1 Der iirztliche Stand 2 ^^5 nil cl lessen besondere Gefahren. Supplement zu der Ahhanrtlung fiber ,,Die Kunstfehler der Aerzte" nebst neuer Casnistik, Von . Dr. A. Kuhner, Gerichtsarzt a. D. Den Honig irdischer Weisheit sammeln wir nicht aus Blumen, sondern aus Dornen.i Frankfurt a. M. Drnck und Yerlag von Gebriider Knaner. THE LIBRARY OF THE UNIVERSITY OF CALIFORNIA LOS ANGELES GIFT OF Was kann der Arzt tliiin. urn An sch ul dig ung en wegen vorgeblicher ocler wirklich begangener Kunstfehler zu verhiiten. und was muss er tliuu, urn solche Gefahren. wenn sie herangetreten. AV i r k s a m z u b e s e i t i g e n ? Icli erinnere niicli noch jenes Morgens an welchem ein im Dienst ergrauter Wundarzt, seit einem Menschen- alter mehr gewohnt . das Messer als die Feder zu fiihren nnd urplotzlich in den Anklagestand wegen fahrlassiger Tod- tung versetzt, bei mir vorsprach und sicli meine Beratluiug erbat. Fiir den uachsten Tag war die Ausgrabung der Leiclie verfugt und der Angeschuldigte. wie es gesetzlich geschehen muss, zur Theiluahme an der Obduction geladen Avorden. Fiir den Unbefangenen Avar die Xichtigkeit der erhobenen Einwande vorauszusehen. aber ich frage, Avie soil sicli eine Personlichkeit unter solclien Umstanden, der gesetzlichen Bestimmungeu ganz unkundig, der diplomatischen Sprache und Kunst niclit fahig. zusammeiigebrochen unter dem Di-uck der so sclrwer auf ihn lastenden Ereignisse, A^ertlieidigen ? Hingesehen auf solche schwierigen Lebenslagen habe ich in einer A'or drei Jahren liber diesen Gegenstand \ 7 eroffentlicliten Schrift 1 ) versucht, die rechtliche Verantwortung arztlicher Be- rufsthatigkeit gemeinsam fur Aerzte und Juristen darzustellen. Beiden gewisse Anhaltspunkte zur praA^entiven und straf- gesetzlichen Behandlung der sog. Kunstfehler der Aerzte zu geben. Was ira Weiteren zur Verhiitung und Behandlung J ) Die Kunstfehler der Aerzte vor dem Forum der Juristen. Gebr. Knauer in Frankfurt a. M., 1886. dieser anliebsamen Vorkommnisse geschehen kann. soil im Narhfolgenden Gegenstand (let- Erdrtermig werdeu. Es ist dcnizafolge vorliegende Arbeit als der zweite Tlieil, als ein Supplement der B Kanstfehler der Aerzte" 1 zu betrachten. Es ist eine traurige Erfahning, dass die meisten Menschen gewissen Bedingungen and Gesetzen zur Erhaltung ihres Da- st'ins nicht eher ihre voile Aai'nierksanikeit zuwenden, als bis sie durch Kraakheit daza genothigt werden. Mit vollen Segeln daivhkreazen sie den Ocean des Lebens, ebeuso an- bekannt mit den Eigenschafien de o s Fahrzeages, welches sie tragt. als mit dem Elemente. ant dem sie sich bewegen. Erst Avenn der Starin der Leidenschaften, tansend Klippen and Kiffe von Schiidliclikeiten des Lebens an die Gebrechlichkeit des Korpers and Hmfalligkeit des Geistes inahnen, erst dann raft man angstvoll nach einem Arzte, damit er, dem Lootsen gleich, das lecke Schiff der Gefahr entreisse and in das rich- tige Fahrwasser leite. So, wie wir eine angeeignete Pliege des Korpers, Mangel an Sorgfalt. den Verstoss gegen ge- wisse Gesetze der Gesandheit and Lebensordnung oftrnals bei Kranken als Folgeerscheinang constatieren, ebenso haben wir ans im Allgemeinen eine gewisse ISorglosigkeit, wie ich vermathe, zaztierkennen in Betreff erheblicher Gefahren, welche aus selbst bei der gewissenhaftesten Aasiibang in ansern Berafshandlangen drolien. Das Wir ken des Arztes anterliegt dem gem ein en Reclit and bei der Unza- langlichkeit menschlicher Erkenntniss iiberhaapt. sowie bei der Ermangelang bestimmter leitender Grandsatze 1'iir das arztliche Handeln insbesondere, scbiitzt innerhalb der Breite der gegenwartigen strafgesetzlichen Bestimmangen selbst das reichste Wissen, die grosste Geschicklichkeit vor Anklagen wegen kanstwidrigen Handelns nicht, wenu Bos- willigkeit, anlaiitere Motive oder eine Combination ge- wisser Umstande in Mitwirkang treten. Alle diese Um- stande miissen ans gegenwartig sein, am Anschaldigangen in Betreff vorgeblicher Knnstfehler wirksarn zn begegnen and solche,- wenn sie wirklich herangetreten . erfolgreich za behandeln, urn so mehr. als selbst die schnodeste Beschuldigung angeblich n falsch Behandelter" entscheidend werden kann fiir den Ruf, ja selbst oft fiir das Schicksal des Arztes. Besonderheiten in Bezug auf Gefahren und Ungliicks- falle drohen zwar jedem Stand ! Vergleichen wir die Statistik friiherer Jahre mit der gegenwartigen, so finden wir Berufs- krankheiten, Verungliickungeu verzeichnet, die friiher dem Weseu und Namen nach ganz unbekannt. Aber dem jlrztlicheii Stand drohen gerade in neuerer Zeit besondere Gefahren, die man als eine eigenartige Krankheit bezeichnen konnte. Ihr Verlauf geschieht meisteus geheim; man spricht nicht gern davon, wenn Jemand einmal von ihr ergriifen worden, sie befallt mit Vorliebe gewisse Kreise, aber sie sucht ihre Opfer bisweilen auch unter den hochsten Regionen und sie wird namentlich bei schlechter Behandlung gefahrlich. Ihr Vor- kommen ist nicht haufig, so dass es vielleicht gewagt erscheinen durfte, sich iiberhaupt mit deren Wesen zu beschaftigen. Seltene Vorkommnisse erregen indess sehr haufig durch die Schreck- haftigkeit ihres Auftretens unsere besondere Aufmerksamkeit. Eine Reihe der gefiirchtetsten Krankheiten und ihr seltenes Vorkommen konnten in dieser Beziehung namhaft gemacht werden. Ich habe mich seit langer Zeit einer geeigneten Behandlung dieser Krankheit mit Vorliebe angenommen, obschon ich mich von Anbeginn beharrlich gegen die Unterstellung verwahrt, als sei diese Bestrebung der Einfluss irgend einer individuellen Erfahrung. Mit vielen anderen habe ich jenen eigenthiimlichen Zustand als n Kunstfehler" bezeichnet, eine Benennung. die an sich schon ahnliche Vorkommnisse bei uuberechtigter Ausiibung der Heilkunde ausschliesst ; der Naturarzt, der Kurpfuscher kann Kunstfehler nicht begehen, er betreibt keine Kunst, weil er sie nicht erlernt hat. Ich mochte jene Bezeichnung auch fiir die Folge sowohl aus Riicksichten fiir den angeschuldigten Arzt als fiir den Gerichts- arzt, der dem Richter das Material zu liefern hat fiir die Beurtheiluug straf barer Fahrlassigkeit , beibehalten wissen, obschon man mit Recht geltend macht, dass jener Begrift' l* nicht in den Rahmen der gegenwiirtigen gesetzliclien Bestim- mungen passt und dass mit der deutschen Gewerbeordnung die B Grenzen der Kunstbereclitigung" eigentlich gefallen sind. Ueber diesen Gegenstand sind seit dem Erscheinen des ersten Theiles vorliegender Schrift sehr schatzenswerthe Beitrage von Deneke, 1 ) Baer, 2 ) Falk, 3 ) Ortloff, 4 ) Mayer 6 ) u. A. gegeben worden. Ich komme hierauf spater zurttck. Ich selbst habe mehrere Falle veroffentlicht, deren ungewohn- liche, mitunter recht schiefe Beurtheilung von Seiten der Sachverstandigen bei den Aerzten allgemeinen Antheil gefun- den, Verhandlungen, die bei anderweitiger wissenschaftlicher Begriindung gewiss einen ganz andersartigen Ausgang genom- raen hatten. Diese Veroffentlichungen liaben ahnliche Vorkommnisse, die bislang im Dunkeln gelegen, an das Tageslicht gebracht. von alien Seiten sind interessante Beitrage, Bestatigungen. Berichtigungen eingegangen und selbst die Wissenschaft ist dadurch, wie ich spater zeigen werde, wesentlich gefordert worden, indem Mb'glichkeiten, deren Vorkommen von Autori- taten bestritten, als Thatsachen bestatigt worden sind. Man liat micli vielfach gewissermassen als eine Centralstation betrachtet. nach welcher ungewohnlicheVorkommnisse gemeldet, urn von dort Verarbeitung , Verwerthung, Verbreitung zu linden und es ist eine Pflicht der Dankbarkeit, die ich gegen- iiber alien Denen, die micli durch gutigen Beistand bei diesem Unternehmen unterstiitzt. erfulle, wenn ich aus dem vorliegen- J ) Kunstfehler der Aerzte. Vortrag gehalten vor dem XV. Aerzte- tag in Dresden am 4. Juli 1887. Leipzig. Ackermann & Glaser. '-') Eulenburg's ^Real-Encyclopiidie". 2. Aufl. Art. Kunstfehler. 3 ) Zur Frage der strafrechtlichen Verfolgung von Kunstfehlern. Separat-Abdruck aus der ^Zeitschrift fur Medicinalbeamte". *) n Gerichtlich-raedicinische Falle und Abhandlungen". Heft III. Straf- bare Fahrlassigkeit bei Ausiibung der Heilkunst. Berlin SW., Siemenroth & Worms. 1888. 5 ) Die von Aerzten mit Uebertretung ihrer Berufspflichten begangene fabrlassige Tb'dtung und Korperverletzung. In ,Friedreich's Blatter ftir gerichtliche Medicin". Heft II, III, IV. 1888. i-J den werthvollen , massenhaften Material geeignete, ftir die Aerzte nutzbare Schlusse ziehe und im Nachfolgenden der Oeffentlichkeit iibergebe. Icli bespreche zunachst die in praktischer Bezielmng ungemein wichtige Forderung der praventiven Massregeln, die Prophylaxis der Ivunstfehler der Aerzte. Fur Diejenigen, die von den gegebenen Veroffentlich- migen iiber den Gegenstand noch nicht Kenntniss genommen, habe ich zunachst den Begrilf Kunstfehler u festzustellen. Diese Lehre betrifft im Allgemeinen die Beschadigung des Menschen durch unangemessenes Heilverfahren. Insbesondere ist, da es sich hier nur urn die Zurechnung arztlichen Ver- fahrens handelt, als straf barer Kunstfehler nur dasjenige Handeln oder Unterlassen der Heilpersonen zu beurtheilen, welches vom jeweiligen Standpunkt der Heilkunst, aus dem Grund nachtheilig anerkannt wird-; weil es den als axiomatischen Wahrheiten geltenden Naturgesetzen oder den allgemein anerkannten Eegeln der Heilkunst zuwiderlauft mid der dadurch nachweisbar verursachte Schaden nach den berufsmassig vorausgesetzten gemeinen Kenntnissen und Fertigkeiten bei gehoriger Aufmerksamkeit hatte ver- mieden werden konnen. Eine im ersten Theil vorliegender Arbeit nicht zu Stande gebrachte Definition der Kunstfehler der Aerzte ware somit hier gegeben. Immerhin darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass dies nur eine kiinstliche Eintheilung ist, welche zwar dazu dient, die Masse der Vor- kommnisse zu umfassen , etwa vorkommende Einzelheiten indess nicht erschopfend zu begreifen vermag. Die Natur zeigt im Grossen wie im Kleinen uberall in ihrem Walten eine wunderbare, wechselvolle Vielseitigkeit. Wenn auch fur das arztliche Thun und Lassen zuuachst allgemein giiltige Eegeln der Kunst massgebend sein werden, so kann es doch vorkommen, dass der Einzelne aus wissenschaftlicher Ueber- zeugung, aus Griinden der Zweckmassigkeit, nach Lage der augenblicklichen Configuration und einer Menge hier gar nicht vorauszusehender Umstande sich vollig von den herrschenden Grundsatzen entfernt, nach eigner. alter oder neuer Anschauung verfahrt, tmd es kann der einzelne Fall so eigenartig gestaltet sein, dass er nach den gewuhnliclien Regeln der Kunst gar nicht zu behandeln 1st. So, wie nun fur jeden Stand manche demselben droliende Gefahren und Ungliicksfalle bei geeignetem Verhalten ver- meidbar. ebenso sind fur den Arzt gewisse Vorsichts- massregeln erforderlich , um Anschuldigungen in Betreff vorgeblicher Kunstfehler wirksam zu begegnen. Diese Vorsichtsmassregeln betreft'en zunachst das V e r- halten des Arztes gegeniiber dem Kranken. Ich furchte, dass die ]\lehrzalil der Collegen sicli noch nicht klar geworden ist, dass nach Erkenntnissen, die hier vorliegen, durch Uebernahme eines Kranken von Seiten des Arztes ,,nichtersteineRechtsbeziehungzwischenBeiden hervorgerufen wird, sondern dass dieselben von vorn herein in einera Vertragsverhaltniss zu ein- ander treten der Art, dass die Parteien durch concludente Handlungen einen Vertrag mit ein- ander eingehen. Dass die Willensraeinung der Parteien nicht in Worten, sondern in Handlungen zum Ausdruck gelangt ist, steht der Vertragsannahme nicht entgegen. Es ist hinreichend. wenn der Wille in ausserlich erkennbarer Weise hervorgetreten ist, und haftet der Arzt auch fiir ein geringes Versehen." Darin aber sind gewiss alle Aerzte einig, dass, wenn ein derartiges Verhaltniss zu Recht besteht, es nur in beschranktera Maasse, unter gewissen Bedingungen und in Ausnahmefallen in Betracht kommt. Unsere Beziehungen zum Kranken regeln Riicksichten der Convenienz, Takt, Anstand, Sitte und vor Allem die Pflicht. Nicht nur das ist Unrecht, was von den Gerichten geahndet werden kann und soil, und nicht schon das ist Recht, was jene nicht vor sich ziehen. Der Arzt ist vor Allem an das Gewissen, an die dieses erfiillenden Grundsatze und Lehren der Moral und Humanitat gewiesen, die ihn um so sicherer leiten. je weniger hier zwischen denselben und denjenigen des Rechts dem luhalt nacli eine Verschiedenheit stattfindet. Wenn aber uns eine Reehtsbeziehung zuerkannt wird, wenn dieser zufolge der Arzt in alien Fallen haftet fiir ein geringes Versehen, so geht fiir uns hieraus zur Geniige hervor, dass aucli derKranke seinerseitsliaftet fiiralle nach- theiligenFolgen, welche auseinerNichtbefolgung arztlicher Anordnungen entstehen konnen und entstanden sind. Und wie steht es mit der Befolgung dieser Anordnungen, zu deren gewissenhaften Vollzug der Kranke mit Eingehung in jenes Vertragsverhaltniss die Verpflichtung iibernimmt? Der Arzt hat hier nur zu rath en, nicht zu gebieten. Er ubernimmt die schone, den Stand so ungemein zierende Auf- gabe, den Kranken tutu, cito et jucunde zu heilen, urn sich leider nur zu oft friiher oder spater zu iiberzeugen, dass nichts von alien Einzelheiten der Behandlung, die er in der rigorosesten Weise angeordnet. oder wenig genug vom Kranken zur Ausfiihrung gelangt. Gleichwohl zuerkennt dieser und mit ihm die offentliche Meinung ganz allgemein jede ungiinstige Wenclung lediglich dem behandelnden Arzt. Wenn der Kranke trotz eifriger Vorstellungen bei seinen schadlichen Gewohn- heiten beharrt, den Erfolg der Kur duroh die widersinnigsten Massnahmen durchkreuzt, wenn er sich der in Anbetracht grosser Eutfernung, Mangel an Apparaten, Schwierigkeit der Behandlung, kurz in Beriicksichtigung einer Menge hier gar nicht zuvor zu berechnender Thatumstande vom Arzt fur nothwendig erachteten Aufnahme in ein Krankenhaus wider- setzt, bei einer innern Erkrankung gegen die Vorschriften der Diat und des iibrigen Verhaltens fehlt, bei einer Wunde, einer Luxation, einer Fractur, trotz arztlichen Abrathens vorzeitige Bewegungen, Gehversuche, wie ich in meiner Praxis unzahlige Male in Erfahrung gebracht, unternimmt, wenn er den arztlichen Directiven ganzlich zuwiderhandelt, wie kann dann der Arzt die Verantwortung tragen fiir einen ungiinstigen Erfolg! (Man vergl. den sehr instruktiven Fall 12 der Casuistik.) Aus dieser Betrachtung erwachst fiir den Arzt die strenge Forderung, in jedeni Fall diese Anordnungen ein- ge he lid uncl. rigor us zu geben, um eventuell eine wesent- liche Stiitze bei etwa erhobenen Vorwiirfen suchen und finden zu konnen. Die Anordnungen seien stets so bestimmt, dass Missverstandnisse niclit leicht vorkommen konnen. Und welcher Arzt wiisste nicht aus seiner Praxis die abenteuerlichsten Falle zu erzahlen, in denen durdi ungeeignete Befolgung der einfachsten Rathschlage nachtheilige Folgen entstanden sind! Erst kiirzlich berichtete die Lancet" folgendes Vorkommniss : Eiuem alten bretonischen Bauer hatte der Arzt wegen eines unbe- deuteuden Leidens eine Arzuei und gleichzeitige Applikation von Blntegeln verordnet und letztere auf Wunsch des Kranken in einer Anzahl eiues halben Dutzeud ihm selbst besorgt. Die Frau des Bauern, in Uukenntniss iiber die' Zubereitungsart der Tliierchen, befragte einen Xachbar. der ihr den Bratprozess als das geeigneteste Verfahren empfalil. Der Kranke war nach dem Genuss des ersten iiber den bittereu Geschmack derart entrustet, dass er sich weigerte, in der Mahlzeit fortzufahren. Erst nach langerem Zureden der liebenden Gattin, dass eine Arzuei unter alien Umstanden verbraucht werden miisse, verstaud sich der Aermste unter heftigem Wiirgen dazu, auch die iibrigen seiuein Magen einzuverleiben. In Folge dieser Mahlzeit erkraukte er aber derart, dass er bald darauf starb. und eiue Vergiftung durch die Blutegel angenommen wurde. Die Wittwe strengte alsbald eine Klage gegen den betreffendeu Arzt an, der jedoch uach aller Kichtuug bin freigesprochen wurde. Icli selbst kann folgenden Fall bericliten: Kin Bote ging znr Stadt um eiue in Aussicht gestellte Verordnung gegen ein chrouisches Kniegelenksleideu bei mir abzuholen. Der simple Meusch, den man in Ermangeliing einer geeigneten Person zur Erntezeit geschickt hatte, traf mich nicht an und Hess der Dienerschaft ein Arznei- gefass zuriick, welches er eventuell in der Apotheke abgeben sollte. Das Arzneiglas wurde in mein Zimmer gebracht. Tags zuvor hatte ich nun einem anderen Krankeu Collodinm cantharidatum verschrieben. das Eecept aber auf Gruud weiterer Information als ungeeignet zuriickgelegt. Dasselbe enthielt aus diesem Grand eine Namensbezeichnung nicht. Das Dienst- madcben, findet beim Beinigeu des Zimmers dieses aiif dem Fussboden liegende Recept und weist demselben ihrer Meinung uach gewiss sehr ordnungsgemixss einen Platz unter jenem Arzneigefass an. Bei meiner Riickkehr auf kurze Zeit blieb mir dies unbemerkt. Nunmehr fragt der Bote nach der Verorduung unter Himveis auf das abgegebene Glas. Ein auderes Dienstmiidchen ubergibt ihm das Glas und ihrer Ansicht nach gewiss ebenfalls ordnungsgemass das darunter liegende Eecept. Am andern Tag werde ich benachrichtigt, dass die vorgeblich von mir verordnete Einreibung ungemein heftige Schmerzen und Blasenbildung verursacbt habe. Ich besuche den Kranken und werde sofort iiber die Situation klar. Ein Kunstfehler war ohne Zweifel von mir begangen worden, zum Gliick ohne bleibenden Nachtheil und ohne Erfolg einer Klage. Der Apotheker war zur Abgabe des Mittels im Haudverkauf ohne Namens- bezeichnung bereehtigt. Ein Irrthum hatte nicht vorkommen konnen, wenn ich das bei Seite gelegte Recept auch sofort zerrissen hatte, wie ich es auf Grund dieser Erfahrung und mit mir gewiss alle Aerzte zu thun pflegen. Dieser Fall lehrt, wie selbst die einfachsten Thatum- stande durch eine Combination verschiedener Verhaltnisse zu Anklagen fuhren konuen, Combinationen, fiir welche gewiss jeder erfahrene Arzt Belege wird erbringen konnen. Hierbei sei der Gewohnheit der Aerzte gedacht, Becepte mit Bleistift zu schreiben. In einer ausgedehnten Landpraxis ist diese Sitte sehr gewohnlich und fast unumganglich. Ich habe tausende von Verordnungen in dieser Art ohne Bedenken geschrieben. Neuerdings vorgekommene Falle mahnen zur Vorsicht. Aus Paris wird gemeldet (Tagesblatter vom De- cember 1888): Der Unterprafekt inBarcelonette erlag am 25. December eiuer durch ein Missverstandniss herbeigefiihrten Vergiftung. Sein Bruder, ein Arzt, hatte ihm friih um 10 Uhr gegen Migrane 1 g Antipyrin verschrieben uud das mit Bleistift geschriebene Eecept zum Dr. Eichaud geschickt. In dessen Abwesenheit verabfolgte dessen Schwester , Atropin lesend , 1 g dieses furchtbaren Giftes. Bei seiner alsbald erfolgten Heimkehr stellte Dr. Kichaud den verhangnissvollen Irrthum fest und eilte zu seinem Collegen, es war zu spat: der Kranke hatte das Gift seit 2 Minuten genommen und begann bereits dessen Wirkungen zu empfinden. Er starb trotz aller Gegenmittel Abends um 9 Uhr. Aehnliche Erfahrungen liegen iiber Chloralhydrat und andere Arzneimittel vor. Das Bedenkliche der Gewohnheit. Recepte unleserlich oder mit Abkiirzungen, die zu Missver- standnissen Anlass geben konnen, zu schreiben, leuchtet hiernach ein. Weitere Vorsichtsmassregeln zur Verhiitung von An- schuldigungen in Betreff vorgeblicher Kunstfehler werden erfordert durch die Natur derKrankheit, das kranke Individuum und das dieserhalb einzuschlagende 10 Verfahren, sowie (lurch die begleitenden Umstande und Zustande des Organismus. In dieser Beziehung ware es zunachst unsere Aufgabe, jener Errungenschaft der Neuzeit, jener eigenthumlichen Behandlungsweise der Wunden zu gedenken, welche man als Antiseptik bezeichnet und ihre Beziehungen zur rechtlichen Verantwortung der Aerzte zu beleuchten. Wir konnen und diirfen uns der Thatsache nicht verschliessen , dass durch die antiseptische Wtmd- behandlung tausende in friiherer Zeit unrettbar verlorene Menschen und deren Glieder erhalten, zur Functionsfahigkeit zuriickgefiihrt werden, .dass die Dauer des Krankenlagers mit seinen Gefahren, sowie die Dauer der Arbeitsunfahigkeit urn ein Erhebliches herabgemindert wird, dass erne prima intentio ohne entstellende Narben nahezu zur Regel gehort. Kein Arzt wird und darf diese Thatsachen und Erfahrungen leugnen. Aber nur im Allgemeinen kann man die Befolgung strenger antiseptischer Cautelen als rechtliche Forderung an den Arzt stellen. Im Besonderen konnen ihm ortliche, zeit- liche, aussere Verhaltnisse mannigfacher Art, sowie die Nothwendigkeit sofortigen Handelns als Eechtfertigungsgriinde einer Unterlassung zur Seite stehen, welche ihn verhindern, Kenntnisse und Geschicklichkeit in vollkommen vorschrifts- massiger Form, Zeit und mit der erforderlichen Aufmerk- samkeit anzuwenden. Ueber diesen Gegenstand ist gerade in neuerer Zeit so viel geschrieben worden, dass wir es unterlassen, weiter hierauf einzugehen. Interessenten ver- weisen wir auf die hochst beachtenswerthe Arbeit von Deneke 1 ), welche- alles hierher Gehorige umfasst. Bei der Besprechung gewisser Vorsichtsmassregeln, betreffend die Natur der Krank- heit, ist vor Allem jener zufalligen, nicht constanten Wirkungen aller therapeutischen Agentien, der sog. Idiosynkrasieen zu gedenken. Man versteht darunter bekanntlich die eigen- thiimliche Erscheinung, dass beim menschlichen Organismus *) Kritik der Belehrungen zwischen Antisepsis und arztlicher Ver- antwortung vor Gericht in Eulenberg's n Vierte]jahrsschrift fur gerichtliche Medicin". 