen, des Ge- hirns, der Muskeln u. s. f. unabhängig sei von der Beschaffenheit dieses Organes. Der Gang der ver- schiedenen Thiere z. B. , ja sogar die verschie- denen Gangweisen der einzelnen Individuen bei den Menschen sind offenbar bedingt durch die Ver- schiedenheit in der Beschaffenheit der beim Gange thätigen Körpertheile. Die Thätigkeit, die Function der Organe ist so zu sagen nur eine Art der Er- scheinung des Organes selbst, wenn es auch dem Messer und dem Mikroskope des Forschers nicht immer gelingt die materielle Ursache für jede Er- scheinung auf zu zeigen. Eben so, wie z. B. mit dem Gange, verhält es sich aber auch mit der Sprache. Die Sprache ist das durch das Ohr wahr- nehmbare Symptom der Thätigkeit eines Complexes materieller Verhältnisse in der Bildung des Gehirns und der Sprachorgane mit ihren Nerven, Knochen, Muskeln u. s. f.*). Allerdings ist die materielle Grundlage der Sprache und ihrer Verschiedenhei- ten noch nicht anatomisch nachgewiesen, meines Wissens ist aber auch eine comparative Unter- suchung der Sprachorgane verschiedensprachiger Völker noch gar nicht unternommen worden. Es ist möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, dass eine solche Untersuchung zu keinen irgend wie genügen- den Ergebnissen führt; dennoch würde dies keines- wegs die Ueberzeugung von dem Vorhandensein materiell - körperlicher Bedingungen der Sprache zu erschüttern vermögen. Denn wer wollte das *) Dieser Gedanke ist nicht neu. Lorenz Diefeubach, Vorschule der Völkerkunde, Frankfurt a. M. 1864, S. 40 flg. hat ihn bereits ausgesprochen. Vergl. auch die flg. Anm. Dasein solcher materieller Verliiiltnisse läiii;iion, die sicii zur Zeit noch der unmittelbaren Wahr- nehmung entziehen und die vielleicht auch nie zu Objeeten dirccter Beobachtung ^'emacht werden können Die Wiikuni>- minimaler Grössen und Ver- hältnisse ist ja nicht selten eine ungemein sinn- fällige; man erinnere sich nur der Spectraler- scheinungen, der Farbe und des Geruches bei den Pflanzen . der auf ganze Geschlechter hinaus' bedeut- samen Wirkung der befruchtenden Spermatozoide u. dergl. Möglicher Weise sind die sprachlichen Unterschiede die Wirkungen von dergleichen mini- malen Unterschieden in der Beschaffenheit des Ge- hirns und der Sprachorgane.*) Mag dem sein, wie ihm wolle; da wir vorder Hand wenigstens die materiellen Grundlagen der Sprache nicht kennen, so bleibt uns nichts anderes übrig als die Wirkungen jener Grundlagen allein *: Vgl. Th. H. Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur, übersetzt von J. V. Carus. Braunschweig 1863, S. 117 Anm. 10 in Betracht zu nehmen und etwa so mit der Sprache zu verfahren, wie die Chemiker mit der Sonne, deren Licht sie untersuchen , da sie die Quelle dieses Lichtes selbst nicht in Untersuchung nehmen können. Was, um im Gleichnisse zu bleiben, bei der Sonne das Licht ist, das ist bei der Sprache der hörbare Laut; wie dort die Beschaffenheit des Lichtes von einer materiellen Grundlage desselben zeugt, so hier die Beschaffenheit des Lautes. Die der Sprache zu Grunde liegenden materiellen Ver- hältnisse und die hörbare M'^irkung dieser Verhält- nisse verhalten sich zu einander wie Ursache und Wirkung, wie Wesen und Erscheinung überhaupt; der Philosoph würde sagen: sie sind identisch. Wir halten uns daher für berechtigt, die Sprachen gerade- zu als etwas materiell Existierendes zu betrachten, wenn Mir dies auch nicht mit Händen greifen und nicht mit dem Auge sehen, sondern fast nur durch das Ohr wahrnehmen