1886, 1. Heft p. 96. 11 unter besonderen zufalligen begleitenden Zustanden oder Umstanden uugemein geringfiigige Ursachen die folgeschwer- sten, weittragendsten Wirkungen hervorrufen. ^Welcher beschaftigte Arzt liatte es nicht schon erlebt, dass in Folge dieser zufalligen Ereignisse irgend ein Agens, das wir taglich mit dem giinstigsten Erfolg verwenden, dass der geringste manuelle Eingritf, der allgemein mit Vortheil geiibt wird, durch die Ungnnst der augenblicklichen Situation von den verderblichsten, ja selbst von einem todtlichen Erfolg begleitet war." Diese Darstellung ergiebt zugleich die rechtliclie Wiirdigung der Idiosynkrasieen. Berner, einer der grossten juristischen Autoritaten sagt 1 ): n Wo die Voraussehbarkeit aufhort, da ho'rt die Znrechenbarkeit auf, --da beginnt der Zufall, fiir den Niemand nielir bestraft werden kann. Dieser Satz gilt ausnahmslos; die Zulassung irgend einer Ausnahme ware eine Verletzung der Logik und der Gerechtig- keit." Idiosynkrasieen sind schon ilirem Wesen, ihrer Bedeutung nach. in sofern sie nicht als solche bereits bei dem Individuum vom Arzt constatirt worden , n i e m a 1 s v o r a u s s e li b a r, sie gehoren in den Bereich des Zufalls, fiir den Niemand verant- wortlicli gemacht werden kann. Da aber das Publikum und selbst Eeclitsgelehrte noch heute geneigt sind, den Arzt fiir derartige ungluckliche Zufalle verantwortlich zu machen, so miissen diese gelegentlich der Besprechung der Gefahren, welche dem arztlichen Stand drohen, eine Erwalmung flnden. Ganz neuerdings sagt Or tl off 2 ): . . . das Sclmldhafte liegt in der Nichtbeachtung einzelner von der Heilkunst bei Vornahme der verursachenden Handlung vorgezeichneter Regeln, welche einen schadlichen Erfolg herbeigefiihrt hat, z. B. das Verordnen einer zu starken Dosis eines gefahrlichen Arzneimittels, das Uebersehen von Idiosynkrasieen bei der Behandlung, alle Ungeschicklichkeiten bei chirurgischen Ope- rationen, bei den Impfungen" u. s. w. Fiir den Arzt bedarf *) Gerichtssaal , XIX. Jahrgang. Korperverletzung p. 5, a. a. 0. p. 32 unten. 2 ) a. a. 0. p. 32 unten. 12 es keiner weiteren Erorterung, dass die genannten schad- liclien Erfolge in Hirer ursachlichen Beziehung nicht neben einander gestellt werden diirfen und es liegt mir am Herzen. bei Aerzten und Juristen. den Satz als unbestritten hinzu- stellen, dass Idiosynkrasieen abzufallig ausser dem Bereicli der Berechnung liegen. 3*iCch{Zufalle besonderer Art olme Coraplicationen konnen durch die begleitenden Umstande leicht dem Arzt verhangnissvoll werden und sollten derartige Vorkommnisse immer von Zeit zu Zeit eine Veroffentlichung linden, um fiir andere Falle bei ganz ungerechten Anklagen wegen sogenannter w falscher Diagnosen und fehlerhafter Behandlung" als Entlastungsmomente zu dienen. Hierher gehoren jene plotzlichen T o d e s f a 1 1 e. welche w a b r e n d der arztlichen Behandlung und ganz unabhangig von dieser eintreten konnen. fiir welche Ausgange man nur zu leicht und nur zu oft den behandelnden Arzt verant- wortlich macht, wahrend solche Ereignisse auf Kliniken als causes celebres hingestellt und interpretirt werden. Obschon Jedermann weiss. dass hie und da einmal ein kriiftiger gesunder Mensch plotzlich eines natiirlichen Todes stirbt, olme dass irgend ein Dritter eine Verantwortung triigt. findet man es sonderbar und straffallig (!). wenn ein Mensch in dem Augen- blick, in welchem ihn der Arzt mit der grossten Sorgfalt iiberwacht, rasch endet. Und doch giebt es Anlasse genug. um eine solche plotzliche Todesart bei den verschiedensten inneren chirurgischen und geburtshiilflichen Affectionen, mag nun die Section spater etwas Palpables auffinden oder nicht. zu erklaren. Wir erinnern hier an die gerade bei zu behan- delnden Krankheitszustanden so leicht eintretenden Hamorr- hagieen und Perforationen der verschiedensten Art, an den plotzlichen Tod durch Apoplexie, Embolie, Kuptur des Herzens 1 ), Obliteration der Coronararterien 2 ), Herzlahmung, perforirende J ) Tomkins. H. a case of spontaneous ru{>ture of the heart. The britisli raed. Journal. May 2./S5. \ \\ 2 ) Gron. K. Et Tilfaelde af Sklerose aKaxtV corouoria cordis med konsekutiv Mj'ocardit pliidselig Dod. Norsk M pr. 11 ff. 13 Magen-Darmgesclrwure und solche aus verschiedenster ander- weitiger CJrsache, an den nicht selten eintretenden, oft ganz unerklarbaren plotzlichen Tod vor, wahrend und nacli der Geburt 1 ) Verblutung, Septicamie, Uramie, Kklampsie, Luft- eintritt in die Venen, an den Tod durch Schreck oder Gemuthsaufregung, ^ an die verschiedenartigen acuten Pro- zesse und deren Folgen. Mit Recht bemerkt Hofmann 3 ), dass auch ^scliwere entziindliche oder infeetiose Erkrankungen latent verlaufen und nachdem die Krankheit bereits einige Zeit gedauert, zum unerwarteten , plotzlichen Tod fuhren konnen. Vom Typhus ist dies langst bekannt, unseren Erfah- rungen zufolge giebt es aber ebenso wie einen Typhus ainbulatorius auch eine Pneumonia, eine Peritonitis, |eine Pericarditis, (derVerfA)] und selbst eine Meningitis ambulatoria, da uns vorgerucktere Stadien aller dieser Erkrankungen vorkamen, die plotzlich einzelne davon wahrend der Arbeit - zum Tocle fiihrten, ohne bis dahin auffallige Erscheinungen gezeigt zu haben." Am haufigsten scheint die Pneumonie 5 ) einen solchen latenten Verlauf zu nehmen. Wie complicirt und sonderbar sich in dieser Beziehung zuweilen die Verhaltnisse gestalten, lehrt der nach miindlicher Mittheilung vorgekommene Fall, in welchem zur Zeit, als die subcutanen Injectionen in Aufnahme kamen und man sich also mit besonderer Vorsicht dieser Procedur unterzog, r ) Vergl. HofmanV Lehrbuch der gerichtlichen Medicin, 3 Aufl. I. p. 691, woselbst auch diexjiteratur, sowie Schauenstein, Ueber die Schadigung der Gesnndheit uJ^d den Tod durch psychische lusulte in M a s c h k a 's Handbuch. -) Vergl. Centralblatt fiir k\inische Medicin. 1888, No. 17. Gemiiths- bewegung als Ursache jahen TodesNbei einem Herzfehler, mitgetheilt von Pawinsky (Warschau). 3 ) a. a. 0. p. 597. *) Sturges and Wilkin, a ca^e of latent Pericarditis and sudden death. Lancet. July 25. 1885. 5 ) Leuf, A. H. P. Note on a peculiaV form of pulmonary congestion not generally known and terminating in suoden death. Amer. Journ. of med. science. January 1886. 14 em Arzt, mit den erforderlichen Vorbereitungen im Kraii- kenzimmer beschaftigt, plotzlich ein eigenthumliches Stohnen vernahm ; beim Annahern an das Krankenbett findet er eine Leiclie. Kin Gehirnschlag hatte das Leben der Pa- tientin beendet. Audi todtete eine Dame sich aus Unvor- sicht dnrch eine Morphiuminjection (Privatmittheilang), die den Umstanden nach ebenfalls dem behandelnden Arzt als Unfall hatte zugereclmet werden konnen. Meine erste Morphium- injection bewerkstelligte ich bei einem Tuberkulosen im letzten Stadium, um die qualvollsten Beschwerden durch eine ruhige Nacht zu begleichen. Mit der grb'ssten Peinlichkeit und Pedanterie hatte ich alle jene Vorsichtsmassregeln ergriffen, welche Bruns in der damalssoebenerschienenen chirurgischen Heilmittellehre (Tiibingen 1869) so gewissenhaft aufgestellt und war nicht etwa dem dort sehr leicht dem Kranken wie r toxische Wirkungen des Kali chloricura. Nach einem in der Ges. fiir HeilkMuJierlin a. 10. Nov. 1879 gehaltenen Vortrag. 17 von ihm beobachtete Falle und drei aus der Literatur an und findet die auffallende Seltenheit der bisher bekannt ge- wordenen todtlichen Vergiftungen bei einem Mittel, welches so haufig angewandt wird, darin begriindet, dass vermnthlich viele Todesfalle nicht dem chlorsauren Kali zur Last gelegt worden sind, sondern der Kranklieit, gegen welche das Mittel gebraucht wird, der Diphteritis. Sehr beherzigenswerth. Bezuglich vieler dieser Stoffe ist nachgewiesen, dass in einem Fall verhaltnissmassig kleine Gaben giftig wirken, in anderen Fallen dagegen sehr grosse Mengen keinen Naclitheil bringen. Dies gilt besonders von chlorsaurem Kali 1 ), Jodkalium, Cocain, manchmal auch vom Opium, Morphium und anderen Stoffen. Ebenso ist anzunelimen, dass Individuen, deren Resistenz- fahigkeit durch Kranklieit oder Alter herabgesetzt ist, auch empfindlicher gegen Gifte sich erweisen werden, als gesunde und kraftige Individuen. Auch Gewohnheiten wirken hier entschieden. Das Protoplasma ist durchaus nicht als ein Gefass anzusehen, welches die ihm iiberlieferten Stoife fest und sicher bewahrt und immer weiter aufspeichert. In stetem Stoffwechsel mit der Nachbarschaft giebt es bald rascher, bald langsamer die empfangenen Stoffe , theilweise um- gewandelt und verarbeitet wieder ab. Durch diesen steten S toff wan del wird die Concentration der chemischen Stoffe und ihre Verbindung andauerndem Wechsel unterworfen. Betreffs der Einwirkungen chemischer Veranderungen auf das Protoplasma ist ferner die Toleranz des lebenden Proto- plasmus gegen allmahliche chemische Storungen, wie gegen analoge mechanische von besonderer Wichtigkeit. Die Siiss- wasseramobe stirbt, wenn man dem Wasser, in dem sie lebt, so viel Kochsalz plotzlich zusetzt, dass daraus eine 2 /o Koch- salzlosung wird. Setzt man aber taglich nur 1 /io/oige zu, bis eine 2/oige Losung entsteht, so gelingt es diesen Amoben, sich vollig zu accommodiren, so dass sie jetzt zu Grunde gehen, bringt man sie plotzlich in ihr Susswasser zuriick. ') Mering^>Aa^chlorsaure Kali, seige_jlyioto*ischen, toxischen und therapeutischen J ^ 18 Unter den hierher gehorigen Arzneimitteln, nach deren Aufnahme in geringer Gabe leicht Intoxicationserscheinungen entstehen, ist neben dem chlorsauren Kali das Jodkalinui YA\ betrachten. A. Morrow, 1 ) Bresgen, 2 ) Lewin, a ) Wolf 4 ) erwahnen die heftigsten Erscheinungen und Todes- lalle nach Einfuhrung kleinster medicinaler Dosen und Lew in (a. a. 0.) sagt mil Recht n der ausreichendste Schutz gegen die Moglichkeiten, welche uns von Seiten einer forensischen Beurtheilung drohen, scheint uns die weiteste, vollkommeuste Veroffentlich- ung derartiger Unfalle zu sein, damit ein grosseres Material, als dies bis jetzt derFallist, vorliegt." Ferner sind hier zu erwalmeu die in neuester Zeit so zahl- reich beschriebenen Cocainintoxicationen. Es sind bereits 23 Allgemeinintoxicationen ;) ) der Art, sowie 5 bei subcutaner Injection 6 ) beschrieben und darauf liingewiesen worden, dass bei nervosen Individuen nur unter grosser Vorsicbt das Mittel subcutan zur Anwendung gelangen diirfe und dass altere sowie weibliche Individuen von schlechtem Ernahrungszustand zu den iiblen Folgen des Cocains neigen. Ueber zwei sehr libel verlaufende Falle der Cocainwirkung berichtete Mathes im Zahnarztlichen Verein fur das Konigreich Sachsen, 13. No- vember 1887 in Zwickau, clenen sich bei der Discussion die Angabe weiterer iibler Erfahrungen anschloss. 7 ) Man ver- ') Journal of cutaneous and veneral diseases IV., 4. 2 ) Centralblatt fiir \iuuere Medicin 1886 No. 9, sowie mundliche Mittheilung im Aeratlichen Werein zu Frankfurt a. M. 3 ) Xebenwirkung der ^.rzneimittel 1881. 4 ) Eine peraphiginose Form der Jodkaliintoxication mit tb'dtlicheni Ausgang, Berliner klin. Wochenschrift 1886 No. 35, daselbst auch die Literatur. \ 5 ) Deutsche med. Wochenschrift 1886 No. 20: Landerer, Ceutral- blatt fiir Chirurgie 1886 No. 8. \ 6 ) Stevens, Blumentnal, Bock, Hosier, Landerer. Mannheim: Ueber einen Fall Von Cocaiuintoxication , Berliner klin. Wochenschrift No. 35, woselbst auch die Literatur. 7 ) Deutsche Medicinal-Zeitung v'on. G r o s s e r vom 20. August 1888. 19 gleiche vor Allem die hochst interessanten Falle von Carbol- vergiftung, die neuerdings Betz inLemberg 1 ) veroffentlicht hat. 2 ) Hierher gehoren auch die Intoxicationen nach dem Gebrauch von Canabinon 3 ) und anderer neuerdings ein- gefiilirter Arzneimittel. Dass die minimalsten Gaben von Opiaten bei Kindern den Tod bewirken konnen, ist bekannt. In einem Fall von Schmidt todtete l lao Gran (=0,003) Opium ein Kind 4 ). Audi gegen ausserliche Application von Arznei- mitteln bietet der kindliche Organismus eine grosse Em- pfindlichkeit, ein Umstand, auf den man allenthalben Riicksicht nehmen moge. Ein 8 Tage altes Kind erhielt nach Spaltung eines grossen, die Haut der Kreuzbeingegend unterminirenden Abscesses einen Verband mit 2/ iger wassriger Carbol- saurelosung; schon 24 Stunden darauf trat acute Carbol- vergiftung auf, charakterisirt durch Carbolurin, Icterus u. s. f., der das Kind rasch erlag^- Da es ferner nach zahrfeeichen Untersuchungen feststeht, dass wohl jeder in den Kreislauf der Mutter eingefiihrte geloste Stoff durch die Milch auf das Kind iibergeht, so ge- bietet die Anwendung der im Allgemeinen ilblichen Arznei- dosen schon deshalb, urn den Verdacht einer vorliegenden Vergiftung und deren Anschuldigung zu vermeiden, bei Still enden grosse Vorsicht. (Todesfalle der Art sind uns mehrfach zur Kenntniss gelangt.) Antimon, Arsen, Natron salicylicum, Jodcalium sind unter diesen Umstanden mit Sicherheit beim Saugling nachgewiesen worden. Hydrargyrose J ) Med. chir. Centoalblatt, Memorabilien, Jahrgang XXXI., Heft 7 p. 411. 2 ) Diese Falle e^wiesen unter Anderem mit Bestimmtheit , dass Vagina und Uterus sich ik ihrem Resorptionsvermogen gegen Arzneimittel ganz verschieden vernalten, weshalb diese auch bei der jeweiligeu Anwendung ganz verschieden\iosirt werden mtissen. 3 ) Deutsche med. WocheWhrift 1885, p. 794, 825. *) Vgl. K u h n e r , Kunstfehler p. 55. Citirt nach Boehm,Naunyn und von Boeck, Handbuch der Intoxicationen in Ziemssen. 5 ) Fehling, Ueber die Anwen&ung von Arzneimitteln bei Stilleu- den. Archiv fur Gynacologie. Bd. 27 1886. 2* 20 bewirkt haulig Abortus, bei ausgetragenen Kindern Scroplm- lose, Rachitis, allgemeine Korperschwache. Unter Jodwirkung- soil nicht nur die Mutter, sondern auch der Fb'tus abmagern. Bel 89 Bleiarbeiterinnen traten in 141 Schwangerschaften 82 Aborte. 4 Frtthgeburten, 8 Todtgeburten ein, 36 lebend geborene Kinder starben vor dem 4. Jahr. Dass Kinder von Saufern von Nervenleiden aller Art heimgesucht werden, ist eine allgemein anerkannte Thatsache ; auch zur Scrophu- lose liefern sie ein besonders grosses Contingent. - - Dieseii Angaben widersprechen die Veroffentlichungen Fe hi ings. 1 ) Derselbe gelangte nach Versuchen, die sich namentlich auf das Stndium des Einftusses narkotischer Mittel stiitzen, da gerade deren Anwendung bei Nachwehen, fieberhaften Erkrankimgen eine praktische Bedeutung erhalt, zu dem Resultat, dass man ohne Sorge die im Uebrigen im All- gemeinen gewohnten Dosen bei Stillenden geben konne ; vor- sichtshalber solle man bei schwachen, friihgeborenen Kindern etwas langer warten, jedenfalls nidit langer als 2 Stunden, ehe man dieselben anlege. Bei reifen, kraftigen Kindern werde auch dies nicht nothig sein. Er negirt die bekannte, durcli die Literatur lanfende Beobachtung Tornhille's, wonach ein Kind, dessen Amme 20 Tropfen Opiumtinktur erhalten hatte, 43 Stunden geschlafen haben soil, da n gegen- theilige Erfahrungen von jedem Praktiker gemacht werden". Und grade solche dubiose Falle werden nur zu leicht benutzt, nm unbegriindete Anklagen zu erheben. Audi Fell ling 2 ) bemerkt in dieser Beziehung: n lmmerhin miissen wir uns des thatsachlichen Ueberganges der Stoffe bewusst sein, und bei der Idiosyncrasie mancher Personen im Beginne der An- wendung eine gewisse Vorsicht liben, jedenfalls eine Haufung der narkotischen Mittel vermeiden." Derselbe 3 ) berichtet folgenden Fall; Eine Stillende hatte wegen irgend eines ') Ueber die Anwenduug von Arzneimitteln bei Stillenden, Arch, fur Gynacologie. Bd. 27, 1886. >) a. a. 0. p. 343. 3 ) Archiv fiir Gynacologie, Bd. xviL, 1886 p. 331. 21 schmerzhaften Leidens eine geringe Morphiumdosis 0.01 er- halten, das von da ab nicht melir gestillte Kind starb 48 Stunden spater an Durchfall. Der behandelnde Arzt wurde vom Vater des Kindes (wahrscheinlich in Folge irgend welcher Einflusternng) wegen fahrlassiger Tb'dtung angeklagt. jedoch in Folge des sich auf die bereits wiedergegebenen Erfalmmgen Fehling's stiitzenden gerichtsarztlichen Gut- achtens freigesprochen. Zu den Idiosyncrasieen rechne ich auch die zahlreich in der Literatur aufgezeiclmeten Todesfalle nach sub- cutanen Morpliiumintoxicationen ohne aufflndbare anatomische Ursaclie, Falle, welche wir meist als Tod durch flShok"' aufzufassen haben. Runeberg berichtet einen solcheri tb'dtliclieu Ausgang in einem Fall von Myocarditis bei einem 40 Jahre alten Officier der an Anfallen schwerster Angina pectoris litt, nach einer Morphiumeinspritzung von 0,015 grm. Tod nach 2 Minuten imter lieftigen Zuckungen. Der Berichterstatter rath bei dieser Gelegenheit, bei diesen Formen moglichst vorsichtig zu sein; eine Warnung, welche man auf Grund fremder Erfahrungen auf das ganze grosse Gebiet der mit Herzschwache verbundenen Affectionen aus- gedelmt wissen will. Israel sah bei Herzinsufficienz in Folge schwerer Nierenerkrankung schou nach Verordnung von 1 Cgrm. Morphium den Todeintreten. 1 ) Burr in Williams- town beobachtete nach einer Injection von 0,006 (!) bei einer an Tic douloureux leidenden Dame die heftigsten Ver- giftungserscheimmgen. Hierher gehort auch der Hinweis auf eine am 24. November 1888 in Nurnberg stattgefimdene, mit Freisprechung endende gerichtliche Verhandlung, deren An- klage behauptet, dass bei der Vornahme einer Morphium- injektion die zulassige Dosis iiberschritten und durch deren Verabreichimg der Tod eines Menschen herbeigefuhrt worden sei. In diesem Fall scheinen, soweit den Zeitungsnotizen zu entnehmen, nur 7 Milligramm verwendet worden zu sein. ') Ceiitralblatt fiir^^venheilkiande No. 13 x -i889>s x rort8chr. d. 5Ied. No. 33, 1883. EosenthaTsSjied. Centralzeitjilig, Decena^er 1883. 22 Das Gutac-hten ging dahin, class derTodanperforvativerBauch- fellentzundung erfolgt sei. Zu den Idiosyncrasieen gehort auch der von L a a c li e veroffentlichte plotzliche Todesfall in Folge einer Injection von wasserstoffsuberoxydhaltigem Wasser in die Pleurahohle bei Empyen, in einem Fall, in welchem man bereits 6 Injectionen von je 0,8 Cctm. Inhalt gemacht. ohne dass die geringsten Beschwerden aufgetreten waren (!) : auch hier gab die Autopsie keine positiven Anhaltspunkte. *) Lou me an in Bordeaux beobachtete sehr heftige Folge- erscheinungen augenblicklich nach Einspritzung von Jod- tinctur bei einer Hydrocele unter den erforderlichen Cautelen. De plats in Lille berichtet desgleichen nach Thoracenthesen. Zufalle, als welche er bezeichnet: epileptische Krampfe, Uramie, Reflexaction. 3 ) Alle diese Falle involviren, insofern sie uicht vorherzusehen, keine strafbare Fahrlassigkeit. Die Schnelligkeit und Heftigkeit, mit welcher in diesen Fallen die Arzneiwirkungen aufgetreten sind. hat man (Nussbaum) ohne weiteres aus einem Eindringen der Spitze der Injections- spritze in eine subcutane Vene und somit aus einer unmittel- baren Injection des Arzneimittels in die Blutmasse erklart. Es ist recht wohl moglich, dass in einzelnen Fallen dieser Vorgang in der That stattgefunden hat, alleiri ein Beweis fur die Richtigkeit dieser Erklarung ist noch nicht beigebracht Avorden. Die angegebene Schnelligkeit und Heftigkeit der Arzneizufalle kann, da die ausserordentliche Schnelligkeit der Resorption stark wirkender Stoffe aus Versuchen an Thieren wie aus Beobachtungen an Menschen zur Geniige bekannt ist, eben so gut auch durch eine die Resorption besonders begiinstigende Beschaffenheit der Gewebe an der Injections- stelle oder durch die Gro'sse der eingespritzten Dosis veranlasst worden sein, sei es nun durch die absolute Menge (in einigen Fallen zwei (!) Gran Morphium pro dosi), oder die relativ ') La Semaine medicale'TNi). 23, 1886. Rosentlial's nied. Central- zeitung v. 24. Juli 1886. l ) Lancet v. 3. Juli, p. 24. oq J zu grosse Dosis fur den betreffenden Kranken. Bei Ein- spritzungen von essigsaurem Morphium mit einem Zusatz von Essigsaure mag auch dieser letztere nicht ganz ohne Ein- fluss auf die Erscheinungen gewesen sein, wie sich wenigstens imHinblick aufeinzelne bei Einspritzungen der Villate'schen Fliissigkeit gemachte Erfahrungen und auf die sich daran kniipfenden Versuche von C. Heine vermuthen lasst. \ Hier sei auch eine Besprechimg einiger Falle eingefuet, die, obschon nach deren plotzlichem todtlichen Ausgang sich zwar palpable Veranderimgen vorgefimden, doch im Wesent- lichen als Idiosyucrasieen aufzufassen sind. Zur Zeit als Langenbeck die Chloroformeinspritzungen emfiihrte, er- zahlt Bardeleben folgenden Fall 2 ): n lch habe die Chloro- formeinspritzungen einmal genau nach den Vorschriften Langenbecks angewandt. Das Scrotum schwoll heftig an, bildete nach acht Tagen eine pralle fluctuirende Geschwulst, aus welcher durch die kleine Punctionsoffnung Eiter sich entleerte. Nach Schiittelfrosten starb der Patient unter den Erscheinungen der purulenten Infection. Die Section wies eine sehr ausgedehnte und vollstandige Thrombose im Bereich der Beckenvene der entsprechenden Seite nach. " Auch B 1 a n d i n berichtet von ahnlichen Todesfallen nach der Injection von heissem Wein. 3 ) Haufig ist Gangran des Scrotums darnach beobachtet worden. Als iible, meist nicht vorher sehbare Zufalle verdienen hier auch gewisse Intoxicationen Erwahnung, welche in Folge einer mangel ha ft en Mischung von Arzneimitteln ent- stehen konnen. Specifisch leichte oder schwere, desgleichen leicht oder schwer losliche Medicamente, schwimmen in einer Losuug oben auf oder setzen sich am Boden des Gefasses test, so dass, namentlich da, wo derartige Losungen- in J ) Vgl. Brun^ Chirurgische Heilmittellehre. Zweite Halfte, Tubingen 1869. p. 422. 2 ) Lehrbuch der Chini^^je und Operationslehre, Bd. IV., p. 315. 3 ) Dictionnaire de medec. eN4^ chirurg. pratiques volura. X., p. 128. 24 grosser Menge verordnet und verbraucht werden. z. B. in Krankenhausern, leicht grossere Dosen, als beabsichtigt. zur Aiiwendung gelangen. Ganz neuerdings berichtet Dietz 1 ) von einer derartigen Amylenhydratintoxication. Da das Amylenhydrat sich schwer und erst nacli jedesmaligem kraftigen Schutteln mischt, so geniigte eine ganz kurzr Unterbreclumg bei der Verabreichung, urn einem Theil des Medicaments Gelegenheit zu geben, sich an der Oberflache der Mischung wieder anzusammeln. ein Umstand, der beinahe vier Kranken verhangnissvoll geworden ware. Solche Er- fahrungen malinen zur Vorsicht und gebieten, stets die An- ordnungen zu geben, derartige Mischungen vor jedesmaligem Gtfily^uch geh6rigjpa]ischuitfiln : ____ >> ^ _^ Von derv..gfo r ssten Widhtigkeit fur den Arzt ist die Kenntn-fes (LrgTgnostischer Schwierigkeiten und Irr- ^_tjijiJaL-pr^ei der Unvollkommenlieit des menschlichen Wissens, bei der Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen und der Unzulanglichkeit ihres allseitigen vollkommenen Durclischauens gehoren folgewichtige Irrtlmmer bei der Erkenntniss und - Behandkmg der Krankheiten zu den haufigen Vorkommnissen. Die Vorkommnisse sind haufig, sie werden aber aus nahe- liegeuden Griinden nur selten mitgetheilt. Die Mittheilungen derartiger tief in der Natur begriindeter Verwechslungen sind um so wichtiger, als sie den Arzt in Stand setzen zur Verhutung derselben beizutragen. In dieser Absicht habe ich in meinen Schriften unter einer Rubrik n lrrtliumliches t> eine ziemlich ausfiihrliche Zusammenstellung von dem ge- geben, was in dieser Beziehung verotfentlicht worden ist. Immerhin scliienen solche Ausfuhrimgen misslich und bedenk- lich in einem Buch, dass nicht nur fiir Aerzte bestimmt. sondern, wie die Erfahrung gelehrt. vielfach auch in die Hande Anderer gelangt. Zur Vervollstandigung, zur all- seitigen Beherzigung fiir Aerzte stelle ich im Nachfolgenden ') tleber Amylenhydratintoxication. Deutsche Medicinalzeitung von Grosser. X. Jahrgaug, No. 18, 1888. 25 das vorhandene Material historisch-kritisch zusammen. Es kommen hier zahlreiche Combinationen derartiger Schwierig- keiten vor.fL Zunachst konnen die gewohnlichsten Zustande. wenn sie nicht gebiihrende Beriicksichtigung finden uud finden konnen, zu Verwechselungen Anlass geben.*) Hippokrates gesteht, dass er bei einera gewissen Autonomus (nicht Ano- ivymus), der eine Kopfwunde erlitt, die Stirnnaht fiir Fractur hielt und dass auch unsere Chirurgen den grossen Meister nachahmen konnen, beweist der von Saucerotte 3 ) berichtete Fall. Ein Geistlicher verletzte sick durch Sturz am Hinter- haupt ; die Wunde wurde erweitert und man fand eine quere Theilung (division transversale) des Hinterhauptknochens. Zwei Wundarzte wollten trepaniren, einer widersetzte sich. indem er die scheinbare Fissur fiir die Naht eines Worm'schen Zwickelbeins erklarte. Der Kranke genass ohne Trepanation und vermachte seinen ScMdel testamentarisch jenem Wund- arzt, der ilm gerettet. Dieffenbach verlor bei der zum Zweck der Heilung des Stotterns zum ersten Mai vor- genommenen Excision eines keilformigen Stiicks aus dem Zungenrucken den Kranken an einer furchtbaren, nicht zu bemeisternden Blutung. *) Bei Lahmung der Blase glaubt der Patient, dieselbe vollstandig entleert zu haben, wahrend durch Palpation und Percussion ein hoher Grad von Fullung derselben nachgewiesen wird. Man fiihlt dann in der Regio hypogastrica eine fluctuirende Geschwulst. die oft fiir Ascites gelialten wurde. Francois Collot erzahlt davon, dass man zu seiner Zeit liaufig die ausgedehnte Harublasse fiir einen Abscess gehalten und dass er manchen Kranken durch JVgl. auch das soeben erschienene ^Sbriftchen : von Nussbaum, Ungliicke iu^te^^hirurgie. 2. Aufl. Ich untena^se hier eine Anfzahlnng der bereits in mfiiuem Buch erwahnten diagnostischen Schwierigkeiten und Bedenke 3 ) Melanges de chirurgie Tome II., p. 262. 4 ) Hyrtl, topographische Anatomie. 4. Aufl. Wien 1860, Bd. I. p. 387. 20 . Aufklarung dieses Irrthuras das Leben gerettet. Sabatier wurde von einer Frau berathen, die man in ein Bad schickt'ii wollte, um eine harte Geschwulst. die nacli einer schweren Entbmdang zuriickgeblieben war, zur Zertheilung zu bringen: diese Geschwulst war aber nnr die ausgedehnte Blase und wurde durch Einfuhrung des Katheters sofort beseitigt. In einem andern Fall wollte man zur Function des Unterleibs schreiten, als die Kranke darauf aufmerksam machte. (lass sie seit 3 Tagen keinen Urin entleert. Der Kathetcr mt- leerte 18 Pfund. *) Bei einem alten Mann batten bereits Aerzte und Vidal selbst alle Kiinste erschopft, um den Katheter in die Blase einzufiihren. Letzterer entschloss sich daher, die pars membranacea vom Damm aus zu offnen. (Operation de la boutonniere). Der Patient wurde wie beim Seitensteinschnitt gelagert und Vidal fiihrte die Leitungs- sonde, auf welcher der Schnitt in die Urethra gemacht werdeii sollte, ein. Zum grossen Erstaunen aller Anwesendeu ge- langte die Sonde in die Blase. Sofort wurde ein Katheter von derselben Krummung in derselben Weise mit gleicher Leichtigkeit eingefiihrt und der Harn entleert. 2 ) - - Hyrtl assistirte bei einem von Engel in Prag gemachten Stein- schnitt, bei welchem trotz gehoriger Weite der Wunde und massiger Grosse des Steins derselbe von so zusammen- gezogenen Blasenwanden fixirt war, dass die Versuche. ihn zu losen, fruchtlos. Vier Stunden spater, bei der Abend- visite, fand sich der Stein zwischen den Schenkeln des Krauken vor. 3 ) Auch die Erfahrung von Pupuytren be- weist, dass die dem VVundarzt nicht gelingende Extraction beweglicher fremder Korper nachtraglich durch die Natur zu Stande kommen kann. Er fand eiue Bohne, die er am vorigen Tage vergeblich vermittelst Laryngotomie zu extrahiren *) Beobachtungeji von Moret in Upaala, raitgetheilt von Bozen in lessen Traite. ') Bardeleben, Lehrbnch der Chirurg^e. 2. Aufl., I860, Bd. IV., iwg. 12. 3 ) Hyrtl a. a. 0. p. 145. ') Hyrtl a. a. 0. p. 464. 27 sich bemiihte, bei der Friihvisite unter clem Verband liegen. Ebenso Bl an din eine Nadel, Pel le tan einen Kirschkern. (Ich entfernte eine spitze Nussschale aus dem Kehlkopf eines Knaben mit dem Nagel des Zeigefingers noch in dem Augen- blick, in dem man sich nach 24stundigen heftigen Erstickungs- erscheinungen anschickte, die Laryngotomie zu machen.) - Im Museum des Guy-Hospital zu London existirt ein Pra- parat von einem Mann, an welcliem wegen Erstickungsgefahr die Laryngotomie gemacht wurde und man nach der Hand ein Aneurysma aortae als Ursache der Suffocationszufalle fand. Audi Key wurde zu einem Kranken gerufen, urn einer dringenden Erstickungsgefahr durch die Laryngotomie abzuhelfen und fand ebenfalls eine Aortenerweiterung. ') Hierher gehort auch der merkwiirdige Fall, den Allan Burns erzahlt: Ein Mann, der an einer Geschwulst unter der Zunge litt, kam zu Cline, urn Eath zu fragen und wartete im Vorzimmer. Plotzlich hort dieser Arzt das Ge- rausch eines Falles und dumpfes Stohnen. Er tritt aus dem Zimmer und sieht den Kranken auf dem Boden liegen, mit Erstickung ringend. Da er einen freraden Korper in der Luftrb'hre vermuthet, schickt er sich an, den Luftrohren- sclmitt zu machen, gewahrt aber noch rechtzeitig, dass die Zunge durch eine Ranula nach hinten gedrangt, welche zugleich ausserlich einen unter dem Kinn hervorragenden Vorsprung bildete. Er eroffnet sclinell die Geschwulst und entleert eine grosse Menge Eiter und Lymplie." Richter excidirte statt eines Nasenpolypen eiuen Hirnbruch. 2 ) Chronische Abcesse des Septum (breite unbewegliche Basis, Verbiegungen und Leistenbildungen am Septum) sind fifters mit Nasenpolypen verwechselt und mit der Zange tractirt worden. Dasselbe betrifft die Ausdehnung der Siebbeinzellen : sehr leicht geben Hypertrophieen und Schwellungszustande J ) B. Osjier, Lectures mi Anatomy.. Vol. IV., p. 104. 2 ) Med. clnhi^gische Bemerkungen. NVoll. II., Jahrg. 1813, citirt bei Albrecht de polypis narinm. Halis. SaX^imm 1885. Dissert. 28 der Muscheln zu Verwechslungen Anlass. ') Hey maun theilt zwei Fiille mit, in denen uach Zangenoperation von Nasenpolypen durch hervorragende Kliniker Meningitis mid Tod erfolgte; derselbe bemerkt mit Recht: n wahrscheinlich sind weit mehr derartige Fiille vorgekommen, nur nicht publicirt worden." - - Petit war geneigt, den sich vor- (Irangenden Hoden, der einem Schorf oder Eiterpfropfen tauschend glich, bei einer Operation zu entfernen uncl Malgaigne constatirte durch die Section, dass ein sonst achtbarer Wundarzt den ganzen Hoden irrthiimlicherweise entfernt hatte. 2 ) Man hat ferner syphilitische Hoden- geschwiilste fiir Markschwamra gehalten und die Castration ausgefiihrt. 3 ) Blanding, Velpeau und Eve erzahlen Falle von Durchbohrung des Mastdarms durch ungeschicktes Beibringen von Clystieren. 4 ) Sehr haufig ist eine bestehende Schwangerschaft mit Tumoren und anderen Krankheits- zustanden verwechselt worden. De Ponte erwahnt ganz neuerdings einen Fall, in welchem in einem Londoner Fraueu- hospital wegen eines Tumor die Laporotomie ausgefiihrt und Zwillingsschwangerschaft vorgefunden wurde. 5 ) Simpson fand, als er 1847 nach Kupar in der Grafschaft Tife von wohlunterrichteten practischen Geburtshelfern zur Vornahme eines Kaiserschnittes gerufen wurde, bei seiner Ankunft die Frau eines gesunden Kindes, ohne alle Manual- hulfe genesen. Marie Louise, die Frau Napoleon's I., hatte eine schwere Geburt zu iiberstehen. Napoleon II. lag mit der Hufte vor. Der Geburtshelfer Dubois verlangte ein Con- silium. Bekannt ist des Kaisers Antwort: ,,Behandeln Sie mein Weib wie das eines Backers" und 101 Kanonenschiisse verkiindeten die gllickliche Geburt des Konigs von Rom. ') Vgl. die beziigliche Literatur bei Hey maun liber Nasenpolypen. Berliner klinische Wochenschrift vom 9. August 1886. 2 ) Hyrtl a. a. 0., Bd.\ll, p. 48. 3 ) Lehrreiche Falle der Ar^ bei B a r d e 1 e b e n a. a. 0., Bd. IV, p. 302. 4 ) Hyrtl a. a. 0. p. 128\ ) Berliner klin. Wochensclifcjft. Jalirg. XV., No. 14, 2. April 1888- 29 Sie war auch fur Herrn Dubois glucklich zu nennen, denn er wurde Baron fiir das, was die Natur geleistet. ') Audi Cast el erzahlt, dass im Hospice de perfectionnement eine Frau auf dem Operationstisch zum Kaisersclmitt natiirlicli gebar. Eine andere wurde gliicklich entbunden, wahrend .der Geburtshelfer urn seine Instruments zur Vornahme des Kaiserschnitts schickte. 2 ) Beziiglich der Castration erzahlt A. Cooper einen Fall von Blutung aus den durchschnittenen Aesten der Spermatica, welche so bedeutend, dass der Operateur in dem Glauben, die Arteria iliaca verletzt zu haben, diese unterband. Die Section wies den Irrthum nacli. Bell fuhrt zwei Falle an, in denen die Operirten an der Blutung starben. 3 ) In manchen Fallen von radikaler Heilung des Praputialkrebses durch die Operation hat sicli bei genauer Untersuclmng ergeben, dass es sich uni Condylome gehandelt hat. Ein Beispiel von Verwechselung im entgegengesetzten Sinne fiihrt Vidal aus seiner eigenen Praxis an. Er behandelte mit Monod gemeinschaftlich einen Kranken, bei dem auf der Spitze der Eichel ein scharf umschriebenes Geschwiirmit alien Charakteren eines indurirten Schankers auftrat. Alles geschah ohne Erfolg. Die Leisten- driisen schwollen an, brachen auf und der Kranke ging marastisch zu Grunde. Macbride verwechselte mit Cle- phorn ein Haematoma s. Thrombus vulvae mit einer Hernia vaginalis; noch ofter kommt nach Casaubon eine Ver- wechslung mit Scheidenvorfall vor; in dem einen Fall er- folgte bei der Taxis eine todtliche Blutung. (Auch andere Geschwulste , namentlich Varix, Senkungsabscess , Balg- geschwulste konnen zu Verwechslungen Anlass geben. *) C a p u r o n wurde wegen einer von einem Arzt vorgegebenen carcinomatosen Entartung der Scheide consultirt. Die sorg- *} HyXtl a. a. 0. p. 182. 2 ) HyAl a. a. 0. p. 177. 3 ) Curling. Die Krankheit der Hoden. Aus dem Englischen von Reich meister 184^, p. 321. 4 ) Vgl. Bardelkben a. a. 0. p. 387. 30 - faltige Untersuchung ergab, dass ein Schwa mm in der Scheide steckte. M utter kranze, die in Vergessenheit gerathen, sind oft fur Krebs der Scheide gehalten und darnach verfahren wordea.\ Lerret glaubte einen Hani- stein vor sich zu haben, machte den Steinschnitt mit todt- lichem Ausgang und entdeckte bei der Section eine Schrag- stellung der Gebarmutter. Polypen, Fibroide. Inversionen chronische Entziindung der Gebar- mutter sind so unendlich oft mit einander verwechselt worden, dass es keiner Belege bedarfX*) VeitV) erwalmt dass er bei einer Entbindung einen Cervicalscheidenriss ge- macht, an dessen Folgen die Entbundene nachmals starb. Wer in Wurzburg innerhalb eines Menschenalters Geburts- hiilfe studirt hat, wird sich der oftmals erwahnten Begeben- heit erinnern, bei welcher der Geburtshelfer mit der einen Muttermundslippe in der Tasche nach vollbrachtem Tage- werk nach Hause ging. Solche durchaus nicht vereinzelte Vorkommnisse nimmt der Student als Anekdoten mit, nicht ahnend, dass solche, wenn sie ihm spater in eigenster Er- fahrung begegnen, seine Vernichttmg drohen. Von ungemein grosser Bedeutung sind fur das arztliche Wirken Irrthiimer bei Fracturen und Luxationen, da deren iible Folgen am haufigsten Gegenstand gerichtlicher Klage werden. Gerade bei Fracturen und Luxationen soil der Arzt genaue und bestimmte Anordnungen geben und so- bald ihnen nicht nachgekommen wird, sobald Nachforschungen ergeben, dass der Kranke vorzeitige Gebrauchsversuche der betreffenden Extremitat unternimmt, sich von jeder Verant- wortung entlasten. Namentlicli sind es die Fracturen und Luxationen in der Nahe der Gelenke, bei denen jedem, auch ') Bardel^ben, a. a. 0. p. 427. 2 ) a. a. 0. p\459. 3 ) Eulen burg's Vierteljahrschrift fiir gerichtliche Mediciu, Juli und Octoberheft 1885: n Tod von Mutter und Kind wahrend der Geburt", ein Fall, welchen ich in dein Buch B Kunstfehler der Aerate" mitgetheilt (Casuistik 18). 31 an gran nach Anlegung von Verbanden. insbesondereGypsverbanden, Gegen- stand einer Klage. (Vgl. die ( 1 a.suistik). Nun ist aber in neuerer Zeit mehrfach nachgewiesen worden, dass ein solches Ungliick ganz ohne Verschulden /des Heilpersonals vorkommen kann. Abgesehen von der (lurch septische Ent- ziindung bedingten Form kommt eine umschriebene Gangran am hautigsten beschrankt auf die die Bruchstelle bedeckenden AVeichtheile vor. Insbesondere ist es die aussere Haut. welche manchmal in ausgedelniter AVeise der Gangran ver- fallt. Seltener tritt Gangran im weiteren A'erlauf (lurch continuirliclien Druck von Seifte dislocirter Bruchenden auf. welche die Haut durch Perforation zur Mortification bringen , ') Wheelehouse, C. G., numiltiug surgeon to the general in- firmary, Leeds, clinical lecture on the surgery of the epiphyses in .the British medical Journal" vom 7. Ii'irz 1885. 2 ) Die Lelire von den Knoclu n'oriichen. Deutsche Chirurgie. Lief. 27 II. Hiilfte. 1889. 3 34 und dann eine olfeue Fractur darstellen. Von der Grosse dieses Brandes haugt es ab. ob das Glied geopfert werden muss, oder ob gehott't werden kann, dass sich der Substanz- verlust mit Grauulationen ausfiillen werde. Ausser dieser circumscripten Gangran, deren Ursache klar war. kommt noch eine totale vor, welche den unterhalb der Bruchstelle befindlichen Gliedabschnitt betrifft. Sie ent- steht durch vollstandige Aufhebung der Circulation und ist auf Compression oder Verletzung der Blutgefasse zuriick- zufuhren. Paul Bruns in Tubingen hat 41 Falle in der Literatur zusammengestellt. Unter diesen 41 Fallen hatte die Verletzung oder Com- pression ihren Sitz: an der Arteria axillaris 3 mal brachialis 6 femoralis 5 poplitea 16 tibialis ant. 6 tibialis post. 2 tibialis ant. und post. 2 NUT in einem Fall ist die Compression einer Vene. iiamlich der Subclavia. als Ursache des Brandes constatirt. Bruns kommt hierauf zu folgenden Resultaten : Vier Moglichkeiten sind es, welche die Entstehung der Gangrau veranlassen. 1) Bei directen Fracturen kann durch die fractuirende Gewalt selbst eine Contusion des Arterienrohres mit Zer- reissung der inneren Haute toewirkt werden. Der throm- botische Verschluss der Arterie hat, falls Collateral-Kreislauf ausbleibt. Gangran zur Folgeu welche sich gleich in den ersten Tagen nach der Verletzimg manifestirt. 2) In andern Fallen ents\teht die Gangran in Folge einer partiellen oder totalen Cononuitatstrennung der Arterie, mag aussere Gewalt oder ein ^dislocirtes Fragment dazu fiihren. Durch den thrombotisclmu Verschluss der getrennten 35 Gefassenden wird die Circulation in dem Gefassrohr voll- standig unterbrochen. 3) Ferner kann es sich um partielle oder totale Con- tinuitatstrennung eines Arterienstammes handeln, jedoch mit Entwicklung eines falschen Aneurysmas. Die Gangran ist hier nicht unmittelbar durch die Gefiissverstopfung bedingt, sondern erst durch das wachsende Aneurysma, welches die iibrigen Blutbahnen durch Compression verlegt. Hier kann die Gangran erst spater dazu treten, wenn die Entwicklung des Aneurysmas erst spater erfolgt. 4) Die Gangran kann endlich durch Compression eines Arterienstammes von Seiten dislocirter Bruchenden oder Splitter entstehen; die Folge ist wiederum thrombotischer Verschluss der Arterie. Schliesslich ist noch zu erwahnen, dass auch eine fehlerhafte Behandlung, einschnurende Verbande, allein im Stande sind, durch Compression der Gefassstamme Total- gangran des Gliedes zu verschulden. Entweder ist der Ver- band von vorneherein zu fest angelegt worden, oder er wird erst durch die hinzutretende Anschwellung des Gliedes so eng, dass er die Circulation hemmt. Ein sehr interessanter Fall spontaner, ohne Ver- schulden des Arztes, entstandener Gangran ist von Johann Merkel in Nurnberg beschrieben worden. 1 ) Es handelte sich in diesem Fall um zwei losgeloste Knochenfragmente, welche in dem kleinen Raum zwischen den beiden Bruch- stiicken rechtwinkelig zur Knochenaxe gerichtet und in die Weichtheile eingespiesst waren. Die Position der Splitter, welche eine ganz wunderbare Stellung eingenommen hatten, erklart die Gangran vollstandig ; sie driickten auf die grosseren Gefasse, die Compression setzte sich auf die kleineren Arterien, Venen und das Capillargebiet der Carpalgegend fort. Durch die Compression mussten die Gefasswandungen derart alterirt J ) Gangran der Hand nach Radiusfraktur. Miincheuer Med. Wochen- schrift 1887 No. 24. 