können. Den mir mehrfach gemachten Einwurf, dass ich irrthümlicher Weise die Sprachorganismen als 1 1 wirkliche P^xistonzen behandele, währciid sie ja nur die Folge von Thätigkeiten der Organe, kei- neswegs aber materielle Wirklichkeiten seien, glaube ich durch die eben angestellte Betrachtung wider- legt zu haben. Bevor ich jedoch versuche, das eben Ausge- führte als für die Naturgeschichte des Menschen verwerthbar dar zu legen, habe ich noch einem Einwurfe gegen die behauptete Substantialität der Sprache zu begegnen , der vielleicht dem und jenem der Leser bereits in den Sinn gekommen ist. Ich meine das Erlernen fremder Sprachen. Beruht die Sprache wirklich auf einer bestimm- ten Beschaffenheit des Gehirns und der Sprachor- gane, wie kann man sich dann eine Sprache oder gar mehrere Sprachen ausser der Muttersprache an- eignen? Ich könnte hierauf, anknüpfend an ein Eingangs gebrauchtes Gleichniss, kurz erwidern, dass man auch auf allen Vieren , ja sogar auf den Hän- den allein gehen lernen kann, ohne dass Jemand bezweiieln wird , dass unser natürlicher Gang durch die Beschaffenheit unseres Leibes bedingt und nur 12 eine Art der Erscheinung derselben sei. Doch be- trachten wir uns den vom Erlernen fremder Spra- chen hergenommenen Einwurf etwas genauer. Vor allem fragt es sich , ob überhaupt jemals eine fremde Sprache vollkommen angeeignet wird. Ich bezweifele dies und gebe es höchstens für den Fall zu, dass Jemand seine Muttersprache in früher Ju- gend mit einer anderen vertauscht. Dann aber wird er eben ein anderer Mensch als er war ; Gehirn und Sprachorgane bilden sich in anderer Rich- tung aus. Man sage mir nicht N. N. spricht und schreibt mit gleicher Fertigkeit deutsch, englisch, französisch u. s. f. Zunächst stelle ich das Factum in Abrede; aber auch zugegeben, dass dies wirklich der Fall sei, zugegeben, dass ein Individuum zugleich Deut- scher, Franzose, Engländer sein könne, so gebe ich zu bedenken , dass sämmtliche indogermanische Spra- chen einem und demselben Sprachstamme ange- hören und unter weiterem Gesichtskreise gesehen als Arten einer und derselben Sprache erscheinen. Man zeige mir aber erst den Menschen, der voll- kommen gleich im Deutschen und im Chinesischen, i;{ oder im Neuseeiäiidisclien mid im Tscherokcsischon, oder im Arabischen und im Hottentottischen, oder in irgend welchen bis ins innerste Wesen hinein verschiedenen Sprachen denkt und spricht. Ich glaube nicht , dass es einen solchen geben kann (ist es uns ja oft nicht einmal möglich die frem- den Sprachen eigenthümlichen Laute hervorzubrin- gen oder sogar nur sie richtig und genau mit dem Ohre aufzufassen), so wenig als wohl jemals ein und dasselbe Individuum mit gleicher Fertigkeit und Bequemlichkeit auf zwei Füssen und auf allen Vieren sich fortzubewegen im Stande sein wird. Bis zu einem gewissen Grade sind unsere Organe allerdings so zu sagen dehnbar und im Stande Thätigkeiten zu entfalten, die ihnen von Hause aus nicht zukommen; eine bestimmte Function wird aber dennoch stäts ihre natürliche sein und blei- ben. Also verhält es sich auch mit den Organen, deren Function die Sprache ist. Yon der Mög- lichkeit des mehr oder minder vollkommenen An- eignens fremder Sprachen ist also kein Einwurf gegen die behauptete materielle Grundlage der 14 Sprache in der Beschaffenheit des Gehirns und der Sprachorgane herzuleiten. Haben wir also ein Recht in der Sprache etwas wirklich und materiell Existierendes zu sehen, so gewinnt vor Allem schon die Wahrnehmung eine wesentlich tiefere Bedeutung, dass die Sprache und, wenigstens nach Huxleys bekannten Untersuchun- gen , nur die Sprache es ist , wodurch der Mensch sich von den ihm zunächst stehenden Anthropoiden (Gorilla, Schimpanse, Orang, Gibbon) unterschei- det.