3* 36 werden, dass das Blut in ihnen gerann. Die Gerinnung setzte sich nach alien Richtungen bin fort und dadurcb war der Extremitat das Blut entzogen, somit ihr Scbicksal, dem Brand zu verfallen, entschieden. Ein weiterer derartiger Fall von Gangran nach sub- cutaner Arterienverletzung ist von Weitz 1 ) mitgetheilt worden. Im Anschluss hieran verotfentlichte Jiingst 2 ) zwei ahnlicbe Falle, welche dadurch bemerkenswerth erscheinen. dass die Gangran durcb eine isolirte Verletzung der Arterien- intima bei Integritat der anderen Haute hervorgerufen wurde. Der Verfasser schliesst mit folgenden Bemerkungen : ,,Wenn diese Falle schon dnrch den ungewohnlichen anatomischen Befund, dem wir einen almlichen aus der uns zu Gebote gestandenen Literatur niclit zur Seite stellen konnen, sowie durch die Schwierigkeit der Diagnose einiges Interesse bietet, so diirfte besonders der erste nocli nach einer anderen Richtung hin ebenfalls nicht uninteressant sein. Wahrend namlich Gangran nacli anscheinend einfachen subcutanen Fracturen ein zieralich seltenes Ereigniss ist, machen die des Vorderarmes bekanntlich hierin eine unriilim- liche Ausnahme, indem sie diese Complication nicht so ganz selten zur Beobachtung bringen. Indem man nach Ursachen dafur suchte, hat man bald eine zu fruhzeitige, bald zu feste Anlage des Verbandes, bald die unmittelbar urn das Glied gelegte Rollbinde. bald die von J. L. Petit empfohlenen Zwischenknochencompressen beschuldigt, - - alles Schadlich- keiten, die durch das arztliche Handeln dem verletzten (rliede zugefiigt werden und es ist wohl keine Frage, dass eines oder mehrere dieser Moment e bei den in der Literatur er- wahnten Fallen 3 ) den ungliicklichen Ausgang herbeigefiihrt haben. Unser Fall zeigt uns eine andere Moglichkeit wie ') Berliner Klin. Wochenschr. 1884 No. 7. 2 ) Gangran nach subcutaner isolirter Verletzung der Arterienintima Berliner Klin. Wochenschr. 1884 No. 15. 3 ) Eine Anzahl bei F. H. Hamilton, Knochenbriiche und Ver- renkungen, deutsch von Rose, p. 290 ff. und p. 318 ft'. 37 Gangran bei solchen Verletzungen zu Stande kommen kaiin und wir glauben, dass die Kenntniss derselben fiir den praktischen Arzt, noch mehr fiir den Gerichtsarzt, deshalb von hohem Interesse ist, weil in Folge der neueren Gesetz- gebung der Arzt haufiger als fruher fiir den unerwartet schlimmeu Ausgang einer Verletzung gerichtlich belangt werden diirfte und es dann niclit gleichgiiltig sein kann, ob der iible Ausgang nach wissenschaftlichem Ermessen noth- wendigerweise eine Folge felilerhaften arztlichen Handelns ist, oder ob noch andere in der Art der Verletzung begriindete Ursaclien dafiir existiren, welche sich jedoch wegen der Schwierigkeit der Diagnose anfangs der Beobachtung ent- ziehen." Eines der sichersten Hiilfsmittel ist ohne Zweifel das Symptom der Fluctuation; indess kann dasselbe vorhanden seiu. auch wenn keine freie Fliissigkeit vorfindlich. Die erfahrensten Chirurgen haben in Lipome, selbst in Carcinome und Aneuiysmen eingestochen. *) Wie haufig sind ferner chronische Brustdrii s en abscessemitKrebsge sch wills ten verwechselt und dieserhalb sogar die Brustdriise irrthum- licherweise exstirpirt worden. Auch Marj olin imd Laugier wollten schon zur Amputation der Brust schreiten, als der letztere in der Tiefe Fluctuation zu entdecken glaubte; der Probetroicart liess einen eingekapselten Abscess entdecken, der durch Incision gelieilt wurde. Aehnlich erging es Johnson. 2 ) Auch an anderen Stellen konnen s. g. kalte Abscesse mit einem soliden Neugebilde verwechselt werden. So ist es bekannt, dass kleine Zungenabscesse eine solche Prallheit besitzen, dass man sie mit einem Carcinomknoten verwechselte. Aehnliche Irrthiimer sind iiberall moglich, wo der kalte Abscess von einer machtigen Schicht anderer Ge- webe bedeckt ist, so dass das Gefiihl der Fluctuation sehr imdeutlich und jenem Gefiihl almlich wird, welches bei der ') Vergl. auch die neuerdings veroffentlichten Falle von Gersuny in P. Burners Deutsche med. Wochenschrift 1888 No. 4. ) Bardeleben a. a. 0. Bd. III. p. 569. 38 Betastung weicherer Neubildungen empfunden wird. (Pseudo- fluctuation.) Ausnahmsweise kann ein Abscess mit noch andereu Bildungen verwechselt werden. So z. B. n ist ein kalter Abscess der tiefen Lymphdriisen in der Schenkelbeuge und eine Hydrocele hernialis eines Schenkelbruches sehr schwer zu unterscheiden." n lm Allgemeinen tauchen die differential diagnostischen Schwierigkeiten bei Abscessen selten auf; sie ko'nnen aber wegen eines besonderen Stand- orts der Geschwulst bedeutend werden. U1 ) Folgewichtige Irrthiimer konnen ferner dann entstehen, wenn eine seltene Erkrankung unter dem Bilde einer gewohnlichen auftritt. Hierher gehoren Anomalieen des Gefassverlaufs, regelwidrige Lage von Organen, Blut- krankheit und dergl. Zustande. Gersuny 2 ) berichtet von einera jungen Miidchen mit einer beweglichen Geschwulst am innern Rand des Kopfnickers in der Hohe des Zungen- beins, bei deren Operation zwei hindurchziehende Strange ligirt und durchschnitten wurden. Die Durchschneidung verursachte eine heftige Blutung; doch erfolgte rasch Ge- nesuug. Bei der Untersuchung der entiernten Geschwulst fand sich in der Mitte derselben die Theilungsstelle der Carotis communis; es haudelte sich um ein Adenom der Gland, carotica. Schwierigkeiten der Diagnose kdimen auch dadurch ent- stehen, dass die ortlichen Erscheinungen einer ziem- lich schweren Erkrankung sehr gering. Icherinnere liier an die Lungenentzundung im Greisenalter, vor Allem aber in practischer Beziehung an manchen Knochen- und Gelenkaffectionen. Gersuny 3 ) erwahnt eine Coxitis. die ziemlich latent verlief. Diagnostische Schwierigkeiten und Irrthiimer werden weiter gegeben durch Erschwernisse des Unter- suchungsobjects, des Operationsfeldes, des Heil- verfahrens iiberhaupt. Unter diesen Umstanden haben ') Albert, Art. Abscess in Eulenbnrgs Realencyclopadie. Bd. I, p. 70. l ) u. 3 ) a. a. 0. p. 75. 39 die grossten Aerzte Verfehlungen begangen. Von ungemein grosser Wichtigkeit sind in dieser Beziehung die Miss- gritf e bei der IJnterbindunggrosser Gefasse, insofern die Nothwendigkeit dieser Operation auch an den Provinzial- arzt herantreten kann. A. Cooper war gezwungen, von der Unterbindimg der Subclavia abzustehen, da er die Arterie nicht finden konnte. Dupuytren fasste einen Cervical- nerven in die Ligatur. Post zerschnitt die Ingularis externa. Ein junger vielversprechender Professor der Chirurgie unter- band anstatt der Arteria axillaris die Vene. Die Leichen- offnung deckte den Fehle'r auf, welchen sich der Sclmldige so zu Herzen nahm, dass er in eine Krankheit fiel und starb. Petrequin war sogar Augenzeuge, wie der Nervus medianus statt der Arterie unterbunden wurde. ') Beispiele von Ver- letzung der Vena cruralis bei der Unterbindimg der Schenkel- arterien sind durch Cooper und Carmichael bekannt geworden, worunter einige mit todtlichem Ausgang. Un- zureichende Isolirung der Arterie und Herurafimren der Nadel von Aussen nach Innen statt von Innen nach Aussen waren die Veranlassung. Bill roth verletzte bei einer Nephrectomie von der Lendenseite wegen Pyonephrose die Vena cava. Tod bald nach der Operation in Folge der Blutung. 2 ) Unter diesen Umstanden und vielen anderen werden besondere Erschwernisse gegeben durch die eigenthum- liche verborgene Lage des Untersuchungs- und Operationsobjects, sowie durch diegrosse Anzahl concurrirender Symptome, welche geeignet sind, das arztliche Urtheil zu verwirren, die Differentialdiagnose zu ') Hyrtl a. a. 0. Bd. II. p. 329. *) Zusamineustellung von 5 Fallen, in denen die Vena cava ein- gerissen resp. die Vena renalis abgerissen wurde, sammtlich sofort oder bald nach der Operation todtlich verlaufen, bei Brenner, A., Beitrag- zur Casnistik der Nephrectomieen. W. med. Wochenschr. 32, 33, 34, 1885. Vir chows Jahresbericht 1885. Bd. II. 2 p. 399. 40 erschweren. Litten 1 ) anerkennt die Schwierigkeiten, den freien As cites von gewissen andereu pathologischen Zu- standen (Ovariencysten, Ectasieendes Magens und D arras) abzugrenzen und die Gefahren, einen solchen ver- meintlichen Ascites zu punktiren. PI ay fair sagt: Die Diagnose der Abdominalschwangerschaft ist keines- wegs so leicht, als man annehmen sollte und die erfahreusten Praktiker haben sich hierbei getauscht. Barnes: Beinahe alle Falle, in welchen man diese Form der Schwaugerschaft vermuthete. haben sich nach uuseren Beobachtungen als Ovariencysten herausgestellt. 2 ) Unzahlige Male sind Echinococcuscysten mit v a r i a 1 1 u m o r e n verwechselt worden. 3 ) Senn 4 ) referirt drei Falle. in denen die Pan- creascysten fur einen Ovarialtumor gehalteu wurde ; in dem einen wurde die richtige Diagnose wahrend der Operation, in den beiden anderen erst bei der Autopsie gestellt ; schliess- lich erwalmt er einen Fall, in welchem die Cyste fur einen Abcess gehalteu wurde. 5 ) Bei der Diagnose und Behaudlung der Brucheinklemmung gehoren folgewichtige Irrthiimer zu den alltaglichen Vorkommnissen. So erwahnt Reich el 6 ) eine Reihe differentiell-diagnostischer Schwierigkeiten, Com- plicationen mit Hydrocele, Hamatocele, Yarix der Vena saphena magna, serosen Cysten des Samenstrangs, Drusen- anschwellungen u. s. f. 7 ) Die tief liegenden Leistendriisen konnen, wenn sie intumesciren. durch die iiber sie wegziehende ') Ueber Ascites, Autorreferat in Paul Borners Deutsche med. Wochenschrift 1885 p. 832. l ) Lancet v. 26. Juui 1886, woselbst ein soldier Fall beschriebeu. ) Vgl. u. A. Vir chows Jahresbericht 1885. Bd. II. Abth. II. p. 395. ) The surgical treatment of cysts of the pancreas. Amer. Journ. of the med. Sc. July 1885. *) Thiersch, Berliner klin. Wochenschr. 1881 Nr. 40. V ire hows Jahresbericht 1885, Bd. II., Abth. II. p. 398. 6 ) Die Lehre von der Brncheinklemmung. Stuttgart, Ferd. Enke 1886. ') Vgl. auch Pith a, Viert.eljahrschr. fiir praktische Heilkunde 1845. Bd. IV.p. 49 50. 41 Fascie so eingeklemmt werden, dass die Erscheinungen einer incarcerirten Schenkelhernie sich einstellen. Berard machte selbst in einem solchen Fall die Herniotomie und traf auf ein Eiterdepot, welches einer suppurirten tiefliegenden Leisten- driise angehorte. Eeichel und Petrequin sahen es in solchen Fallen bis zura Kotherbrechen kommen und ich erinnere mich ernes Bruchschnittes aufWattmanns Klinik. wo nach Eroffnung der Bruchgeschwulst ein Abscess sich entleerte, in dessen Grund eine nussgrosse Lymphdruse lagerte, Belege genng, urn bei der Diagnose (und Behandlung) der Geschwulste im Schenkelbug mit grosser Vorsicht zu Werke zu gehen. J ) Irrthiimer, Tauschungen der gedachten Art konnen bei der grossen Breite der strafgesetzlichen Bestimmungen (s. u.) leicht zu Anschuldigungen wegen mit Uebertretung der Be- rufspflichten begangeuen fahrlassigen Korperverletzungen bez. Todtungen fiihren. In alien dieseii Fallen wird der Sach- verstandige neben der Erlediguug wichtiger Vorfragen, auf welche wir im Weiteren bei der rechtlichen Wiirdigung zuriickkommen (s. u.), darauf hinwirken, den Nachweis zu verlangen, dass (lurch die erwiesene Fahrlassigkeit des Arztes in der That der vorliegende Schaden angerichtet worden ist (Vgl. Kiihner, Kunstfehler der Aerzte p. 64), damit hier nicht durch Vermuthungen. Wahrscheinlichkeitsannahmen Anlass zu Trugschliis- sen, Tauschungen gegeben werden da, wo nur Gewissheit, positiver Beweis entscheiden soil. Der Arzt darf, wie jeder Andere, nur fiir den Schaden verantwortlich gemacht werden, welchen er verwirklicht hat und nicht fiir eine Handlung , aus welcher Schaden moglicher Weise hatte entstehen konneu. In noch viel grosserer Breite begegnen wir der Fassung der gesetz- lichen Bestimmungen beim Reichsimpfgesetz, welches die Fahrlassigkeit eines Arztes nicht wie die eines jeden Hyrtl, a. a. 0. p. 448. anderen Menschen nur ahndet, wenn durch sie ein nacli- weissbarer Schaden augerichtet worden ist, sondern in 14 den Arzt mit hoher Strafe bedroht, wenn er ,,bei Aus- fuhrung der Impfung fahrlassig nan del t a . n Dass hier bei der grossten Umsicht und Kenntniss vermeintliche und falsche Ansclmldigungen der verschiedensten Art und aus den unlautersten gehassigsten Motiven von Seiten des Publikums oder von Aerzten, die n nicht impfen" gegen Impf- arzte vorgebracht nnd fiir lange Zeit unterhalten werden konnen, lehrt die Erfahrung und jede Anklage des Arztes wegen Verstossen gegen strafgesetzliche Bestimmungen gilt beim Publikum fiir eine Verurtheilung , meist eine Verur- theilung der erapfindlichsten Art, die wohl kaum bei einem anderen Stand ein Analogon finden wird. tt Selbst fur den (reubtesten, Erfahrensten ist der Erfolg namentlich der Alassenimpfung mit humanisirter L} r mphe oft unberechenbar : iiberraassige starke Entziindung der Impfstellen und ausstrahlendenLympligefasse mitAnschwel- lung der Acnseldriisen. Impfroseola oder Impf- erysipele, ja selbst unter Umstanden Impfsyphilis. am allergewohnlichsten das so lastige ^Zusammenfliessen der Impfpocken 1 )" und in Folge dieses oder selbststiindig in Folge mechanischer Insulte oder Verunreinigung entstehende, nach vielen Wochen erst heilende Geschwiire von Mark- bis Thalergrosse sind bei der grossten Sorgfalt. bei ') Naiuentlich bei der Impt'ung dnrch den Schnitt , bei welcher Methode die Zahl der beabsichtigten Impfpusteln nicbt genau festzustellen. vorkorameiid. Ich kannte einen alten Arzt, der nur diese Methode iibte und nicht geringe Ausgabeu jahrlich hatte fur Verbandsalben in Betreff ttbler Folgen der Impfung. Gegen wartig, nachdem die Aerzte gelernt haben. mit fliissiger Lymphe zu impfen, kommen entschieden nicht mehr so grosse Nachtheile der Impfung vor. Sie wurden aber fruher viel geduldiger er- tragen, eingedenk der schrecklichen Folgen der Pocken, deren Krankheits- bild der Bevb'lkerung mehr gelaufig. Gegen wartig entsteht bei dem ge- ringsteu vorgeblichen Nachtheil in Folge einer Impfung sogleich ein offentlicher Nothschrei wegen des entsetzlichen Eingriffs des Impfgesetzes in die Rechte des Meuschengeschlechts. 43 der gewissenhaftesten Ausf iihrung der Impfung nicht zu ver- meiden. Die meisten der vorgegebenen Erkrankungen und Epidemien nacli Massenimpfungen haben sich nicht als Folge- zustande der Impfung, sondern als Impetigo contagiosa herausgestellt. So die Erkrankungen auf der Insel Riigen im Jahre 1885, die angeblichen Impfschadigungen in Hirs- landen und Riebbach (Schweiz) im Jahre 1881, die sammt- lich keinen genetischen Zusammenhang mit der Impfung hatten.^1 Nach der Lage der Gesetzgebung und bei unge- eigneter Information der die Impfung begleitenden That- umstande konnen indess die ungerechtfertigsten Angriffe erfolgen, um den Impfarzt in seiner so ungemein erschwerten Stellung zu verdachtigen und zu benachtheiligen. Grosse Vorsicht ist namentlich geboten in einem neuen Bezirk. in welchem dem Impfarzt der Gesundheitszustand der Eltern des Impflings imbekannt und scheint unter diesen Umstanden die gesetzlich zulassige Beihiilfe eines Gemeindebeamten sehr erwiinscht. Ich glaube mit Bestimmtheit annehmen zu konnen, dass mancher beschaftigte Impfarzt schon in der Lage war, in Betreff gewisser, lediglich ihm als Folge der Impfung imputirter Xachtheile etwas verordnen zu mussen. Ich kann aus Erfahrung berichten, dass ich, nachdem ich beinahe zwanzig Jahre Massenimpfungen mit Menschenlymphe vor- genommen mit gliicklichem Erfolg, keinen Impfling -svahrend der von der Impfung bis zur Gestellung vorgeschriebenen achttagigen Periode verloren dieser Zeitraum zeichnet sich bekauntlich Dank der grosseren Sorgfalt, welche man in Anbetracht der im Volk als gefahrlich betrachteten Vor- nahme der Impfung den Kindern widmet, durch ein sehr giinstiges Sterblichkeitsverhaltniss aus trotzdem in meinem Impfverfahren nichts abgeandert, trotzdem alle Cautelen fur Reinheit und Aufbewahrung der Lymphe eingehend beriick- sichtigt worden, ein epidemisches Auftreten von n Spaterysipel tf Marcus ip^tl, Deutscltfi&ed. Wocjieiischrift 1885 p. 762, woselbst ' aucli Angabe der lieziiglicheii Literafcrir. 44 beobachtete. welches mich mit der grossten Besorgniss er- fullte. Ich hatte mehrere Wochen, da die Epidemie tiber einige von meinem Wohnort mehr oder weniger entfernte Ortschaften zerstreut, viel Miihe und Arbeit, die scliwer er- krankten Kinder zu besuchen, eine arztliche Behandlung. der sicli der Impfarzt ganz selbstverstandlich unentgeldlicli unterziehen muss, da er ja vom Publikum als der intellectuelle Urlieber solcher unangenehmen Folgeerscheinuugen bezeichnet wird. obschon er dieselben niclit verscliuldet und ihnen jeder- zeit ausgesetzt ist; ich sah vor mir. wenn auch nur em einziger Todesfall erfolgen sollte, den olfentlichen Ankliiger und hinter mir alle die missgunstigen, gehassigen Menschen, welche eine Denunciation mit Freuden begriissten; ,,die Menschen kennen einander und ihre Fehler nicht leicht, selbst mit dem besten Willen und Vorsatz: nun tritt noch der bose Wille hinzu, der alles entstellt" (Goethe); es lief aber Alles gut ab. Ich stellte die Impfuug bis zum Bezug anderweitiger animaler Lymphe und Eintritt giinstigerer Witterung ein ich hatte die ttblen Folgen atmospharischen Einfliissen zugeschrieben, namentlich der grossen Hitze, welche mir insbesondere bei plotzlichem Umschlag der Witterung fur die Entstehung und den Verlauf postvaccinaler Haut- ausschlage von erheblichem Einfluss zu sein scheint und hatte die Genugthuung, vor einer offentlichen Anklage sicher gestellt zu werden. Jeder Arzt sollte solche Erfahrungen beherzigen und es vorziehen. von privaten und 6'tfentlichen Impfungen, wenn moglich, abzusehen, falls irgend welche personlichen Rucksichten sich geltend machen konnen. Man wird bei der Vornahme von Impfungen stets festhalten, dass es bei den gegenwartigen gesetzlichen Bestimmungen nur eines Klagers bedarf, um meist einen Richter zu finden. Und docli scheint uns gerade die Beurtheilung angeblicher fahr- lassiger Behandlung bei der Impfuug sehr leicht. Die Vor- nahme der Impftmg bildet namlich eine der wenigen arzt- lichen Handlungen, fur welche sich allgemein anerkanute Regeln. gewisse Grimdsatze feststellen lassen. welche der 45 Arzt nicht nach freier Ueberzeugung verlassen darf, olme sich den Vorwurf der Fahrlassigkeit zuzuziehen. Diese Regeln. diese Grundsatze linden sich gesetzlich vorgezeichnet in den verschiedenen Ausfiihrungsbestimmungen, welche in den einzelnen Staaten nachtraglich des Reichsimpfgesetzes erlassen worden sind. Hat der Impfarzt diesem Gesetz nnd seinen Ausfuhruugsbestimmungen geniigt, ist er im Stand. fur diese Geniige die Beweise sofort zu erbringen, so wird kein Staatsanwalt Anklage gegen ihn erheben, noch weniger ein Richter ihn verurtheilen. Aus Vorstehendem geht genugsam hervor, dass sich diese Gefahren, Bedenken imdllebelstande racist auf Impfungen mit humanisirter Lymphe beziehen. Dass aber solche un- angenehme Weiterungen auch bei Impfungen mit animaler Lymphe vorkommen konnen, zeigen die iiblen Hautaffectionen. welche Protze beschrieben hat, eczematose Erkrankungen, die bei der Massenhaftigkeit des von einem Thier entnommenen Impfs toffs auch massenhaft auf- treten. Es wurden etwa 600 800 Kinder befallen. Die Bemerkung: n Waschungen mit griiner Seife, Carbolwasser und die Salbe des weissen Pracipitats erwiesen sich meist entschieden heilsam," zeigt, dass auch in Betreff der Affec- tionen verordnet werden musste. Auch im Kreise Cleve hauften sich im Jahre 1885 die vorher dort in solchem Um- fange zwar nicht beobachteten, aber anderwarts doch schon haufig vorgekommenen Hautausschlage ; es kamen liber 1000 Fiille vor. welche genau wie die von Protze beschriebenen verliefen. Hier war die so viel angepriesene Aehle'sche (animale) Lymphe zur Verwendung gekommen. P. schliesst mit vollem Recht, dass auch der Ursprung dieser Falle in den Dermatitis contagiosa zu such en sei. Aus diesen Referaten geht hervor, dass die bezeichneten Uebelstande bei der Impfung mit animaler Lymphe nur zum Theil ver- mieden werden kimnen. J 46 Ein anderer wesentlicher Umstand, welchen der Arzt zu berucksichtigen hat, um Anschuldigungen wegen kunst- widrigen Verfahrens zu verlmten, besteht in der recht- zeitigen Kundgebung von Thatumstanden, welche das arztliche Verfahren zur Folge haben kann und muss (Castration, Ovariotomie). Es ist Pflicht des Arztes, den Kranken bez. dessen Angehorige auf die voraussichtlicheii Folgen des arztlichen Handelns aufmerksam zu maclien. Die Auklage gegen Dr. Imlach in Liverpool, welcher einer Frau beide Ovarien exstirpirte, ohne sie auf die hieraus resultirenden Folgen aufmerksam zu machen, hat eine traurige Beriihmheit erlangt. ') Anklagen wegen kunstwidrigen Verfahrens, sagen wir leichterer Art, konnen dem Arzt ferner erwachsen wegen unterlassener Anzeigepflicht bei der Polizeibehorde beim Ausbruch ansteckender Krankheiten. Aus Unkenntniss der beziiglichen Verordnungen und Ministerialerlasse wurde in dieser Beziehung seither vielfach gefehlt. Nach den far das Konigreich Preussen geltenden ^Sanitatspolizeilichen Vorschriften (Regulativ) bei ansteckenden Krankheiten, be- statigt durcli Allerhb'chste Ordre vom 8. August 1835" J ) be- steht unbedingte Anzeigepflicht bei jedem Erkrankungsfall von Cholera, Typhus, Ruhr, Pocken. (Weitere Paragraphen handeln iiber die Anzeigepflicht bei contagioser Augenent- ziindung, S3 7 philis, Kratze, Weichselzopf, Kopfgrind, Toll- wuth. Milzbrand, Rotz und Wurm). Bei den Maseru, Scharlach und ROtheln sind die Aerzte bei der bestimmten Geldstrafe (15 M.) zur Anzeige alsdann verpflichtet, wenn besonders bosartige und zahlreiche Falle ihnen vorkommen. Die Polizei- behorde hat in letzterem Fall Massregeln zu treffen, um sich in Kenntniss iiber den Fortgang der Epidemie zu erhalten und darnach nothigen Falls die Verpflichtung zur Anzeige ') Lancet v. 16. August 1886. *) Vgl. Horn, Wilh., Das preussische Mediciuahvesen. Berlin 1863. 