*) Die Sprache, d. h. der Gedankenausdruck durch Worte, ist das einzige ausschliessliche Cha- rakteristicum des Menschen. Lautgebärden , zum Theile sehr entwickelte Lautgebärden zum unmit- telbaren Ausdrucke seiner Empfindungen und seines Begehrens hat auch das Thier und mittels dersel- ben ist eine Mittheilung der Empfindungen unter den Thiereu möglich, wie mittels anderer Gebär- *) Th. H. Hiixley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur, übers, v. J. V. Carus, Braunschw- 1863, S, 127. 15 den. Durch den (Jefühlsau.'^drnck können aller- dings bei Anderen Vorstellungen hervorgerufen wer- den. Deshalb pflegt man auch wol von Thier- sprachen zu reden. Die Fähigkeit des unmittel- baren Gedankenausdruckes durch den Laut besitzt jedoch kein Thier. Und nur dies versteht man unter Sprache. Wie sehr dies in unserem gewöhn- lichen Bewustseiu auch in der That anerkannt ist, zeigt die Erwägung, dass ohne Zweifel .ein mit Sprache begabter Affe, selbst ein äusserlich vom Menschen ganz verschiedenes Thier, sofort für uns als Mensch gelten würde, wenn es Sprache besässe. Dass Taubstumme die Sprache potentia so gut be- sitzen, als wirklich Sprechende, ist bekannt. D. h. mit anderen Worten, ihr Gehirn und ihr Sprach- organ ist wesentlich eben so gebildet , als bei den Menschen mit gesundem Gehörorgane. Wäre dies nicht der Fall, so würden sie weder schreiben noch sprechen lernen können. Dagegen sind wirklich sprachlose verkümmerte Menschen, Microcephalen u. s. f. nicht als vollkommene Menschen, als wirk- liche Menschen 'zu betrachten; denn ihnen fehlt 16 nicht nur die Sprache, sondern auch die Befähi- gung zu derselben. Ist aber die Sprache das humanuni xaz'' i^o%7jV^ so liegt der Gedanke nahe, ob nicht von ihr ge- rade der Eintheilungsgrund für eine wissenschaft- liche systematische Anordnung der Menschheit her- zunehmen sei, ob wir nicht in der Sprache die Grundlage eines natürlichen Systemes des genus homo gefunden haben. Wie wenig constant sind doch Schädeibildung und andere sogenannte Rassenunterschiede. Die Sprache dagegen ist stäts ein völlig constautes Merkmal. Ein Deutscher kann wol einmal in Haupthaar und Prognathisraus es mit dem ausge- sprochensten Negerkopfe aufnehmen, eine Neger- sprache wird er aber von Hause aus niemals reden. Wie wenig wesentlich für den Menschen die, soge- nannten Rassenunterschiede sind, zeigt die Wahr- nehmung, dass Angehörige eines und desselben Sprachstammes verschiedene Rasseneigenthümlich- keiten zeigen können. So ist der sesshafte Os- manlitürke kaukasischer Rasse, während andere, so- 17 genannte tatarisclie Türkenstänime cUmi Typus (i(M' mongolischen Rasse tragen. Auf der anderen Seite unterscheidet sich z. B. der Magyare und der Baske in seiner körperlichen Erscheinung nicht wesentlich vom Indogernianen, während sprachlich Magyaren, Basken und Indogernianen weit ausein- andergehen. Abgesehen von ihrer Unbeständigkeit dürften auch die sogenannten Rassenunterschiede nur schwierig zu einem wissenschaftlichen natür- lichen Systeme sich anordnen lassen. Yerhältniss- mässig leicht fügen sich dagegen die Sprachen, be- sonders ihrer morphologischen Seite nach (nach der Lautform), in ein natürliches System, ähnlich dem anderer Lebewesen. Dies näher