2. Aufl., p. 232, sowie Paul B timers Medicinalkalender Theil II 1883, p. 29 ff. 47 aller vorkommenden Erkrankungsfalle (nach 41) fest- zustellen. Der Arzt wird immerhin gut thun, zur Vermeidung unangenehmer Weiterungen sammtliclie derartige Falle zur Anzeige zu bringen, umsomehr als bei den Konigl. Regierungen besondere Polizei-Verordnungen existiren. welche, die Aerzte des betreftenden Regierungsbezirks zur Anzeige verpflichten. Fur den Aufsichtsbezirk des Konigl. Polizei-Prasidiums zu Frankfurt a. M. sind in diesem Jahr, um die Vollstandig- keit der betreffenden Anzeigen zu sichern. an die Aerzte mit dem nothigen Formular bedruckte Postkarten hinaus- gegeben worden, die im Bedarfsfall nur auszufullen und in den nacbsteii Postbriefkasten zu werfen sind. (Vgl. ; die Oasuistik Fall 10.) Bei diagnostischen Schwierigkeiten und Seltsamkeiten dringe der Arzt zum Wohl des Kranken, sowie zur person- lichen Sicherstellung auf Z u z i e h u n g eines zweiten Sach- verstandigen. Die Unterlassung dieser Vorsicht bei ge- gebenen Erschwernissen giebt mitunter Anlass zu sehr be- dauerlichen Consequenzen. Der Arzt sei scharf in der Diagnose, Prognose, Prophylaxe und Behandlung des Falles. er sei aber, wenn diese Forderungen erschwert, ebenso scharf in der Findigmachung von Vorsichtsmassregeln zu seiner eigenen Sicherheit. Er bedenke, dass die Configuration des Falles, die im Anbeginn eine anscheinend fur ihn giinstige, sich durch eine Menge anfanglich gar nicht absehbarer Neben- umstande und Ereignisse der Art andern kann, dass er allenthalben nur Anfeindungen, Vorwitrfen und Drohungen begegnet. In grosseren Stadten sind geeignete Sachverstandige meist rasch und olme Umstande zu beschaifen und liegt in ihrer leichten Beschaffung wohl auch grossentheils die That- sache begriindet, dass der Arzt in grossen Verhaltnissen weit mehr vor derartigen Anfeindungen gesichert 1st, als der Provinzialist. Aber selbst auf dem Lande, wo die Aerzte so zerstreut, die Communication so erschwert und augen- blickliches Einschreiten oft geboten, sei der Arzt in schwierigen Verhaltnissen auf dieZuziehung eines zweiten Sachverstandigen 48 bedacht; er hat dann den Fall rechtzeitig als einen miss- lichen, bedenkiichen, als eine Nothlage anerkannt und dass ihm diese Nothlage bei der Benrtheilung zu Gute kommen wird, werden wir im Weiteren sehen. Es wird stets ein frommer Wunsch bleiben, dass ein eintrachtiges collegialisches Verhalten das beste Schutzmittel der Aerzte bildet gegen falsche Anschuldigungen. Dass dieses Verhaltniss gestort wird, liegt tief begriindet in dem Gegenstand, mit dem sich die Ausubung der Heil- kunde befasst. Nirgends sind die Verwickelungen grosser, als im Bereich des arztlichen Wirkens. Nirgends fiihren so zahlreiche, vom Publikum oft verkannte, nur von dem Sach- verstandigen iibersehbare Wege zum gleichen Ziel. Kem Wander, dass da, wo die Anschauungen so individtiell, Jeder sich bestrebt, der Erste und Beste zu sein, die fremde Beur- theilung leicht Anstoss nimmt und giebt. Weit mehr als der Arzt giebt das Publikum Anlass zu jenen unerquicklicheu Differenzen. Man erlasse mir. alle die boswilligen, unedlen, gehassigen Motive, die Klatschsucht, die heimliche Aufhetzerei und offene Denunciation zu beschreiben, welche das Zu- sammenwirken der Aerzte insbesondere an einem kleinen Orte beeintrachtigen und nur zu oft zu ganz unbegrimdeten Anschuldigungen fiihren. Vorsicht, Takt, Schonung, ist hier bei der Beurtheilung fremder Irrthumer vor Allem am Platz. Moge jeder Arzt, bevor er die geringste abfallige Bemerkung uber die Behandlungsweise eines Collegen in die Oeffentlich- keit bringt, bevor er selbst die intellectuelle Urheberschaft einer derartigen Klage ubernimmt, sehr wohl beriicksichtigen, dass ihm bei ungerechtfertigter Klage, nachdem die Untersuchung und Begutachtung festgestellt , dass der er- hobene Vorwurf unbegrundet, nicht nur sammtliche Kosten des Processes zufallen, sondern auch der offentliche Wider- ruf zugeschoben wird, eine Form des Ausganges, die sich kaum klaglicher denken lasst. Seit der Veroffentlichung der Schriften uber die Kunstfehler der Aerzte sind uns mehrere derartige offentliche Erklarungen der peinlichsten Art, zu- 49 gegangen, die dringend zur Vorsicht vor solchen iibereilten Angriffen und Aeusserungen mahnen. Wir haben im Vorstehenden iible Zufalle, diagnostische Schwierigkeiten etwas ausfiihrlicher erortert, nicht etwa nur im allgemeinen Interesse, nicht nur. um dem Arzt Anhalts- punkte zu geben zu ihrer Verhiitung, sondern namentlich hingesehen auf ihre rechtliche Wiirdigung und aus dem Grimde, um aus einzelnen Beispielen abzuleiten ein geeignetes Verhalten des Arztes. Die rechtliche Wiirdigung ist ledig- lich Sache des Richters. Fur ihn handelt es sich um die Beantwortuug der Frage, ob der Angeschuldigte ,,die Auf- merksamkeit, zu welcher er verpflichtet war, aus den Augen setzte" ( 222 und 230 des Str.-G.-B.). Der Sachver- standige giebt ihm hierzu die erforderlichen Unterlagen. Xun sollte man wohi glauben, dass das richterliche Ur- theil in Betreif der iiblen Zufalle sehr leicht, insofern fur den Zufall Niemand bestraft werden kann. Indess bei den mannigfachen Combinationen der Naturerscheinungen und ihrer begleitenden Umstande gestalten sich anscheinend ein- fache Zufalle oft sehr complicirt. Vor nicht langer Zeit wurde ein Universitatsprofessor, einer unserer namhaftesten Chirurgen, von einer Dame verklagt. Die Hohe des be- anspruchten Schadenersatzes war enorm. Wahrend bei einer Operation die Kranke in tiefer Chloroformnarkose verharrte, hatte sich ein Student auf ihren Arm gelehnt. Es entstand eine irreparable Lahmung und daher die Klage. die meines Wissens nicht zum Austrag kam. *) Unbedingt war hier die erforderliche Aufmerksamkeit ausser Acht gelassen worden. Aber wem war sie zuzurechnen, dem Operateur, den Assisten- ten und welchem derselben. oder dem vielleicht zur Geniige der erforderlichen Aufmerksamkeit hinreichend vorbereiteten, wohl gar nicht auszumittelnden Studenten ? Ich mb'chte den ') Ich kann den Fall leider nur bona fide, nicht actenmassig mit- theilen, da er der Darstellung nach wohl gar nicht actenmassig geworden ist. Ich bin auch zu etwaigen Berichtigungen gerne bereit und werde dieselben ohne Xamensnennung geben. 4 50 Fall von drei competenten Sachverstlindigen und drei Richtern im Instanzenzug beurtheilt wissen und ich glaube, dass grosse Meinungsverschiedenheiten sich liierbei ergeben wiirden. Auch die rechtliche Beurtheilung diagnostischer Irrtlmmer gestaltet sich, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer ganz einfach. Fiir den Sachverstiindigen erwachst natiirlicli die Aufgabe, wie uberall, zu individualisiren, da jeder Fall concret zu wiirdigen ist. Wenn M o r e t (s. o.) erzahlt, dass man soeben zur Pimktion des Unterleibs schreiten wollte, als die Kranke darauf aufmerksam machte, dass sie seit drei Tagen keinen Urin entleert und der Katheter 18 Pfund ent- fernte, so wird kein Arzt, kein Richter zur Entlastung des Falles beitragen konnen. Es liegt hier grobe Fahrlassigkeit fiir Jeden zu Tag, die bei gewohnlicher Vorsicht, gehoriger Aufmerksamkeit hatte vermieden werden konnen. Es giebt gewisse, aber sehr wenige Lehrsatze, die der allgemeinen arztlichen Erfahrung entsprungen, von dem Einzelnen ge- wissenhaft befolgt und nicht nach Willkiir verlassen werden diirfen. Zu diesen Lehrsatzeu, zu diesen Regeln, deren Ver- fehlungen mit Bestimmtheit die Annahme einer strafbaren Fahrlassigkeit einschliesst, gehort auch die Forderung, dass vor jeder derartigen Operation zu einer Entleerung der Blase und des Darmes Anlass gegeben wird. Die Gefahr war vorhersehbar, das Vorgehen strafbar. Noch unverant- wortlicher ware es, wenn der Fall einer Verwechselung eines gesunden und kranken Gliedes z. B. bei einer Operation vor- kommen sollte. So erzahlt von Nussbaum einen Fall aus einer Klinik des vorigen Jahrhunderts. Ein Mann wurde mit zwei verbundenen Fiissen auf den Operationstisch gelegt. Beide Fiisse waren voll von Geschwiireu, den rechten Fuss hielt man fiir heilbar und wollte deshalb jetzt den linken amputiren. Man amputirte aber unglaublicher Weise den besseren rechten Fuss, war dariiber schliesslich sehr er- schrocken, gab sich nun alle Miihe, den schlimmen linken Fuss ohne Amputation zu heilen, was auch gelaug. Im Uebrigen hat man, wie ich glaube, oft da Schwierigkeiten 51 gef unden, wo solche nicht gegeben sind. Gerade urn diesen Schwierigkeiten zu begegnen, habe ich eine ausfiihrliche Darstellung jener Vorkommnisse gegeben. Der Sachver- standige wird sich bei vorkommenden diagnostischen Irr- thumern fragen: 1st jemals ein gleicher oder ahnlicher Fall als der des Beklagten von Autoritaten begangen und untim- wunden zugestanden worden, in welchem Fall das Verfahren des Arztes, der im vorliegenden Fall voraussichtlich unter weit schwierigeren und ungiinstigeren Thatumstanden, bei ungeeigneteren Hiilfsmitteln und Apparaten, bei unzulang- licher Assistenz und mangelhafterem Wartepersonal handelte, gerechtfertigt erscheint. Unsere Casuistik 1 ) hat nachgewiesen und wird nachweisen, dass mehrfach Aerzte wegen Mangels an gemeinen Kenntnissen", ^Ausseraugesetzens der erforder- lichen Aufmerksamkeit", bei der grossten Vorsicht, unter den schwierigsten Verhaltnissen angeschuldigt , ja verurtheilt worden sind in einem Fall, in welchem Celebritaten denselben Irrthum begangen, unumwunden zugestanden und unter Schutz ihrer Autoritat straflos geblieben sind. Das kann und darf nicht vorkommen, um des Rechtes willen. Der Arzt wird in vorstehender , ganz originaler Zusammenstellung diag- nostischer Irrthiimer ftir alle moglichen Lagen des praktischen Lebens Belege und Beispiele linden, die er eventuell als entschuldbar bezeichnen kann. In diesem Sinne, in dieser Auffassung glaube ich, dass die otfenkundige Darlegung soldier Irrthiimer den Aerzten, wie der leidenden Mensch- heit gleichermassen zu Gute kommen wird. Kein Richter wird wegen derartiger Vorkommnisse den Arzt, wenn er innerhalb seiner Kunstberechtigung gehandelt hat, eine Bedingung, deren Erfullung, wie wir sogleich sehen werden, eine nothwendige Voraussetzung zur Verant- wortung ziehen. Die rechtliche Wiirdigung diagnostischer Irrthiimer ist lediglich Sache des Richters. So wie dieser hierbei iiber ') Vergl. ^Die Kunstfehler der Aerzte: Casuistik", sowie die im ^Aerztl. Central- Auzeiger" von mir uud Anderen veroffentlichten Falle. 4* 52 medicinische Fragen sich imterri elite t und auf diese Erkennt- niss das Urtheil sttttzt, ebenso ist es Pflicht des Sachver- standigen, das, was grosse Rechtsgelehrte zu Gunsten des Angescliuldigten ausgesprochen zu wiederholen. Ich glaube, dass nirgends klarer als von Berner der Weg vorgezeiclmet worden ist, den der Sachverstandige zur Beurtheilung diag- nostisclier Irrthumer einschlagen soil und welcher wohl auch fur den erkennenden Richter am sichersten, raschesten und bequemsten zum Ziele fiihrt. Berner sagt kurz: ,,Uii- kunst ist keine Fahrlassigkeit. Hat Jemand gethan r was er konnte, so ist er frei von Schuld und Strafe, denn einen Fehler des Verstandes kann man nicht strafen, sondern nur einen Fehler des Willens." 1 ) Aber er fiigt an einer anderen Stelle die Einschrankung hinzu: n Aus der einem Arzte ertlieilten Approbation fliesst fiir denselben nicht das Recht, die nothigen Kenntnisse und Fertigkeiten in jedem einzelnen Fall, der in seinem Berufskreis liegt, bei sich zu prasumiren und daher allemal ohne besondere Vor- bereitung und ohne Mitwirkung anderer Kimstverstandiger ans Werk zu gehen; vielmehr hat sich auch der Approbirte in alien einzelnen Fallen noch selbst darauf zu priifen, ob er gerade die hier erforderlichen Kenntnisse und Geschick- lichkeiten besitze. Hat er diese Pflicht verabsaumt, so ver- fallt auch die durch Unkunst herbeigefiihrte Kb'rperveiietzung der Strafe fahrlassiger Korperverletzung. Durch die Noth- wendigkeit schnellerEntschliessungkann indess ein sonst schuldhafter Fehlgriff entschuldigt werden. a ) Und diese Nothwendigkeit ist hier ent- scheidend; sie muss vorliegen, wenn bei einem anscheinend gewagten Eingi'iff ein diagnostischer Irrthum Entschuldigung finden soil. Ungemein schwer ist es, auch hier die Grenze des Erlaubten und Verbotenen festzustellen. Fiir den Pro- vinzialarzt ist es uuter Umstanden sehr betriibend, wenn er die kiihnsten verwegensten Operationen von Autoritaten ') Gerichtssaal, XIX. Jahrg., Art. Korperverletznng. *) Lehrbuch des deutschen Strafrechts. 8. Aufl., Leipzig 1876 p. 510. 53 kaum olme irgend welclie Aussicht auf Erfolg ausgefuhrt sielit oder liest, und bedenkt, dass er bei geringfiigigen Ein- griffen nur zu leicht wegen n Ausseraugesetzens der Aufrnerk- samkeit" oder wegen ,,gewissenlosen Experimentirens an Kranken" augeschuldigt werden kann. So sagt Tr en dl en- burg 1 ) gelegentlich des Eeferats von 19 Milzexstirpationen (bei Leucamie). von denen 16 durch Verblutung, 2 durch Shok todtlich geendet und nur eine (Franzolini) gliick- lich abgelaufen : n Diese wirklich erschreckende Mortalitat sollte doch allmahlich von der Splenotomie bei Leukamie ab- bringen, zumal noch keineswegs erwiesen ist, dass selbst bei rein lienogener Form eine Heilung durch die Operation zu erzielen ist." Ich halte diesen Erfahrungen die Verurtheilung eines Arztes zu zwei Monaten Gefangniss gegeniiber in einem Fall, in welchem bei einer Auskratzung des Uterus, welclie Operation er nachgewiesenermaassen dreissig Mai, olme Schaden anzurichten, ausgefuhrt hatte. eine (dreimalige) Per- foration des Uterus erfolgt war. 2 ) Dass augenblickliches Einschreiten erforderlich, dass eine Nothwendigkeit, eine Nothlage vorlag, dass innerhalb der n Kunstberechtigung" gehandelt worden, das hat der angeschuldigte Arzt dem Be- gutachtenden oder dem offentlichen Klager zu erklaren. Kann dieser ohne weitere Umfrage, ohne irgend welche Ver- mittelung, olme selbst eine Interpellation des Beklagten sich von der Nothwendigkeit eines augenblicklichen Einschreitens tiberzeugen, so ist damit der kiirzeste und fiir den Arzt giinstigste Weg vorgezeichnet. (Vergl. oben Berner.) In alien diesen Fallen augenblicklicher Ge- fahr muss dem Arzt die furchtbare Nothlage zu Gute kommen, in der er sich befimden. in welcher er unter den verschiedenen Mitteln eines zum Wohl des Kranken wahlen musste, er muss stets auf eine humane Beurtheilung reclmen, welche das arztliche Verfahren rechtfertigt, dem Kranken Schmerzen zu ersparen, dessen Heilung herbeizufuhren, J ) Vir chows Jahresbericht 1885, Bd. II, Abth. II. p. 397. ) P. Burners Deutsche med. Wochenschrift, 1886 No. 27 u. 28. 54 selbst bei cler Moglichkeit eines Ereignisses, welches eine gerichtliche Verfolgung in Betreif jenes Verfahrens veranlassen konnte; er muss darauf rechnen, dass diese Nothlage beriicksichtigt und nicht nach klinischen Anforderungen, \vie leider so haufig ge- schehen, gemessen werde; Forderungen, welchen eben in dieser Nothlage durchaus nicht Redlining getragen werden kann. In alien diesen Fallen augenblicklicher Gefalir muss derArzt sein eigener Gesetzgeber sein und bleiben (Mittermayer); der praktische Arzt ge- hort dem Individuum und kennt in alien diesen Fallen nur die Forderung der Rettung des In- dividuums, sowie die Forderung des eigenen Wissens und G-ewissens. Er darf unter diesen Um- standen weder fur die Vornahme gewisser lebenswichtiger Operationen (Tracheotomie, Herniotomie, Thoracentese, Para- centhese, Laporotomie, Auskratzung des Uterus, fast sammt- licher geburtshiilflicher Operationen, Eroffnung von Abscessen, Einrichtung wichtiger Frakturen und Luxationen) selbst ohne geniigende Assistenz, ohne hinreichende Vorbereitung, ohne die unter gesicherten Ver- haltnissen erforderlichen Cautelen, ebenso wenig verantwortlich gemacht werden, als fiir deren Unterlassung (Antiseptik). Ja selbst das Uebertragen gewisser Beihulfen (Chloroformirung, Assistenz bei Einrichtung von Frakturen, Luxationen, verschiedenen anderen Operationen) in die Hande des Laien erscheint unter diesen Umstanden in dem einen Fall ebenso statthaft und geboten, als in einem andern Fall deren Unterlassung. x ) Dass in alien Fallen, in denen solche Beihulfen den Umstanden nach beschafft werden konnen, davon nicht abzusehen ist, geht aus unserer Betrachtung mit Bestimmtheit hervor. Es empfiehlt sich diese Vorsicht in manchen Fallen aus ganz besonderen ') Vgl. Kiihner, Acht Thesen nebst Motiven und Fragestellung betr. die rechtliche Verantwortung der Aerzte. 00 Griinden. So sagt von Nussbaum 1 ): n Nie narkotisire man, ohne einen Zeugen zu haben, der sieht, dass alle Vorsicht angewandt wird und nichts . Unrechtes gescliieht. Es kam scliou ofters vor, dass Aerzte ganz ungerecht wegen ge- schlechtlichen Missbrauchs angeklagt wurden, well das be- taubte Madchen einen wohlliistigen Traum hatte, beim Er- wachen ihr Hemcl beschmutzt fiililte und ihren eigenen vaginalen Schleim fur mannlichen Samen Melt." Nachdem wir die wichtigsten Gesichtspunkte der eigen- artigen Gefahren und Ungliicksfalle, ilire Verhiitung und das geeignete Verhalten des Arztes in derartigen Fallen im Allgemeinen beriicksichtigt, bleibt uns noch eine Besprechung der Maassregeln iibrig, die erforderlicli fiir den be- sonderen Fall. Eine gewissenhafte Verhiitung derartiger Ungliicksfalle und wenn solche herangetreten, eine geeignete Behandlung derselben, das sind Lebensfragen, deren genaue Kenntniss unerlasslich fiir jeden Arzt. Denn selbst das reichste Wissen, die grb'sste Geschicklichkeit schiitzt bei der Breite der gegenwartigen strafgesetzlichen Bestimmungen nicht vor Anklagen wegen kunstwidrigen Handelns. Jeder Arzt sollte sich daher mit den Grundbedingungen dieser Lebensfragen bekannt machen. So wie aber der Gesunde oft alltaglich grobe Verstb'sse gegen gewisse Gesetze der Gesimdheit und Lebensordmmg begeht und erst, wenn diese Verstb'sse in Form gewisser Erkrankungen sich geltend machen,, hastig und angstvoll nach einem Arzt ruft, so wie wir es als unsere Aufgabe betrachten, nicht nur schon vor- handene Krankheiten zu heilen, sondern auch der Entsteh- ung derselben vorzubeugen. den Zustanden, welche dieselben veranlassen, eifrig nachzuspiiren, und n nicht miide werden, niuthig und ohne Riicksicht die Uebelstande aufzudecken, zu tadeln, und auf die Beseitigung derselben zu dringen," 2 ) ebenso haben wir uns im Allgemeinen eine gewisse Sorg- losigkeit zuzuerkennen in Betretf erheblicher Gefahren und J ) Ueber Ungliicke in der Chirurgie. 2. Aufl., p. 7. *) Teale, Lebensgefahr im eigenen Hause. 