auszuführen ist hier nicht der Ort. Nach unserer Ansicht ist also für den Menschen die äusserlich wahrnehm- bare Bildung des Hirn- und Gesichtsschädels und des Körpers überhaupt weniger wesentlich, als jene nicht minder materielle aber unendlich feinere kör- perliche Beschaffenheit, deren Symptom die Sprache ist. Das natürliche System der Sprachen ist nach meinem Dafürhalten zugleich das natürliche System 2 18 der Menschheit. Mit der Sprache hängt aber aufs Genaueste zusammen die ganze höhere Lebens- thätigkeit des Menschen , so dass diese zugleich in und mit der Sprache die ihr gebührende Berück- sichtigung erfährt. Dass jedoch Grehirubildung und die durch das ' Gehirn bedingte Schädelform auch für die Sprache Yon Bedeutung sein dürften , wird natürlich von uns keinesweges in Abrede gestellt. Ebenso wenig kommt es uns in den Sinn, die hohe Bedeutsamkeit der genauen Erforschung der körperlichen Ver- schiedenheiten des Menschen zu bezweifeln ; nur die Berechtigung dieser Unterschiede als Eintheilungs- grund der jetzt lebenden Menschheit möchten wir in Frage stellen. Die Thiere mag man nach ihrer morphologischen Bildung anordnen ; für den Men- schen erscheint uns die äussere Gestalt gewisser- massen als ein nunmehr überwundenes , als ein für sein eigentliches, wahres Wesen mehr oder minder bedeutungsloses Moment. Den Menschen zu classi- ficieren bedürfen wir, so bedünkt uns, feinerer, hö- herer, dem Menschen ausschliesslich eigenthümlicher 19 Kritei'ieii. Diese finden wir, wie gesagt, in der Sprache. Doch nicht nur für den Aufbau eines natur- wissenschaftlichen Systems der Menschlieit, so wie -10 sich jetzt der Betrachtung darbeut, scheint uns die Spraclie von Bedeutung, sondern auch für die Entwickelungsgeschichte derselben. Wir gelangten bisher zu dem Ergebnisse, dass die Sprache den Menschen überliaupt als solchen kennzeichne und dass demnach auch die verschiedenen Abstufungen der Sprache als die wahrnehmbaren characteristi- schen Merkmale verschiedener Abstufungen des Menschen zu betrachten seien (die Ausdrücke 'Art' oder 'Species' oder 'Varietät^ vermeide ich aus naheliegenden Gründen absichtlich^ Nun aber er- weist sich die Sprache der wissenschaftlichen For- schung deutlich als etwas ganz allmählich Geworde- nes, als Etwas, das einmal noch nicht vorhanden war. Die vergleichende Anatomie der Sprachen weist nach, dass die höher organisierten Sprachen aus ein- facheren Sprachorganismen ganz allmählich, wahr- scheinlich im Verlaufe sehr lauger Zeiträume sich 2* 20 entwickelt haben : die Glottik findet zum Mindesten nichts, v/as der Annahme widerspräche, dass die einfachsten Gedankenäusserungen mittels des Lautes, dass die Sprachen einfachsten Baues allmählich aus Lautgebärden und Schalinachahmungen, wie sie auch die Thiere besitzen , hervorgegangen sind. Dies näher hier zu begründen würde viel zu weit führen, auch glaube ich, dass gerade von Seite der jetzigen Naturforschung diese Ergebnisse der Glottik am We- nigsten für unwahrscheinlich gehalten werden dürften. Eine V/iderlegung der Ansicht, die Sprache sei die Erfindung eines Einzelnen, oder sie sei dem Menschen von Aussen her mitgetheilt worden, glaube ich mir füglich ersparen zu können. Die Sprache, die wir auch in dem kurzen Zeiträume des bisherigen geschichtlichen Lebens der Menschen in fortwährender Veränderung begriffen sehen , gilt uns also als das Product eines allmählichen Werdens nach bestimmten Lebensgesetzen, die wir in ihren wesentlichen Zügen aufzuzeigen im Stande