56 Unglucksfalle, welche uns selbst bei der gewissenhaftesten Ausiibung in unseren Berufshandlungen drohen. Es sind Falle vorgekommen, in denen meine Schriften durch Eilboten vt'i-langt und andere, in denen C-Jutachten innerhalb weniger Stunden abgefordert warden, deren Schwierigkeiten bei un- genugender Vorbereitung kaum zu uberwinden gewesen waren. Einige Kenntniss dieser Fragen, einige Vorbereitung erscheint dalier dringend wiinschenswerth fiir jeden Arzt, um im Mo- ment der Gefahr sich die Ruhe mid das Selbstvertrauen, die Unbefangenheit zu sichern, welche in solchen schwierigen Lebenslagen zur personlichen Rechtfertigung erfordeiiich. Gewohnlich scheint derartigen Anklagen der Vor- schlag eines C o m p r o m i s s e s vorauszugehen. Wenn der Arzt im Recht, so beharre er bei dem Recht. Hat er seine Pflicht erfiillt und den Fall nach bestem Wissen und Ge- wissen geleitet, so wird er unter den vorstehend gegebenen Ausfuhrungen und den mit diesen angedeuteten Entlastuugs- momenten in Kiirze Anhaltspunkte finden, das Grundlose der Anschuldigung nachzuweisen. Er lasse sich unter diesen Umstanden niemals durch Drohungen und Warnungen ver- leiten zu Zugestanduissen irgend welcher Art. Ein Com- promiss verrath Feigheit, Anerkenntniss der Schuld und Unfahigkeit und kann auch im Uebrigen die bedenklichsten Consequenzen nach sich ziehen fiir den zuerkennenden Arzt. Auch im Weiteren wird eine geschickte Behand- lung des Falles sehr dazu beitragen, vor Gefahren und Ungliicksfallen zu schiitzen. Heist wird es sich zunachst um eine Civilklage handeln. In diesem Fall hat die unteiiiegende Partei die Kosten des Rechtsstreites zu tragen, soweit dieselben nach freiem Ermessen des Gerichts zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsvertheidig- ung nothwendig waren. Dass der 6'ffentliche Anklager selbst bei angeblichen leichten Gesundheitsbeschadigungen den Arzt zur Verantwortung ziehen muss, wahrend gegen den Medicinalpfuscher auch bei der schwersten Korperver- letzung die Anklage nur auf den freiwilligen Antrag des 57 Besclmldigten erfolgt ( 232), diese Unbilligkeit bedingt emeu Xothstand der Aerzte, der mit zunehraender Kenntniss des Publikums geradezu erschreckend wirken muss. Waren alle Menschen schlecht, waren alle davon uuterrichtet, dass die oifentliche Klage gegen den Arzt wegen vorgeblicher leichter Gesundheitsbeschadigung kostenlos erfolgt und erfolgen muss, so wiirde fast jede Forderung des Arztes bei einem ungimstigen Ausgang des Verfahrens mit einer Klage beant- wortet werden konnen ! In der That liegen Falle vor, in denen selbst geringfiigige Anlasse zur Erhebung derartiger Anschuldigungen gefiihrt liaben. Mag nun der angeblich Geschadigte im Civilrecht auf Schadenersatz klagen, oder mag die Staatsanwaltschaft einen vorliegenden Verdacht so begriindet finden, um eine Ansclmldigung zu erlieben und den Sachverhalt weiter zu erforschen, so wird eine Ver- nehmung des Angeschuldigten erfolgen oder derselbe zu einem scliriftlichen Bericht iiber den Krankheitsverlauf und die Reclitfertigung der Verfahrungsweise aufgefordert werden. Es empfiehlt sich, die Erstattung dieses sclirift- lichen Berichtes, selbst wenn nur eine Vernehmung angeordnet worden, zu beantragen. Ein geordnetes, einheitliches, iiber- sichtliches Ganze lasst sich nur in Form einer scliriftlichen Reclitfertigung geben und viele werth voile Anhaltspunkte bediirfen langerer, sorgfaltiger Ueberlegung und lassen sich nur an der Hand der Literatur feststellen. Der schrift- liche Bericht richte sich nach den fiir die gerichtliche Medicin allgemein giiltigen Grundsatzen. Welche Form auch die Reclitfertigung annehmen moge, so bringe sie der Ange- schuldigte voll und mit alien ihm zu Gebote stehenden Mitteln zur Geltung. Sie stiitze sich auf Darstellung des Thatbestandes und Geltendmachung aller Entlastungsmomente, welche wir in unseren Schriften in dem Verhalten des Arztes und gegeniiber der Natur der Krankheit, dem kranken Individuum und dem dieserhalb ein- zuschlagenden Verfahren, in dem Verhalten des Kranken, in den begleitenden Umstanden gesucht und gefunden haben. 58 Sie hebeinsbesondere den ursachlichen Xtisammenhangzwischen dem vorgegebenen Kunstfeliler, cler angeiiommenen Fahrlassig- keit und dem behaupteten ungiinstigen Erfolg sorgfaltig und eingehend hervor. Bei der sehr diirftigen Literatur der Kunstfeliler und insbesondere bei den moglicherweise unzu- reichenden Erganzungen aus der dem Arzt zunachst zur Verfugung stehenden Literatur iiber die Besonderheiten eines Falles beziehe man dieselbe, falls (lessen vorlaufige schrift- liche Darleguug fur geniigend nicht befunden wiirde, auf eine weitere ausfiihrliche Ausarbeitung sei es in Form eines auf neuere Literatur sich stiitzenden schriftlichen Gutachtens oder einer Brochure. Keine gesetzliche Bestimmung ver- pflichtet den Arzt, diese gewiss oft mit grossem Aufwand an Zeit und Miihen verbundene, in jedem Fall ihm auf- gedrungene hochst lastige Arbeit oline Entgelt zu verrichten ; vielmehr empfiehlt es sich aus guten Griinden, sich fiir der- artige Leistungen moglichst hoch entschadigt zu halten. In einem mir bekanrit gewordenen Fall waren die Argumente eines angeblich schlecht gelieilten Frakturirten so schlecht, dass, als dem Klager vom Angeschuldigten notificirt wurde, er sei mit dem Inhalt der Klage bekannt geworden und stelle ihm (dem Klager) 24 Stunden Bedenkzeit, ob die Erstattung eines schriftlichen Gutachtens, dessen Betrag sogleich approxi- mativ in Zahlen stipulirt wurde, gewiinscht oder der Antrag zuriickgezogen werde, auf diesen Verzicht geleistet wurde! Unkenntniss des Gesetzes schiitzt nicht vor Strafe. Um sich nach alien Richtungen zu schiitzen, wird es daher dienlich sein, noch einiges aus der Gerichtsverfassung hierher Gehorige anzufuhren. 1st die erste Vernehmung er- folgt nnd hat diese nicht sogleich das Richtige der Au- schuldigung ergeben. so wird Gerichtsseits der Wahrheit dessen nachgeforscht, was der Angeklagte zu seiner Ent- lastung und Entschuldigung angegeben hat. Dies wird meist durch Zeugen geschehen. Man muss aber wissen, dass die Zeugen in diesem Vorverfahren olme Eid vernommen werden, wenn also der Angeschuldigte erfahren sollte oder 59 glaubt, annehmen zu konnen, dass ihn einer der Zeugen, auf dessen Aussage er zn seinen Gunsten fest gerechnet, im Stich gelassen, das heisst, aus irgend welchen Griinden, Furcht, Abneigung u. dgl. anderes, nicht das ausgesagt hat, was er nach der Ueberzeugung des Angeschuldigten wissen musste, so soil derselbe nicht sogleich den Muth veiiieren oder von diesem Zeugen Abstand nehmen, sondern ihn zu der Hauptverhandlung laden lassen, in der er seine Aussage der Regel nach erst zu beschwb'ren hat und in der sie sich also wesentlich anders gestalten kann. Nach der ersten Vernehmung (s. o.) wird der Ange- schuldigte noch eine gewisse Zeit abwarten miissen, um zu sehen, ob die Untersuchung ihren Fortgang nimmt; er wird diesen Zeitraum benutzen, sich sorgfaltig nach alien Beweis- mittelu zu erkundigen, die dazu dienen konnen, seine Nicht- schuld oder etwaige Milderungsgriinde zu beweisen. Es bleibt hierbei ganz ausgeschlossen der Versuch, einen Anderen iiberreden zu wollen, dass er etwas aussage, was er in Wirklichkeit nicht gehort oder gesehen oder gethan hat; denn das ware Verleitung zu einer strafbaren Handlung, die eben so hart, als diese selbst bestraft wird. Wohl aber kann der Angeklagte ganz ruing Jeden fragen: ob er sich an diesen oder jenen Umstand erinnere, damit er, wenn er dies verneinen wird und er dieser Verneinung vollstandig Glauben zu schenken sicher ist, sich vielleicht nach einem andern Zeugen oder sonstigen Beweismittel rechtzeitig um- sehen kann. Wenn nun aber dem Angeschuldigten die Un- gewissheit zu peinlich wird, so hat er auch das Eecht, bei der Anklagebehorde anzufragen, ob die Sache etwa fiir er- ledigt angesehen wird. Ist dies der Fall, so wird er auch, wenn er uberhaupt gerichtlich vernommen worden , davon Nachricht erhalten. Erhalt er keine Antwort, so ist dies freilich ein ungiinstiges Zeichen, ein Zeichen dafiir, dass das Ermittlungsverfahren noch fortdauert. Allein wenn nun eine formliche Voruntersuchung eroffinet wird, oder in Fallen, in denen dies nicht erforderlich, alsbald die eigentliche Un- 60 tersuclmng, so erhalt er in beiden Fallen wieder bestimmte Nachricht; im ersterwahnten gewohnlich bei der alsdann wieder vorgeschriebenen nochmaligen, oder wenn er vorlier noch nicht vernommen worden, ersten Vorladung vor dem Untersuchungsrichter. Das ist nocli nicht die eigentliche. die sogenannte Hauptverhandlung, aber der Vorlaufer der- selben. In beiden Fallen ist es rathsam, alsbald sich einen Vertheidiger zu nehraeu und damit nicht bis zum Tag der Hauptverhandlung zu warten. Denn dieser hat schon dann. wenn die Voruntersuchung geschlossen oder die formliche Untersuchnng eroffnet ist, das Recht. die Acten einzusehen und findet da vielleicht Manches. was dem Angeklagten selbst noch ganz unbekannt und doch wichtig ist. Wenn der Be- klagte selbst keinen Vertheidiger finden kanu, so kann er bei dem Gerichte beantragen, dass es einen solchen bestelle, was auch dann geschieht. Wenn nun die eigentliche Untersuchung eroffnet worden, so wird dem Beklagten der Anklagebeschluss des Gerichts und die Anklageschrift des Staatsauwalts zugestellt, in den meisten Fallen gleichzeitig mit der Ladung zu dem Termine der Hauptverhandlung. Man denke aber nicht im Gefuhle der Unschuld oder auch der darin schon erwahnten Milderungs- griinde: da wird sich ja alles finden und aufklaren. Man lese vielmehr die Schriftstiicke genau imd sorgfaltig durch und sehe sich, auch wenn ein Vertheidiger bestellt, die darin bezeichneten Paragraphen des St. -G. -B. genau an. Sehr oft erfahrt man ja hier erst, wie die Handlungsweise oder Unterlassung strafrechtlich angesehen wird und anzu- sehen ist. Jedenfalls erfahrt der Angeklagte nun , wohin er eine Vertheidigung und etwaige Angriffe gegen unzu- treffende thatsachliche Grundlagen zu richten hat. Auch hier ist es rathsam, Beweismittel fur entgegenstehende Be- hauptungen sich rechtzeitig zu verschaffen ; will der Beklagte noch Zeugen laden, die in der Anklageschrift nicht benannt sind, so hat er oder der Vertheidiger das Recht, dies selbst durch einen Gerichtsvollzieher zu bewirken; er hat nur 61 hierbei dem Zeugen auf Verlangen etwaige Gebuhren baar anbieten zu lassen, dann muss er kommen. 1st ein Ver- theidiger bestellt, so ist es rathsam, sich einige Tage vorlier nocli einmal mit ihm zu besprechen ; soiist gehe er allein ruhig zum Terrain. In der Hauptverhandlung hat der Beklagte das Reclit, jedesmal, wenn der vorsitzende Richter die Vernehmung be- endet hat, ihn zu bitten, dass er dem Zeugen noch folgende Fragen vorlegen oder gestatten moge, sie selbst an ihn zu richten. Oft wird der Angeklagte alles das, was seine Zeugen bestatigen sollen, auch von den Zeugen der Anklage ausgesprochen horen konnen, wenn er rechtzeitig fragt und das ist wichtig. Wenn dann das Verhor der Zeugen bezw. Sachverstandigen und damit gewohnlich die Beweis- aufnahme geschlossen ist, so erhebt sich der Vertreter der Auklagebehorde und tragt die Anklage vor, bringt auch ge- wohnlich die Strafe in Antrag, zu welcher er den Ange- klagten verurtheilt zu sehen wiinscht. Damit ist derselbe noch niclit verurtheilt. Im Gegentheil, jetzt hat er bezw. der Vertheidiger unbeschrankt das Wort, um Alles vorzu- bringen, was sowohl nach der friiheren Sachlage, als auch ganz besonders nach der nunmehr erfolgten Beweisaufnahme zu Gunsten oder zur Entschuldigung des Beklagteu sprechen kann. Auch wenn der Staatsanwalt darauf noch etwas er- widern sollte, so kann der Beklagte doch stets das letzte Wort haben. Erst dann stehen die Richter auf, um sich in das Berathungszimmer zuriickzuziehen und iiber das Urtheil zu befinden. Jedermann wird zugeben, dass in einer solchen Schilde- rung ganz gewiss nichts liegt, was Jemanden anreizen konnte, sich einem solchen Verfahren zu unterwerfen, oder was ihm Hoffnung machen konnte, mit der so gewonnenen Kenntniss desselben sich den Folgen einer etwaigen Strafthat leichter entziehen zu konnen. Und andererseits wird Jeder, der im Gerichtssaal zu verkehren pflegt, zugeben, dass die vollige Unkenntniss dieser aussereii Ordnung bei Angeklagten (wie 62 bei Zeugen) in einer auffallenden. den Gang der Verhand- lungen storendeu und verliingernden Weise hervortritt und dass in jener so einfach scheinenden Belehrung allenthalben Thatsachen enthalten sind, von denen viele der zunachst Betlieiligten nicht die geringste Ahnung liaben. Und das 1st entschieden ein Missstand. *) Hier ist auch der geeignete Ort. um auf eine Priiventiv- massregel hiuzuweisen, welche zwar nicht Schutz vor An- klagen, aber einige Gewahr bei erfolgten Verurtlieilungen wegen kunstwidrigen Handelns zu geben verspricht. Diese Gewalir bietet die von dem Allgemeinen deutschen Versicheruugs- Verein in Stuttgart den Aerzten fur ihre Haftpflicht im Falle der Schadigung der Gesundheit eines Dritten empfohlene Versicherung. Nachdem ich diese Neuerung in Erfalirung gebracht, hielt ich es fur meine Pflicht, mich in Betreff der weiteren Bedingungen zu infor- niiren. Das Resultat dieser Information iibergebe ich im Naclifolgenden der Oeffentlichkeit. Die Versicherung erstreckt sich auf S c h a d e n e r s a t z- ansp ruche, welche auf Grund der Reichs- oder Landes- gesetze an den Arzt von einer Person aus dem Grunde er- hoben wird, weil dieselbe oder ein Angehoriges in Folge einer Fahrlassigkeit oder Nichtaufwendung der nothwendigen Sorgfalt von Seiten des Arztes angeb- lich einen Schaden an der Gesundheit oder eine Verzogerung der Genesung erlitten hat. Die durch derartige Klagen entstehenden Processkosten, soweit solche dem betr. Arzt zufallen, tragt der Verein. Die Bedeutung einer solcheu Bestimmung in Hinblick auf das Armenrecht erhellt. Der Verein iibernimmt ferner von der Summe, welche auf Grund rechtskraftigen Erkenntnisses - - sofern dasselbe keiue Ver- J ) Um Missverstandiiisse zu vermeiden, bemerken wir, dass diese Eechtsbelehruug unter mehreren Zusatzen , Weglassungen und Ver- anderungen einer Abbandlung der Kolnischen Zeitung (Jabrg. 1888 No. 157 und 158) ^Ueber gemeinverstandliche Belebrmigen in der Rechtskunde" ent- nommen worden ist. 63 urtheilimg zu einer holieren als clreimonatlichen Gefangniss- strafe zur Folge hat oder eines Vergleiches dem Be- sclmldigten oder dessen Angehorigen bezahlt werden muss, die Zahlung von 75 /o und hat der Arzt noch 25 / zu tragen. Aus iiaheliegenden Griinden erscheint diese Ein- schrankung den strafgesetzlichen Bestimmungen gegentiber unerlasslich. Die Pramie fiir obige Versicheruug betragt pro Jahr Mark 20. ') Die Auswahl der zuzuziehenden Sachver- standigeu erfolgt durch die Richter. Sind fiir ge- wisse Arten von Gutachten Sachverstandige b'ffentlich bestellt. so sollen nur dann andere Personen gewahlt werden, wenn besondere Umstande es erfordern. Als solche besondere Umstande sind in der Reichsjustiz - Commission erwalmt : n wenn am Orte, wo der Gerichtsarzt sei, sich ein besser geeigneter Specialist befindet; wenn ein naher wolmender Arzt mit gleicher oder hoherer Qualification als der weiter wohnende Gerichtsarzt vorhanden 1st, wenn der Gerichtsarzt. zum Gutachten in mehreren Fallen bestellt, die mehreren Functionen neben einander nicht wahrnehmen kann." Wenn nun auch die Auswahl der zuzuziehenden Sachverstandigen durch die Richter erfolgt, so hat doch derselbe meiries Wissens niemals die Berechtigung des Angeschuldigten verworfen, einen oder mehrere Sachverstandige zu benennen und zuzuziehen. Diese Berechtigung liegt tief in dem Sachverhalt begriindet. Die Sachverstandigen sind hier meist kunstverstandigeZeugen. Bald handelte es sich um eine Fraktur oder Luxation, bald urn einen ge- burtshiilflichen Fall, zu dessen Behandlung der Arzt zur Sicherstellung des Kranken oder der Person, vielleicht auch. nachdem ihm bereits die Moglichkeit einer Anschuldigung l ) Nahere Auskunft wird der genannte Versicherungs-Verein, welcher anf Gegenseitigkeit der IVIitglieder beruht (Subdirectiou Frankfurt a. M. Baustrasse 14), gewiss gerne ertheilen und auf Wunsch Formulare zum Zwecke der Aufnahme versenden. 64 nahe gelegt worden, einen zweiten Sachverstandigen zu- gezogen liatte, bald lag ein ungewuhnlicher Todesfall vor, zu dessen Aufklarung die Zuzielmng unter gleichen Um- standen erfolgt war. Niemand als dieser sachverstandige Zeuge wird dann zur Aufklarung des wahren Sachverlialts beitragen konnen. Indess aucli olme diese Voraussetzungen wird der praktische Arzt oder der Gerichtsarzt, welcher der Stellung des praktischen Arztes nahe steht, die geeignete Personlichkeit sein, um alle Forderungen zu priifen, 'welche die gerechte Beurtheilung des einzelnen Falles geltend zu machen hat, alle Schwierigkeiten zu ermessen, welclie den angeschuldigten Arzt bei seinem Verfahren vielleicht um- gaben. Nur wenn specialistische Kenntnisse zur Begut- achtung erforderlich, bin ich im Interesse der Sache dafiir, dass diese dem Urtheil eines Specialisten oder Collegiums unterbreitet werden und es ist mir imerfindlich, dass selbst erfahrene Aerzte , wie neuerdings D e n e k e , B a e r . J ) die Forderung stellen, die Begutachtung soldier Falle solle in erster und letzter Instanz von einem Collegium ausgehen, urn, wie letzterer sagt, jede Mb'glichkeit einer Befangenheit des Sachverstandigen-Urtheils auszuschliessen. um eine sach- gemasse und eventuell auch fachkundige Beurtheilung des Falles zu gewahrleisten und um dem Gutachten bei alien Parteien eine autoritative Anerkennung zu verschaffen." Diese ausreichende autoritative Grundlage betont Ortloff 2 ) als fiir die richterliche Beurtheilung wesentlich, aber er fiigt sogleich hinzu, dass, n wenn ganz allgemein und in der Natur der Sache und dem gesunden Menschen- verstand begriindete, aber daim auch Grundregeln der Heil- kunde, die unabanderlich sind, in Frage stehen, gegen die ein Verstoss begangen ist, so bedarf der Richter nur der gewolmlichen Hilfsmittel zur Beweisfeststellung, wie sie in dem Gutachten des Gerichtsarztes oder mehrerer Gerichts- arzte oder Specialisten sich darbieten, sonst aber wird er ') a. a. 0. ') a. a. 0. p. 38. 65 Medicinalcollegien zur Feststellung des Bestehens einer all- gemein anerkannten Regel zu horen haben." Wir vermissen bei der Begutachtung derartiger Falle durch Specialisten, Collegien sehr wichtige und wesentliche Anforderungen, welche der Arzt, der Richter an die technische Begut- achtung zu stellen hat. An eine gerechte Benrtheilung des angeschuldigten kimstwidrigen Verfahrens stellen wir vor Allem die Forderung einer Kenntniss der gericht- lichen Medici n. Der Grundsatz ist unbestritten , dass die gerichtliche Medicin nicht nur angewandte Medicin, sondern Lehren enthalt, die dem Arzt, selbst dem Chirurgen, dem Geburtshelfer von Fach fremd. Und die andere Forderung, die wir an die technische Begutachtung stellen. besteht in der gerechten und allseitigen Wurdigung der Lage, der That- umstande, unter welchen der Arzt handelte zur Zeit des angeschuldigten Verfahrens. Nur zu oft sind uns in neuerer Zeit Verhandlungen zur Kenntniss gelangt. die davon zeugen, dass von der technischen Begutachtung klinische Anforderungen gestellt worden, welche vom praktischen Standpunkt nicht zu erfiillen waren, ja eine ganzliche Verkennung des Standpunktes, der Forderung des praktischen Arztes bekundeten. Nur so wird es erkliirlich, dass jene Gntachten zu einer schweren Anklage, einer Yer- urtheilung, einer Belastung des Beklagten fiihren konnten, ohne gewisse Entlastungsmomente geltend zu machen, welche, wenn sie geltend gemacht, sicherlich eine ganz anders- artige Wendung des richterlichen Erkenntnisses bedingt haben wiirden. Durch derartige einseitige, schiefe und mangelhafte Gutachten, sind die Interessen der Aerzte mehr- fach empflndlich geschadigt worden. Bei der Begutachtung durch Specialitaten, Celebritaten, die dem praktischen Leben ferner steheu, ist die Gefahr sehr gross, sich auf einen zu einseitigen wissenschaftlichen Standpunkt zu stellen und dadurch sich verleiten zu lassen, die Handlung oder Unterlassung des Beschuldigten schon deshalb zu ver- urtheilen, weil sie von ihren Ansichten und Erfahrungen 5 66 mehr oder weniger abweiclit. Jeder Stand hat seine Vor- urtheile, jeder Mensch pflegt zu irren, grosse Manner fallen zuweilen in grosse Irrthiimer und in England sagt man selbst spruchwortlich, dass die Wahrlieit oft mehr leidet durch Voreingenommenheit ihrer Vertheidiger, als durch die Be- weisfiihrung ihrer Gegner. Leicht kann es daher vorkommen, dass anstatt unbefangener Priifung und Beurtheilung der eigene Irrthum den Beklagten des Irrthums anschuldigt, an- statt ihn zu entschuldigen. fl Eine unbefangene Kritik der in der Literatur verzeichneten Falle der Kunstfehler der Aerzte legt leider nur zu oft Zeugniss ab von Verurtheilungen, von angeblichen fremden Irrthumern durch eigenen Irrthum, wohl mehr als Entschuldigungen fremder Irrthiimer durch eigenen Irrthum." Entspricht es schon aus diesen Griinden den praktischen Anforderungen, von der Zuziehung eines Collegiums in erster Instanz abzusehen, so erscheint dies noch mehr geboten hin- gesehen auf die Y'erzogerung, welche der Sache hieraus erwachst. Man muss wissen, wie sehr der Arzt darnach drangt, bei Anschuldigungen wegen vorgeblicher Kunstfehler die Entscheidung bald zum Austrag zu bringen. Wenn schon der Ausgang fast eines jeden gerichtlichen Processes mit Spannung nicht nur von den Parteien. sondern oft auch vom Publikum erwartet wird, so ist dies in der Eegel noch mehr der Fall bei einer offentlichen Anschuldigung des Arztes. Starke Parteien mogen sich unter diesen Umstanden ins- besondere in kleinlichen Verhaltnissen gebildet haben und einander schroff gegeniiber stehen. Anfeindungen, Aerger- nisse, Kundgebungen der gehassigsten Art sind dann gekniipft an einen Process, dessen Ausgang entscheidend fiir die Sicherstellung, den Ruf, ja oft fiir das Schicksal des Arztes. Ich mochte daher vor Allem im Interesse des angeschuldigten Arztes dringen auf die baldige Begutachtung von Seiten eines unbefangenen Arztes oder Gerichtsarztes und verweise im ITebrigen auf das, was oben iiber die Zuziehung der Sach- verstandigen im Allgemeinen gesagt worden. Aus alien diesen 67 Grlinden glaube ich mich und Andere uberzeugt zu halten, von einer Begutachtung Seitens eines Collegiums insbesondere in erster Instanz abzusehen. Wir schliessen diese Betrachtung mit dem Wunsche, dass sie beitragen mb'ge, traurige Vorkommnisse zu verhuten und besoudere Gefahren und Ungliicksfalle, wenn solche an Aerzte herantreten, geeignetermassen zu behandeln. Casuistik. 1. Klinische Excellence und arztliche Xegligence. Aktenmassige Darstellung eines Kunstfehlers nebst kritischen Bemerkungen. Der Holzhauer A. zu B. war am 1. Marz 1884 bei der Arbeit durch einen umstiirzenden Baum verletzt worden, indem ihm ein Bein aus der Kugel ausgerenkt wurde. Der- selbe hat sich am namlichen Tage in die Pflege des Dr. med. C. zu D. begeben, der ihn bis zur Entlassung aus derselben behandelte. Der Klager, Holzhauer A. behauptet nun, dass das Bein. als der Verband nach einigen Wochen abgenommen wurde, nicht geheilt, sondern erheblich verkiirzt gewesen sei und zwar in Folge der nicht ordnungs- und kunstgemassen Behandlung seitens des Beklagten, des Dr. med. C. That- sache 1st, dass, als der als Zeuge und Sachverstandige unter dem 8. December 1884 und wiederholt (in der Berufungs- instanz) unter dem 1. Mai 1885 vernommene Dr. med. E. das Bein des Klagers am 28. April 1884 auf Aufforderung des Fb'rsters F. untersuchte, dasselbe verkiirzt auf 3 4 Centi- meter, nach Innen gebogen" vorfand, die Beweglichkeit des Beines in der Hufte war eine sehr geringe, der Gelenkkopf stand liber der Pfanne im Darmbein (Locatio iliaca). Der Klager behauptet ferner, dass er, da eine nachtragliche Heilung des Beines auch nicht mehr moglich sei, da er sich 5* 68 bislier mit Holzhauer- und anderer scliwerer Arbeit ernahrt und hierdurch wochentlich im Durchschnitt 8 Mk. verdient, jetzt aber durch das verkruppelte Bein verhindert sei, diese Arbeiten ferner auszufiihren, auch weder ein Handwerk noch eine Kunst verstehe, arbeits- und verdienstlos sei. Da der Beklagte diese seine Arbeitslosigkeit verschuldet habe, so sei derselbe auch verpflichtet, vom 1. Juni 1884, als dem Zeit- pimkt ab, an welchem Klager bei ordnungsmassiger Be- haudlimg spatestens wieder hergestellt sein wtirde, ihra den Schaden, der in dem Entgehen des bezeichneten Wochen- lolmes bestehe, zu ersetzen. Der Beklagte bestreitet, dass er sicli bei der Behand- lung des Klagers irgend eines Versehens schuldig gemacht, er sei am 1. Marz 1884 zum Klager gernfen worden, habe eine Verrenkung des einen Beines nach hinten, oben und aussen constatirt, er habe das Bein durchaus kunst- und ordnungsgemass eingerichtet, so dass das vorher adducirte und verkiirzte Bein seine normale gerade Stellung erhielt und die Verkitrzung gehoben war. Durch passive Bewegungs- versuche, die er an dem Bein vorgenommen, habe er sich von der vollstandigen Beweglichkeit des Beines iiberzeugt. Die Schmerzensausserungen des Klagers batten auch sofort nach der Einrichtung aufgehort. Dnrch eine Schiene habe er das Bein vor jeder Bewegung gesichert und den Klager auf die Gefahr des Ausrenkens bei jeder Bewegung aufmerk- sam gemacht. Auch bei der Abnahme der Schiene habe er dem Klager vollig ruhige Bettlage anempfohlen. Bei Ent- lassung des Klagers aus seiner Behandhmg sei das Bein im vollig normaleu Zustande uuverkurzt und beweglich gewesen. Beklagter bestreitet ferner, dass das Bein jetzt ver- kiirzt und unbeweglich sei. Sei dies aber der Fall, so sei es lediglich Folge der eigenen Unvorsichtigkeit des Klagers, welcher der bestimmten arztliclien Anordnung zuwider das Bein nicht geschont, vielmehr schon in den ersten Tagen nach dem Unglucksfall das Bein habe zum Bett heraushangen 69 lassen, sich im Bett herumgewalzt, ans demselben gefallen, bereits am dritten Tage durch die ganze Stube in die Kammer gerutscht, auf der Erde herumgekrochen sei und sich auf den Stuhl geliolfen und bereits am achten Tage nach dem Unfall zu gehen versucht habe. Beklagter bestreitet endlich die angebliche Arbeitsun- fiihigkeit des Klagers. Derselbe liabe im Gegentheil sich im Sommer desselben Jalires mit Heumachen und Kartoffel- liacken beschaftigt und einen stundenweiten Weg gemacht. Aber selbst wenn der Klager nicht im Stande sein sollte. das Bein vollig zu gebrauchen, so konne er sich doch den- selben Arbeitslolm wie fruher durch sitzende Beschaftigung z. B. grobe Schnitzerarbeiten, Steinklopfen verdienen. Der Klager hat die Anfiihrungen des Beklagten be- stritten. Xachdem in erster Instanz Beweis erhoben worden durch Vernehmung des oben genannten Dr. C. und des Dr. E. als Zeugen und resp. Sachverstandige wurde durch Erkennt- niss der Civilkammer des K. Landgerichts zu F., verkiindet am 8. December 1884, der Klager mit der erhobenen Klage abgewiesen und zur Tragung der entstandenen Kosten ver- urtheilt. Griinde: n Der Anspruch des Klagers griindet sich auf die von ihm behauptete Verschuldung des Beklagten, die von Ersterem nachgewiesen werden muss. Dieser Nach- weiss ist aber durch den hier benannten Sachverstandigen Dr. E. nicht gefuhrt. da derselbe ausgesagt, dass er nicht mit Gewisslieit beurtheilen konne, ob die Verrenkung in Folge fehlerhafter Behandlung schlecht geheilt worden sei, in gleicher Weise hat sich der Gegengutachter ausgesprochen. Da hiernach eine V^erschuldung des Beklagten nicht erwiesen, erscheint der erhobene Anspruch imbegriindet, nnd war die Klage abzuweisen." In der Berufungsinstanz wurde durch Erkenntniss des Civilsenats des K. Oberlandesgericht zu G., verkiindet den 1. October 1885. fur Eecht erkannt, 70 ,,dass Beklagter schuldig, an Klager vom 1. Juni 1884 ab bis auf Weiteres wochentlich 6 Mk. zu zahlen, Klager mit der Mehrforderung abztvweisen, die Kosten des Rechtsstreites dem Klager zu */4 und dem Beklagten zu 3 /4 aufzulegen." Zur Rechtfertigung der Berufung hat Klager noch an- gefiihrt: ,,Den Beklagten treffe insofern grosses Verschulden. als er den Verband an der verletzten Stelle angelegt habe, ohne sich zuvor davon zu iiberzeugen, ob die Einrichtung des luxirten Schenkelkopfs ganz und vollkommen gelungen sei. Fiir jeden Arzt sei es bei Luxation des Schenkelkopfs, insbesondere. wenn Patient, wie Klager mager uud von nicht hervorragender Muskulatur des Huflgelenks sei, so lange nicht eine starke Anschwelluug eingetreten, leicht erkennbar, ob die von ihm versuchte Einrichtung gelungen sei oder nicht. Bei der ersten Untersuchung am Tag des Unfalls und bei Anlegung des ersten Verbandes sei das verletzte Hliftgelenk tiberhaupt nicht, jedenfalls aber nicht so stark angeschwollen gewesen, dass die Anschwellung eine Diagnose unmoglich gemacht oder erheblich erschwert habe. Da aber ,bei der drei Tage nach der Anlegung des Verbandes erfolgten Abnahme desselben der verletzte Fuss des Klagers steif, unbeweglich und verkilrzt, sowie der Schenkelkopf ausgerenkt gewesen sei, so miisse, so lange nicht nachgewiesen sei, dass der ausgerenkte Schenkelkopf nach Anlegung des ersten Verbandes von Neuem ausgerenkt worden, angenommen werden, dass derselbe vor Aulegung des ersten Verbandes nicht gehorig eingerenkt worden und dass dadurch eine ein- getretene Verkiirzung, Steif heit und Unbrauchbarkeit des verletzten Fusses bedingt und verursacht worden sei. Und dies sei umsomehr anzunehmen, wenn der Verletzte von ge- sunder Constitution und an Feld- und Waldarbeit gewolmt sei, wie dies beim Klager der Fall. Endlich sei fur jeden Arzt bei Untersuchung des ausgerenkten Schenkelkopfs leicht erkennbar, insbesondere bei mageren Leuten von massig entwickelter Muskulatur wie der Klager, ob der Schenkel- 71 kopf nach gut erfolgter Einrichtung spater wieder ausgerenkt worden sei, ja es konne dies bei einiger Aufmerksamkeit dem behandelnden Arzt iiberhaupt niclit entgehen. Zu dem Verband habe Beklagter ferner aus grober Fahrlassigkeit zwei wollene Halstiicher statt eines leinenen Verbandes ver- wendet. Am 12. April 1884 habe derselbe den Klager so- dann, ohne sich davon zu iiberzeugen, ob das Bern des Klagers noch ausgerenkt gewesen sei oder niclit, aus der Behandlung entlassen und dabei erklart, er konne nichts mehr tlmn. die Xatur miisse sich weiter helfen. Das Bein des Klagers sei damals steif, unbeweglich, ausgerenkt und verkiirzt und der Fuss gekriimmt gewesen. In diesem Zu- stande habe auch der obengenannte Dr. E., der den Klager am 15. April 1884 untersucht habe, das Bein vorgefunden." Beklagter raumt ein, dass bei der ersten Einrichtung des Hiiftgelenks des klagerischen Beins dasselbe nur massig angeschwollen und eine Diagnose nioglich gewesen sei. Die (bereits in erster Instanz benannten) Zeugen F. und G., welche dem Beklagten bei der Einrichtung des Beines be- hulflieh gewesen, sowie der Zeuge H. der anwesend gewesen, hatten das Einschnappen des Geleukkopfes gehort; darauf hatten die Schmerzensausserungen des Klagers sofort auf- gehort. Dies sei das beste Zeichen hierfur, dass die Ein- richtung gelungen gewesen sei. ') Etwa 8 10 Tage nach ') Sachlich miissen wir hier hervorheben, class der Beklagte aucli die Thatsache geltend machte, r dass nach der Einrenkung keine Ver- kiirziing des Beines zu beraerken war." Dass das Glied seine normale La'nge wieder habe, sei das wichtigste Criterium der stattgefundenen Einrenkung. Waren die Gerausche nicht von der Einrenkung bewirkt worden (wie spater von dem Sachverstandigen behauptet wurde), die Ein- renkung also nicht gelungen, so hatte das Glied doch niemals seine normale Lange wieder haben konnen, wie sie der Zeuge J. bekundet. (Zeuge J., der bei der Einrichtung anwesend, hat unter dem 1. Mai 1885 erhartet : ,Nachdem zwei Mai vergeblich von mehreren Mannern oben und unten am Bein nach Anleitung des Herrn Doctor gezogen worden war, wahrend der Klager fortwahrend wimmerte, hb'rten wir (die anwesenden Zeugen) beim dritten Versuch Alle oben am Hiiftgelenk etwas einschnappen, der Anlegung habe er den Verband, der nur in einem Zu- sammenbinden der Beine mittelst eines Handtuchs zur Ver- liinderung von Bewegungen bestehe, zu dem er. wie er es als moglich zugebe. wollene Tiiclier genommen haben moge was aber unerheblich sei, da man in solchen Fallen zu nelimen pflege, was man gerade habe - - abgenommen, dem Klager aber jede Bewegung untersagt und ihn auf die Folgen einer Zuwiderhandlung hiergegen aufmerksam gemacht. Eine Woche spater habe er den Klager passive Bewegungen machen, wieder eine Woche spater zur Probe gehen lassen und noch eine Woche darauf, da bei alien diesen Versuchen sich irgend eine Abnormitat nicht gezeigt habe, die Behandlung auf- gegeben und dem Klager nachdrucklich Schonung des Beines anempfohlen. Wie er nachtraglich erfahren, habe Klager jedoch seine Anordnungen schwer vernachlassigt. Denn nicht nur sei er nach Anlegung des Verbandes mit demselben durch die Stube gerutscht und habe nach Abnehmen des Ver- bands das Bein zum Bett heraushangen lassen, sondern sei auch umher gelaufen. Dieses Verhalten des Klagers beweise einerseits, dass das Bein gliicklich und vollstandig eingerenkt gewesen, denn ein Mensch mit ausgerenktem Bein konne gar uicht oder nur mit den grossten Schmerzen sich bewegen, aiidererseits aber verhindere ein solch unrichtiges Handeln den inneren, nicht controlirbaren Heilungsprocess und mache dadurch eine spatere wiederholte Ansrenkung moglich. Nach Entlassung aus der Behandlung habe auch der Holzarbeiter K. den Klager gehend getroffen und weder ein Hinken noch eine sonstige Abnormitat beim Gehen an demselben bemerkt. Wenn Dr. med. E. 6 8 Wochen nach der ersten Ver- renkung eine wiederholte oder noch vorhandene Ausrenkung worauf der Klager sofort ganz ruhig und anscheinend ohne grosse Schinerzen dalag. Ich habe den Klager mindestens etwa fiinf Mai nach der ersteu Behandlung im Bett liegen sehen und ihn heben helfen. Die Beine lagen dicht aneinander und war eine Verkiirzuug des einen oder des anderen nicht zu bemerken." 73 constatirt habe, so habe der Klager, wie jener unrichtig ge- liandelt, wenn sie nicht eine Wiedereinrenkung versucht batten. Im Sommer 1884 habe Klager wie ein Gesunder gearbeitet und verdient. Klager bestreitet das Einschnappen des Hiiftgelenks, sowie die behauptete Schmerzfreiheit. Vielmehr batten die Manipulationen des Beklagten die Schmerzen des Klagers derart vermehrt, dass, als Beklagter sich entfernt habe. Klager nach ca. 1 /4 Stunde schon gezwungen gewesen sei, nach dem Beklagten zu schicken und urn dessen Riickkehr, Beistand und Hilfe zu bitten, was letzterer jedoch verweigert habe. Audi diese Weigerung sei pflichtwidrig gewesen, um so mehr, als Beklagter sich bei der Schmerzenssteigerung hatte sagen miissen, dass der Schenkelkopf nicht gehorig eingerenkt sein miisse. Ebenso bestreitet Klager die ubrigen Anfiihrungen des Beklagten, indem er nur zugiebt, im Sommer 1884 einige Male auf arztlichen Rath, jedoch mit Hiilfe zweier Stocke ausgegangen zu sein. Es ist in zweiter Instanz neuer Beweis erhoben, ins- besondere ist von dem Professor Dr. med. N. N., welcher zuvor den Klager personlich untersucht hat, ein Gutachten abgegeben worden. Da es sich hier zunachst um arztliche Interessen handelt, so glauben wir, bevor wir in der Erorterung der Begriindung der Berufungsinstanz fortfahren, jenes unter dem 13. Juli 1885 erstattete Gutachten unsern Lesern in extenso wiedergeben zu miissen: rn Der mir von dem hiesigen K. Amtsgericht zugewiesene Holzhauer A., Klager und Berufungsklager gegen den Arzt Dr. med. C. zu D. ist von mir in diesen Tagen arztlich untersucht worden. Derselbe leidetunzweifelhaft an einer nicht eingerichteten Verrenkung des liuken Oberschenkelbeines im Hiiftgelenk, hat in Folge dessen einen verkiirzten und nach einwarts gedrehten Fuss, der, weil ihm in Folge der Verrenkung die knocherne Stiitze in der Hiiftpfanne fehlt, nicht im 74 Stande ist, die Belastung durch das Korpergewicht zu tragen, hinkt sehr stark, kann nur mit ausserster Be- schwerde und hochst unbeholfen gehen imd 1st in Folge dessen kaum oder hb'chstens zura vierten Theil arbeitsfahig. Nach raeiner Ansicht 1st allerdings das Hiiftgelenk von dem damals behandelnden Arzt nicht richtig eingerenkt worden. Die entgegenstehenden Zeugnisse der bei dem Akte der angeblichen Einrenkung zugegen gewesenen Laien, sind absolut belanglos, da nur ein unterrichteter und wirklich sachverstandiger Arzt dariiber urtheilen kann. ob in einem solchen Falle die Einrenkung wirklich erfolgt ist, und weil gerade bei einer Verrenkung des Hiiftgelenkes es sehr oft vorkommt, dass durch gewaltsame Bewegungen, die bei der Einrichtung mit der Extremitat vorgenommen werden, der Fuss besser, das heisst gerade gestellt wird, ohne dass doch die wirkliche Einrenkung gelungen ware. Dass die Umstehenden das Einschnappen gehort haben wollen. ist ebenfalls bedeutungslos, weil die Einrichtung fast immer ohne jedes horbare Gerausch erfolgt und umgekehrt wahrend der Einrichtungs-Versuche sehr lebhafte Gerausche gerade bei vergeblichen vom Arzt unternommenen Bewegungeu durch das Abgleiten des Gelenkkopfes von den knocherneu Theilen erzeugt werden. Die Annahme, dass nach vollstandig erfolgter Reposition die Verenkung in Folge unzweckmassigen Verhaltens des Kranken sich reproducirt habe und der Gelenkkopf von Neuem aus der Pfanne geglitten sei, ist im hochsten Grad unwahrscheinlich, da nach der Angabe des behandelnden Arztes selbst dieser neue Unfall, das heisst, diese neue Verrenkung, dann mindestens 32 34 Tage nach der ersten Verrenkung und der angeblichen glucklichen Wiederein- renkung erfolgt sein miisste, was am Hiiftgelenk im All- gemeinen nicht vorkommt. Am allerwenigsten konnen, wie es von Seiten des behandelnden Arztes und Verklagten geschieht , dem Klager Vorwlirfe gemacht werden , die dahinzielen, dass er durch sein unzweckmassiges Verhalten 75 die Wiederausrenkung selbst herbeigefuhrt habe, da ja der Verklagte selbst angiebt, dass er noch am 32. 34. Tage trotz eben dieses unzweckmassigen Verhaltens alles in Ordnung gefimden habe, und dass sich der Gelenkkopf damals noch an der richtigen Stelle, das heisst in der Pfanne, das Bern in der normalen Lage befunden habe. Dahingegen ist dem behandelnden Arzt und Verklagten in Betreif des Nichtgelingens der Einrenkung nicht ohne Weiteres ein Vorwurf zu machen, da die Einrenkung von Verrenkungen des Hiiftgelenks zuweilen nur mit der aussersten Schwierigkeit nach Anwendung verschiedener Methoden und mehrfachen vergeblichen Versuchen selbst dem geilbtesten Fachchirurgen gelingt, ja einzelne Falle vorkommen, wo besondere, jedoch nicht am Lebenden mit Sicherheit zu eruirende Verhaltnisse die Einrichtung uberhaupt unmoglich machen. Ob freilich ein derartiger, immerhin sehr exceptioneller Fall, der mir in einer dreissig- jahrigen grossen klinischen Praxis nur ein einziges Mai vorgekommen ist, hier vorgelegen hat, diirfte ex post nicht mehr zu entscheiden sein. Entschieden gefehlt hat aber der behandelnde Arzt insofern, als er den beziiglichen schweren und schwierigen Krankheitsfall offenbar viel zu leicht genommen. Es ist nicht zu verlangen und absolut unmoglich, dass jeder Arzt sich die technischen Fertigkeiten und selbst die Kenntnisse erwirbt, die nothwendig sind, urn einen schwierigen Fall von Hiiftgelenkluxation wieder einzu- richten, zumal diese Verletzungen so selten sind, dass manchem sehr beschaftigten inneren (?) Arzte uberhaupt wahrend seines ganzen Lebens kein einziger derartiger Fall vorkommt und ferner die Schwierigkeiten, die sich der Einrenkung entgegenstellen, oft so gross sind, dass eine fachmannische Uebung und besonders eine Kenntniss der mannigfachen der Eeposition sich entgegenstellenden Hindernisse nothwendig sind, um eben diese Schwierigkeiten zu uberwinden. 76 Aber jeder Arzt soil wenigstens so viel von der Ge- schichte und der Bedeutung der Huftgelenksluxationen wissen, dass er, falls er nicht selbst die Fahigkeiten und Kenntnisse sich erworben haben kann, urn die Verrenkmig wieder einzurichten, den beziiglichen Kranken an einen andern Sachverstandigen weist. Audi muss ihm bekannt sein, dass die Schwierigkeiten der Einrenkung mit jedem Tag, der nach der Verletzung verstreicht, erheblich wachsen und dass nach wenigen Wochen selbst der Faclichirurg oft nicht mehr im Stande 1st, die Einrenkung zu erzielen, so dass derartige Falle einen Aufschub und ein Zuwarten nicht gestatten. Ebenso muss der Arzt wissen, dass durch die nicht erfolgte Einrenkung der Kranke im allerhochsten Maasse geschadigt und das betreffende Bein mehr oder minder unbrauchbar wird. Der Verklagte hat behufs Einrenkung einer Huftgelenks- luxation, einer, wie ihm bekannt sein musste, ausserordent- lich wichtigen und fur einen chirurgisch nicht speciell aus- gebildeten Arzt schwer zu beseitigenden Verletzung nicht einmal einen Collegen zur Assistenz zugezogen, obwohl eine solche Beihulfe auch fiir den geiibtesten Chirurgen kaum zu entbehren ist und hat welter nicht einmal die Chloroform-Narkose angewandt, durch welche, wie ihm be- kannt sein musste, nicht nur die Reposition, sondern auch die genaue Ermittelting der Art der Verletzung, der Stellung des Gelenkkopfs u. s. w. im wesentlichen Grade erleichtert wird."" 1 ) ') Professoren scheinen iiber Kunstfehler, je nachdem diese von ihnen oder Anderen begangen werden, anders zu denken, wie aus folgen- dem Ausspruch hervorgeht: ^Kein Chirurg, wie erfahren oder geschickt er sei, kann flir sich die Verantwortung iibernehmen, dass er nicht einmal infolge von Unachtsamkeit, Vergessenheit, augenblicklichera Ungeschick oder infolge irgend eines ganz unerwartet eintretenden Zwischenfalles, und wenn es nur das Zerreissen einer Fadensclilinge ware, einen Fehler begehen Avird, der fiir den Kranken verhangnissvoll werden kann. Ja, jeder vielbeschaftigte nnd seit einer langeren Eeihe von Jahren thatige Chirurg wird sich selbst eiuer Reihe groberer und grb'bster (!) Fehler er- 77 n Der Beklagte hat, indem er die Richtigkeit des N. N.'schen Gutachten bestreitet und auf eine Einholung eines Obergutachtens antragt, noch Folgendes angefiilirt : Professor N. N. irre, wenn er behaupte, dass der Klager nur hochst un- beholfen gehen konne und nur zum vierten Theil arbeitsfahig sei. Derselbe habe sich durch Uebertreibungen des .Klagers tauschen lassen. Die Bevveisaufnahme habe ergeben. dass der Klager ganz gut arbeiten konne. Die Arbeit, von der der Zeuge spreche, dass Klager namlich auf eine entfernte Wiese gegangen und Graben aufgemacht habe, zahle zu den sehr schweren Arbeiten, da nasse, sclrwere Rasenstiicke aus- gehauen, ausgehoben und fortgekarrt werden miissten. Der Weg, den der Klager ferner nach der Aussage des Revier- forsters E. wiederholt im Jahre 1884 von B. nach M. ge- gangen sei, fiihre sehr steil eine Stunde bergauf. Klager sei im Sommer 1885 seit Monaten beim Ban der nach N. fuhrenden Strasse beschaftigt und verdiene taglich Mk. 1.50. Professor N. N. stehe trotz seiner Grosse bei vielen seiner Ansichten ganz vereinzelt da. Die Erfahrung habe gelehrt, dass bei den Luxationen auf das Darmbein mit der Zeit eine fast vollkommene Gelenkhohle sich bilde, so dass die Glieder wieder brauchbar wiirden. Das von den Laien bemerkte Gerausch bei der Operation diirfe nicht, wie Dr.. med. N. N. thue, ignorirt werden. Der Professor der Chirurgie E. Gurlt in Berlin sage in Eulenburgs Realencyclopadie Bd. VI. S. 610: n das Eintreten des Schenkelkopfs in die Pfanne ver- rath sich durch ein deutlich schnappendes Gerausch" und in Bill roths Handbuch der Chirurgie etc. 8. Aufl. S. 269 heisse es : n wenn der Kopf in die Gelenkhohle hineintritt, so geschieht dies mit einem deutlich horbaren sclmappenden Ton." J. habe ferner bekundet, dass das Bein des Klagers nach innern, die er, nach dieser Richtung bin, bei Operationeu begangen hat. Wenigstens muss ich dies fiir mich offenherzig eiugesteheu." In einem Fall ad deorum magnam gloriam, im andern: n Ja Bauer, das ist auch was ganz anderes" ! ! ! 