sind. Auch verträgt sich mit der Annahme einer mate- riellen Grundlage der Sprache in der somatischen •21 licschaffculieit des Menschen nur die der Kiitstc- liiiiig und p]nt\vickehiiig der SjJi-aclic zugleich mit der Ausbildung des Gehirns und der Sprachorgane. Macht nun aber erst die Spraclie den Men- schen, so sind unsere Urväter von Anfang an nicht das gewesen , was wir jetzt Mensch nennen , denn dies wurden ' sie ja erst mit der Ausbildung der Sprache. Ausbildung der Sprache ist uns aber gleichbedeuteiid mit Entwiclcelung des Gehirns und der Sprachoigane. So leiten also die Ergebnisse der Glottik ganz entschieden auf die Annahme einer allmählichen Entwickelung des Menschen aus niederen Formen; eine Ansicht, zu welcher be- kanntlich die Naturwissenschaft unserer Tage von ganz anderer Seite her ebenfalls gelangt ist. Schon deshalb dürfte also die Sprache für die Natui'for- schung, speciell für die Entwickelungsgeschichte des Menschen, von Bedeutung sein. Doch liefert uns die Betrachtung und Zergliederung der Sprachen auch die Grundlagen zu Schlüssen, die zu genau- eren Anschauungen von der Urzeit unseres Ge- schlechtes führen. Die Sprachen, die bis jetzt bis in ihre ein- fachsten Elemente zerlegt werden konnten, und die, welche auf der einfachsten Entvvickelungsstufe ste- hen geblieben sind, zeigen, dass die «älteste Form der Sprachen überall wesentlich dieselbe war. Das Aelteste, woraus die Sprachen bestunden, sind Laute zur Bezeichnung von Anschauungen und Begriffen. Von Beziehungsausdrücken (Unterscheidung der Wortarten, Declination, Conjugation) ist hier noch nicht die Rede, alles dies erweist sich als etwas später Gewordenes , zu dem manche Sprachen sich gar nicht und auch nicht alle Sprachen in gleich vollkommener Weise sich entwickelt haben. So ist, um nur eines anzudeuten , im Chinesischen noch heute zu Tage kein lautlicher Unterschied der Wortarten vorhanden;' wahre Verba, im Gegensatze zu den Nominibus, habe ich aber von allen mir bekannt gevrordenen Sprachen nur im Indogermani- schen gefunden.*) Morphologisch, aber eben nur morphologisch, sind nach unseren Ergebnissen ur- *) Y'A Die ünterscheiduiia: von Nomen und Vei-bum 2,-! sprünglicli alle Sprachen sich wesentlich gleich ; da- gegen müssen auch diese ersten Anfänge schon im Laute sowohl, als auch nach den Begriffen und An- schauungen , welche lautlich reflectiert wurden und ferner nach ihrer Entwickelungsfähigkeit verschie- den gewesen sein. Denn es ist positiv unmöglich alle Sprachen auf eine und dieselbe Ursprache zu- rückzuführen. Vielmehr ergeben sich der vorur- theilsfreien Forschung so viele Ursprachen, als sich Sprachstämme unterscheiden lassen. Im Laufe der Zeit gehen aber fort und fort Sprachen unter, neue entstehen nie , da dies nur in jener Periode statt- finden konnte, als der Mensch überhaupt zum Men- schen ward. In den offenbar sehr langen Zeiträu- men vor der eigentlichen Geschichte sind höchst wahrscheinlich unzählige Sprachen zu Grunde ge- gangen, während andere sich weit über ihr ur- sprüngliches Gebiet hinaus ausbreiteten und sich dabei in eine Mannigfaltigkeit von Formen differenzierten. in der lautlichen Form. Lpz. 1865 (Abhh. der philoL- histor. Classe der kön. S. Ges. der Wiss. Bd. IV No. V). 24 Wir müssen demnach eine unbestimmbare grosse Anzahl von Ursprachen voraussetzen. Das spätere Leben der Sprachen kennen wir zum Theile aus unmittelbarer Anschauung. Die- selben Lebensgesetze, die wir wirklich beobachten können , nehmen wir auch für die Zeiträume als im Wesentlichen giltig an , die sich der unmittel- baren Beobachtung entziehen , also auch für die erste Entstehung der Sprachen , die ja auch nur als ein Werden gedacht werden kann. Da wir nun wahrnehmen können, dass im späteren Sprachleben bei Menschen , die unter wesentlich gleichen Ver- hältnissen leben, auch die Sprache gleichmässig sich verändert und zwar in allen Individuen, welche die Sprache reden, spontan und in übereinstimmender Weise, so müssen wir auch schliessen, dass bei solchen Wesen , die unter gleichen Verhältnissen, also nahe bei einander lebten, auch wesentlich ein und dieselbe Sprache in sämmtlichen Individuen sich entwickelte. Je verschiedener die äusseren Verhältnisse waren, unter denen sich die Menschen 2r zu Menschen cntwiclceltcn , desto verschiedener mögen auch ihre Sprachen sich gestaltet liaben. Trotz der in geschichtlicher Zeit und gewiss auch in den ungleich längeren vorgeschichtlichen Perioden vielfach durch Wanderungen, Kriege, Na- turereignisse u. s. f. gestörten ursprünglichen Ver- hältnisse, kann man noch jetzt erkennen, dass die Sprachen ganzer Theile der Erde, bei aller Ver- schiedenheit, doch einen übereinstimmenden Cha- racter zeigen , etwa wie die Floren und Faunen ganzer Erdstriche. Dies gilt vor Allem von den Aboriginersprachen der neuen Welt, ferner von sämmtlichen Sprachen der südlichen Inselwelt (von den malajisch-polvnesischen Sprachen und den bis jetzt bekannt gewordenen Sprachen der Australne- ger). Auf diesen weiten Gebieten zeigt sich eine merkwürdige Gleichförmigkeit der Sprachen, ohne dass man diese deshalb sämmtlich von einer Grund- sprache herleiten liönnte. Am Buntesten durch einander geworfen sind die Sprachen von Asien- Europa, das uns sprachlich als ein Welttheil gilt, wahrscheinlich in Folge des hier gerade frühe 26 schon erwachten geschichtlichen Lebens. Aber selbst hier lassen sich noch die Spuren eines ge- meinsamen Typus in ganzen Gruppen verschiedener Sprachstämme erkennen.*) Die Enstehung der sprachlichen Formen auf der Erde, d. h. die Entwickelung der die Sprache bedingenden Organe, scheint demnach von gewissen bestimmten Verhältnissen abhängig gewesen zu sein. Wir haben Grund zu vermuthen , dass in wesentlich gleichartigen, benachbarten Gebieten unabhängig von einander ähnliche Sprachen enstunden und dass an anderen Theilen der Erdoberfläche andersartige Sprachtypen sich entwickelten. Dergleichen von der Betrachtung der Sprachen an die Hand gege- bene Schlussfolgerungen für eine gewisse Periode in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit dürf- ten wohl der Aufmerksamkeit der heutigen Natur- forschung nicht unwerth sein , selbst dann , wenn man der Sprache und ihrer materiellen Grundlage *) Vgl. die Darwinsche Theorie und die Sprach- wissenschaft, Weimar 1863 S. 24 flg. 27 in der Organisation des Mensciienleibes nicht jene hohe Bedeutsamkeit zu zu gestehen geneigt sein soll-' te , die wir für dieselbe in Anspruch nehmen möchten. Zum Schlüsse dieser Skizze sei nur noch an- gedeutet, dass die Entstehung und Entwickelung der Sprache vor die Geschichte im eigentlichen und engeren Sinne fällt. Was wir Geschichte oder geschichtliches Leben nennen , füllt bis jetzt wol nur einen kleinen Bruchtheil des Zeitraumes, wel- chen der Mensch als solcher bereits durchlebt hat. Innerhalb der Geschichte sehen wir die Sprachen nur nach bestimmten Lebensgesetzen in Laut und Form altern. Die Sprachen, w-elche wir jetzt spre- chen, sind, wie alle Sprachen geschichtlich bedeu- tender Völker, senile Sprachexemplare. Sämmt- liche Sprachen geschichtlich entwickelter Völker, soweit sie überhaupt uns in hinreichendem Maasse bekannt sind, und demnach auch ihre leiblichen Sprachorgane sind längst mehr oder minder in rück- bildender Metamorphose begriffen. Sprachbildung und geschichtliches Leben lösen einander im Le- bensverlaufe der Menschheit ab. 28 So ist es denn vielleicht gestattet das bisherige Leben des Menschengeschlechtes uns in drei grosse Entwickelungsperioden zu zerlegen, die natürlich nur allmählich und nicht überall gleichzeitig in einander übergiengen. Diese Perioden sind 1) die Periode der Entwickelung des körperlichen Orga- nismus nach seinen wesentlichen Zügen , wahr- scheinlich von ungleich längerer Zeitdauer als die folgende Periode und hier von uns nur der Kürze wegen als ein Abschnitt betrachtet; 2) die Periode der Entwickelung der Sprache; 3) die Periode des geschichtlichen Lebens, in deren Anfängen wir noch stehen und in welche manche Völker der Erde noch nicht eingetreten zu sein scheinen. So wie wir nun wahrnehmen können, dass ge- wisse Völker, so die Indianerstämme Nordamerikas, schon ihrer unendlich complicierten und in Formen wahrhaft wuchernden Sprachen wegen für das ge- schichtliche Leben ungeeignet sind und deshalb nunmehr einer Rückbildung, ja dem Untergange verfallen, so dürften sich auch höchst wahrschein- lich nicht alle auf dem Wege zur Menschwerdung 29 begriffenen Organismen bis zur Spraolibildiing hin- auf entwickelt haben. p]in Theil von ihnen blieb in der PCntwickekmg zurück, trat nicht in unsere zweite Entwickelungsperiode ein, sondern verfiel einer Rückbildung und, wie alle derartigen Ver- kümmerungen, dem alimähliehen Untergange. Die Reste dieser sprachlos gebliebenen, verkümmernden, nicht zur Menschwerdung gelangten Wesen liegen uns in den Anthropoiden vor. Und so sei es mir denn verstattet mit dem Hinweise auf diese Lieb- linge der heutigen Naturforschung diese flüchtigen Andeutungen über die Bedeutung der Sprache für die Naturgeschichte des Menschen zu beschliessen. Verlag von H. BÖHLAU in Weimar. Die Darwinsehe Theorie und die Sprachwis- senschaft. Offenes Sendsclireiben an Herrn Dr. Ernst Häckel, a. o. Professor der Zoo- logie und Director des zoologischen Museums an der Universität Jena. Von Aug. Schleicher. 1863. 6 Sgr. Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen von August Schleicher. 2 Bände. 5 Thlr. I. Band: Lautlehre. 2 Thlr. II. Band: Formenlehre. 3 Thlr. Litauische Märchen , Sprichworte , Rätsel und Lieder. Von Aug. Schleicher. 1 Thlr. 10 Sgr. Volkstümliches aus Sonneberg im Meininger Oberlande von August Schleicher. Preis 1 Thlr. Historische Grammatik der englischen Sprache von C. Friedrich Koch. L Band: Die Laut- und Flexionslehre. Preis 2 Thlr. 15 Sgr. V Verlag von H. BÖHLAU in Weimar. Ueber Goethe's Farbenlehre. Von Dr. A. Ader- holdt. 10 Sgr. Leib und Seele. Zur Aufklärung über Köhler- glauben und Wissenschaft. Von Julius Schaller. 3. Aufl. I Thlr. 5 Sgr. Das Seelenleben des Menschen. Von Julius Schaller. 2 Thlr. In demselben Verlage erscheint demnächst: Die Wurzel AK im Iiidogermaßischen. Von Dr. Johannes Schmidt. Mit einem Vorwort von August Schleicher. Weimar. — Hof -Bachdruckerei. ^ » 1 ^ (Q). " ~ " ^° '.'^^W*^ Deacidified using the Bookkeeper process. Neutralizing agent: Magnesium Oxide Treatment Date: June 2006 PreservationTechnologies A WORLD LEADER IN PAPER PRESERVATION 1 1 1 Thomson Park Drive Cranberry Township, PA 16066