78 der Operation wieder seine normale Lage gehabt habe. Die Einrichtung des Beines miisse daher erfolgt gewesen sein. Es ist sehr leicht moglich, dass in den 3 Wochen nach der Entlassung des Klagers aus der Behandlung des Beklagten das Bern wieder ausgerenkt worden sei, zumal ein grosser Kapselriss vorhanden gewesen sei. Den einzigen Collegen, den er in der Nahe gehabt habe, Dr. E., habe er zu der Einrichtung nicht hinzuziehen konnen, da derselbe mit ihm verfeindet sei. Die Anwendung des Chloroforms verbiete sich bei Branntweintrinkern von selbst. Der Klager hat diese An- und Ausfuhrungen des Be- klagten bestritten. Die Parteien haben den Inhalt des angefochtenen Ur- theils und die Aussagen der (in erster und zweiter Instanz) vernommenen Zeugen und Sachverstandigen . . . vorgelesen. Es war hierauf, wie geschehen, zu entscheiden. Klager hat auf Grund der Behauptung, durch Ver- schulden des Beklagten arbeitsunfahig geworden zu sein, die Schadensklage gegen denselben angestellt. Nach Lage der Sache erscheint die Annahme gerecht- fertigt, dass durch das angebliche Verschulden des Beklagten und die dadurch bewirkte Verletzung des Klagers, deren Be- weis vorausgesetzt, nicht erst eine Rechtsbeziehung zwischen den Parteien hervorgerufen worden ist, sondern dass die- selben vielmehr von vornherein in einem Vertragsverhaltniss zu einander gestanden haben. Denn unstreitig hat der Be- klagte die Behandlung des Klagers ubernommen und Klager sich derselben unterworfen. Es ergiebt sich hieraus, dass die Parteien durch konkludente Handlung einen Vertrag mit einander dahin eingegangen sind, dass der Beklagte das Bein des Klagers wieder einrichte. Dass die Willensmeinung der Parteien nicht in Worten, sondern in Handlung zum Aus- druck gelangt ist, steht der Vertragsannahme nicht entgegen. Es ist hinreichend, wenn der Wille in ausserlich erkennbarer Weise hervorgetreten ist. Wollte man ein Vertragsverhalt- 79 niss niclit annehmen, so wiirde die Aequilische Klage statt- fiuden und haftet in beiden Fallen der Beklagte auch fur ein geringes Verselien. Nach dem Ergebniss der Beweisanfnahme ist bewiesen, dass das Bern des Klagers vom Beklagten nicht wieder eingerichtet ist. Der als Sachverstandiger von beiden Parteien vorgeschlagene und vom Gericht erwahlte Professor N. N. hat sich namlich in dem von ihm iiberreichten Gut- achten dahin ausgesprochen. (Folgen die betreffenden Satze jenes Gutachtens.) Ferner hat der als Zeuge und Sach- verstandiger vernommene Dr. med. E. ausgesagt: (Folgen dessen Eingangs unserer Darstellung wiedergegebenen An- gaben.) Es fragt sich, ob wegen der nicht erfolgten Ein- renkung dem Beklagten ein Verschulden zur Last fallt. Der Klager einerseits wirft dem Beklagten Pflichtver- letzung in mehrfacher Beziehung vor: 1) Beklagter habe den Verband angelegt, ohne sich zu- vor iiberzeugt zu haben, ob die Einrenkung auch wirklich erfolgt sei. 2) Beklagter habe zu dem Verbande wollene Tiicher benutzt. 3) Beklagter sei trotz der an ihn ergangenen Auf- forderimg schleunigst zum Klager zuriickzukehren, weil sich die Schmerzen gesteigert batten, nicht zuruckgekehrt, ob- wohl er sich unter diesen Umstanden hatte sagen miissen, dass das Bei-n nicht eingerenkt sei. 4) Beklagter habe den Klager ausdriicklich als geheilt aus seiner arztlichen Behandlung entlassen, obwohl er hatte sehen miissen, dass das Bein noch im verrenkten Zustande sei. Der Professor Dr. med. N. N. nimmt, indem er das Hineinschnappen, auf das sich Beklagter stiitzt, fur be- deutimgslos erachtet, ein dreifaches Verschulden des Be- klagten an. Der Beklagte habe, obwohl er als Arzt sich der Schwierigkeit der Operation unter alien Umstanden be- wusst sein und darnach sein Verfahren einrichten musste. insofern schwer gefehlt: 80 1) Dass er sich einer so schwierigen Operation tiber- haupt unterzogen, anstatt den Patienten an eine sachkundigere Autoritat zu verweisen. 2) Dass er trotz der Schwierigkeit der Operation von dem unerlassigen Beistand eines anderen Sachverstandigen abgesehen. 3) Dass er auch nicht einmal die Chloroform-Narkose, deren Bedeutung und Erforderniss ihm bekannt seiu musste, angewendet habe. In letzter Beziehung gereicht jedoch dem Beklagten zur Entschuldigung, dass in Fallen, wie dem vorliegenden, wo der Ungliicksfall auf dem Lande sich zugetragen hat, und baldige Hiilfe Noth thut, der zunachst herbeigerufene Arzt auf sich selbst angewiesen ist und sich bei seiner Wirksamkeit auf diejenigen Hiilfsmittel beschranken muss, welche ihm durch die Verhaltnisse des einzelnen Falles ge- rade zur Verfiigung gestellt werden. Es kann daher dem Beklagten nicht zum Vorwurf gerechnet werden, wenn er zum Verband keine Leinwand verwendet, von dem Beistand eines zweiten Arztes absah und eine Chloroform-Narkose nicht vornahm. Ebenso liegt kein hinreichender Grund vor, zu bezweifeln. dass der Beklagte zur Einrenkung des klagerischen Beines in gleicher Weise befahigt war, wie jeder andere gebildete Arzt. Das schwere Verschulden des Beklagten ist vielmehr darin zu erblicken, dass er, obwohl er ebenso, wie die beiden Sachverstandigen D. und N. N., hatte sehen miissen, dass das Bein des Klagers nicht ein- gerenkt war, dieses nicht erkannt, sondern sich hieruber ge- tauscht und den Klager als geheilt aus seiner Behaudlung entlassen hat. Denn nach dem Gutachten des Dr. N. N. musste der Beklagte als Arzt wissen, dass die Schwierig- keiten der Einrenkung mit jedem Tage, der nach der Ver- letzung verstreicht, in erheblichem Maasse wachsen, so dass nach wenigen Wochen selbst der Fachchirurg nicht mehr im Stande ist, die Einrenkung zu erzielen. Fur den Beklagten bestand wenigstens jetzt, wenn er dies vor Anlegung des 81 Verbandes und spaterhin versaumt hatte, die allerdringendste Pfliclit und Veranlassung, auf das Sorgfaltigste sich daruber zu vergewissern , ob die Einrichtung auch wirklich erfolgt sei. In Rucksicht zu ziehen 1st ferner, dass nach dem Gut- achten des Dr. med. N. N. Verrenkungen von Beinen im Hiift- gelenk, fast immer heilbar sind, die Ausnalimen. deren Vor- handensein fiir den vorliegenden Fall der Beklagte selbst nicht behauptet hat, zu den Seltenheiten zahlen und ihm speciell in seiner dreissigjahrigen grossen Klinik erst ein einziger derartiger Fall vorgekommen ist. Der Beklagte hat daher den jetzigen gebrechlichen Zustand des Klagers ver- sclmldet. Der Beklagte hat seinerseits ein Verschulden des Klagers, sowie auch des Dr. D. behauptet. Dem ersteren wirft er vor, die Wiederausrenkung des Beines durch unzweckmassiges Verhalten wahrend der Behandlungszeit veranlasst zu haben ; er macht ihm ferner ein en Vorwurf, dass er nicht spaterhin, als der Dr. med. D. die noch vorhandene Verrenkung an dem Beine konstatirt habe, sich von Neuem habe operiren lassen. Dem Dr. med. D. legt er zur Last, dass er nicht selbst die Wiedereinrenkung versucht habe. Diese Vorwurfe sind unbegrimdet. Mit der Behauptung. dass Klager durch eigenes unzweckmassiges Verhalten die Wiederausrenkung veranlasst habe, steht abgesehen davon, dass nach Angabe des Dr. med. N. N. Wiederausrenkungen eines eingerichteten Beines im Hiiftgelenk im Allgemeinen nicht stattfinden - - die eigene Anf iihrung des Beklagten im Widerspruch, wonach er bei Entlassung des Klagers aus der Behandlung Alles in Ordnung und das Bein in normalem Zustande gefunden hat. Eine Wiederausrenkung des Beines nach diesem letzteren Zeitpunkt hat aber der Beklagte weder naher zu begriinden gesucht, noch iiberhaupt nur behauptet. Dem Klager ist es ferner nicht als Verschulden zuzurechnen, wenn er sich einer neuen Operation nicht unterworfen hat, da sich die Schwierigkeiten derselben in der Zwischen- zeit erheblich gesteigert hatten. Auch wiirde dadurch das 6 82 personliche Verschulden des Beklagten in keiner Weise bertthrt werden. - - Der Dr. med. D. hatte korrekt gehandelt, wenn er bei der Schwierigkeit des Falles die Behandlung des Klagers ablehnte und denselben vielmehi nacli seiner Aus- sage an eine sachkundige Autoritat verwies. Den Beklagten trifft daher allein die Schuld an dem Zustand des .Klagers. Er hat durch sein oben geriigtes Verhalten ebensowohl seine Vertragspflicht verletzt, als gegen die Vorschriften des Aequi- lischen Gesetzes verstossen mid ist dem Klager daher zum Schadenersatz verpflichtet. Was die Hb'he des verlangten Schadenersatzes anlangt, so ist kein Gewicht darauf zu legen. dass nacli Auskunft einzelner Zeugen der Klager mehrfach wieder Wege und Arbeiten verrichtet hat, und dass nacli Ansicht des Biirgermeisters N. der Klager in seiner Arbeit nicht gehindert und der Ertrag seiner Thatigkeit nicht ge- mindert ist. Abgesehen davon, dass diese Arbeiten in quauto von den Zeugen nicht geniigend substantirt werden, so musste auch der Klager, welcher nach der Aussage des N. ver- mogenslos ist, arbeiten und ein bestimmtes Minimum ver- dienen, wenn er leben wolle, und werden die vereinzelten Einnahmen aus seinem Verdienste durch die arbeitslose Zeit wieder iibertragen. Es fragt sich nur, ob seine Leistungen auch im Verhaltniss zu seiner dauernden Leistungsfahigkeit stehen, oder ob dieselben etwa unter dem Einfluss der Noth - - iiber die letzteren hinausgehen und so bei steter Wiederholung der Leistung auf die Dauer die Krafte con- sumiren und zerstoren mussen. Nicht das im einzelnen Fall thatsachlich Geleistete, sondern die wirkliche Leistungsfahig- keit des Organismus ohne Gefahrdung des Letzteren ist in Betracht zu ziehen. Ueber die Letztere aussert sich keiner der iibrigen Zeugen und Sachverstandigen , wahrend das N. N'sche Gutachten, indem es die derzeitige Gebrechlichkeit des Klagers eingehend entwickelt. dahin gelangt, dass derselbe kaum oder hochstens zum vierten Theile noch arbeitsfahig sei. In dem Arbeiterstande aber, welchem der Klager angehort, deckt sich die Arbeitsfahigkeit mit der Verdienstfahigkeit. 83 Auf Grund des N. N'schen Gutachtens 1st daher erwiesen, dass die Arbeits- und Verdienstfahigkeit des Klagers sich um 3 /4 gemindert liat. Der Beklagte hat das N. N'sclie Gutachten in seinem ganzen Umfange angegriifen und das Gewicht desselben unter gleiclizeitiger Berufung auf ein dagegen einzuholendes Ober- gutachten abzuschwachen gesucht. Dem letzteren Antrag war nicht stattzugeben. Das Gutachten des . . . Professor Dr. med. N. N. wird nicht allein getragen durch die hohe Autoritat, welche dieser Sachverstandige als Gelehrter und praktischer Arzt in den weitesten Kreisen geniesst. Die streng sach- liche und ebenso klare als wissenschaftliche Begriindung desselben verleiht demselben eine massgebende und entschei- dende Bedeutung, so dass dasselbe nach der Ueberzeugung des Berufungsgerichts durch etwaige abweichende Gutachten anderer Aerzte, deren keiner fiir sich eine hohere Autoritat in Anspruch nehmen kann, nicht erschiittert zu werden ver- mag, und deshalb kerne Veranlassung gegeben ist, noch andere arztliche Gutachten in dieser Sache einzuholen. Nach der Aussage des Revierforsters E. hat der Klager zwar durchsclmittlich 9 Mk. pro Woche verdient. Dies konnte. da der Klager selbst seinen wochentlichen Verdienst nur auf 8 Mk. angiebt, nicht in Betracht kommen. Der Beklagte hat daher dem Klager wochentlich 3 U von 8 Mk. ==6 Mk. bis auf Weiteres zu ersetzen. Da ferner unbestrittener Maassen die Heilung des klagerischen Fusses bei ordnungs- massiger Behandlung langstens binnen 3 Monaten hatte be- endet sein konnen und der Unfall sich am 1. Marz 1884 zugetragen hat, so hat der Beklagte vom 1. Juni 1884 an den Klager die geforderte Entschadigung zu zahlen. Der zeitweilige Verdienst. welchen der Klager in der Zwischen- zeit gehabt hat, hat vom Beklagten auf desfallsiges richter- liches Befragen und von den Zeugen bei ihrer Vernehmung nicht so weit im Einzelnen begriindet werden konnen, dass sich eine entsprechende Kiirzung der obigen Betrage hatte rechtfertigen lassen." 6* 84 Nacli den uns vorliegenden Akten war n in vorbezeich- neter Processsache innerhalb der mit dem 30. November 1885 abgelaufenen Nothfrist ein Scliriftsatz zum Zweck der Termin- bestimmung bei dem Reichsgericht niclit eingereicht worden" and 1st von weiteren stattgehabten Verhandlungen in der Sache nichts bekannt. Kritische Bemerkungen. Wenn wir an vorbezeichneten Fall nachtraglich einige Bemerkungen knupfen, so liegt es uns feme, auf irgend welche Erorterungen inhaltlich des Erkenntnisses des Hohen Gerichtshofes einzugehen. Man ist sich bewusst. dass die technische Beurtheilung, die ja dem Richter nur das Material zu liefern hat zur Wiirdigung der gesetzlichen Bestimmungen und strafrechtlichen Entscheidungen , sich dieser Wiirdigimg strenge zu enthalten hat. Da aber hier ein Rechtsfall vor- liegt, zu dessen Untersuchung und Beurtheilung arztliche Kenntnisse erforderlich, so erscheint Jeder, der im Besitze dieser Kenntnisse, insbesondere der Gerichtsarzt, gewiss be- rechtigt, das Maass dieser Kenntnisse nachtraglich anzulegen, die Wahrheit zu erforschen, zu prufen, um des Rechtes Willen. Die technische Beurtheilung in der Berufungsinstanz nimmt ein dreifaches Verschulden des Beklagten an. Der Beklagte habe, obwohl er als Arzt sich der Schwierigkeit der Operation unter alien Umstanden bewusst sein und danach sein Verfahren einrichten musste, in so fern schwer gefehlt : 1) dass er sich einer so schwierigen Operation iiber- haupt unterzogen, anstatt den Patienten an eine sachkim- digere Autoritat zu verweisen; 2) dass er, trotz der Schwierigkeit der Operation von dem unerlasslichen Beistand eines anderen Sachverstandigen abgesehen ; 3) dass er auch nicht einmal die Chloroform -Narkose, deren Bedeutung und Erforderniss ihm bekannt sein musste, angewendet habe. 85 Die Rigorositat dieser Vorwiirfe 1st durch das richter- liche Erkenntniss erheblich abgeschwacht worden, indem man zur Entschuldigung des Beklagten wesentliche und praktische Rucksichten geltend machte, denen jeder Arzt. der die Landpraxis und deren Anforderungen kennt, voll- kommen beistimmen wird. Jeder, der diese Anforderungen kennt, wird sich sagen miissen, dass der behandelnde Arzt gewiss sehr korrekt und im Interesse des Kranken gehandelt. denselben nicht an eine sachkundige Autoritat zu verweisen. Der Arzt war im Ort, als das Ungliick geschehen ; der Arzt zu dem Kranken gerufen, musste sich sagen, dass die Repo- sition um so leichter, um so sicherer gelingt, je friiher nach geschehener Verletzung sie ausgefiihrt wird. Sind bereits 1 2 mal 24 Stunden verflossen, so treten nicht nur storende Myospasmen ein, sondern es verruckt sich das Gelenkende leicht weiter. es entstehen durch Bewegungen (auch durch falsche vergebliche Repositionsversuche) Umschlingungen. Zwischenlagerungen von Seiten der Muskeln, der Seitenbander etc., die der Reposition dann uniiberwindliche Hindernisse entgegensetzen kb'nnen. Und jeder Provinzialarzt, der schon ahnliche Kranke an eine sachkundige Autoritat verwiesen hat, weiss, welche Schwierigkeiten , Umstandlichkeiten er- wachsen, einen Kranken, wenn er. wie im vorliegenden Fall, vermogenslos, an eine sachkundige Autoritat zu verbringen. Der Antrag muss im Verwaltungswege gestellt, vom Gemeinde- vorstand bezeugt, vom Amtsarzt begutachtet, vom Vorstand des betreffenden Krankenhauses genehmigt werden, unter Hin- und Herfragen verstreichen Tage und Wochen und wir stehen nicht an, zu behaupten, dass eine solche Verzogerurig nicht nur nicht die Interessen des Kranken gefb'rdert, sondern auch die Stellung des Arztes zu einer sehr misslichen ge- staltet haben wiirde, dass dieselben Autoritaten, die mit Rigorositat den Vorwurf erheben, dass sich der behandelnde Arzt einer so schwierigen Operation iiberhaupt unterzogen, an- statt den Kranken an eine sachkundige Autoritat zu verweisen. den Arzt nunmehr. die erfolgte Aufnahme des Kranken 86 in eine Anstalt vorausgesetzt, zur Verantwortung gezogen haben wiirden, dass er den Patienten an eine sachkundige Autoritat verwiesen, anstatt sich einer, wenn auch schwierigen Operation zu unterziehen. Auch der zweite Vorwurf der technischen Begutachtung, dass der behandelnde Arzt, trotz der Schwierigkeit der Operation von dem unerlasslichen Beistand eines anderen Saehverstandigen abgesehen, ist von dem richterlichen Er- kenntniss entkraftet worden. Hier, wo augenblickliches Einschreiten dringend geboten, musste eben den Umstanden nach von der Zuziehung weiterer Sachverstandiger abgesehen werden. Weder der Arzt noch der vermogenslose Kranke war in der Lage, solche zu beschaffen. Und ultra posse nemo tenetur! Dasselbe betriift den dritten Vorwurf, dass der be- handelnde Arzt nicht einmal die Chloroform-Narkose, deren Bedeutung und Erforderniss ihra bekannt sein musste, ange- wendet habe. Man darf wohl fragen, wem sollte in diesem Fall, in dem nicht einmal ein Heilgehulfe dem Arzt zur Seite stand, und dieser so ganz und vollstandig mit der Reposition beschaftigt war, die Anwendung des Chloroforms iibertragen werden? Somit war der Beklagte, der uberdies mit Eecht hervorhebt, dass unter diesen Umstanden r bei Branntweintrinkern die Anwendung des Chloroforms sich von selbst verbiete", bei der Erwagung der Moglichkeit eines Ereignisses, welches fiir den Arzt eine gerichtliche Verfolgung nach sich ziehen kann, gewiss und voll berechtigt, von der Narkose abzuseheu. Ich habe in einer mehr als zwauzig- jahrigen Landpraxis recht oft unter ahnlichen Verhaltnissen die Anwendung des Chloroforms dem Laien iibertragen, aber ich war mir stets bewusst, wenn etwas Menschliches sich ereignen sollte, ein en so humanen Begutachter, wie Velpeau zu flnden, der bei einem Chloroformtod und einer Verurtheilung des Arztes dieserhalb in erster Instanz, nach eingelegter Berufung Freisprechung erzielte, indem er in seinem Gut- achten sagt: n Der Ausgang dieses Prozesses beriihrt mehr 87 die Gesellschaft als den arztlichen Stand. Es ist einleuchtend, dass, wenn im Augenblick der Anwendung des Chloroforms der Arzt die Mb'glichkeit eines Ereignisses bedenkt, welches fur ihn eine gerichtliche Verfolgung nachziehen kann, er alsdann, wie gross auch sein Wunsch, dem Kranken Schmerzen zu ersparen (und dessen Heilung herbeizufiihren), ohne An- wendung eines anasthetischen Mittels operiren wird." Aus diesen Erorterungen geht wohl zur Geniige hervor, dass im vorliegenden Fall von der technischen Begutachtung in der Berufungsinstanz klinische Anforderungen gestellt worden sind, welche vom praktischen Standpunkt nicht zu erfiillen waren, ja eine ganzliche Verkennung des Stand- punktes, der Anforderungen des praktischen Arztes bezeugen. Nur so wird es erklarlich, dass jeues Gutachten zu einer so schweren Anklage, einer Verurthei- lung, einer Belastung des Beklagten fiihren konnte. ohne gewisse Entlastungsmomente geltend zu machen, die von dem Richter gesucht und gefun- den wurden!! Wir bestreiten die Annahme, dass das Huftgelenk von dem damals behandelnden Arzte nicht richtig eingerenkt worden. Zunachst sind die entgegenstehenden Zeugnisse ,,der bei dem Akt zugegen gewesenen Laien in diesem Fall gewiss nicht absolut belanglos". Wir anerkennen und heben aus unserer neuerdings erschienenen Schrift 1 ) um so liebsamer gewisse Bemerkungen hervor, als sie bereits vor unseren Ausfuhrungen zum Abdruck gelangt, also nicht erst fur den vorstehenden Fall interpretirt werden, dass namlich n solche Zeugenaussagen, abgesehen von ihrer Glaubwtirdigkeit im Allgemeinen schon deshalb mit grosser Vorsicht aufzuuehmen und zu wiirdigen sind, weil sie gewohnlich nicht nur An- gaben iiber einfache Thatumstande enthalten, sondern zu- gleich Angaben iiber Thatumstande, die nur bei Sachkenntniss ') Kiihner, Dr., Gerichtsarzt a. D. und prakt. Arzt zu Frankfurt a. M., r Die Kunst fehlerder Aerzte vor dem Forum der Juristen". (Frankfurt a. M., Gebr. Knauer, Mk. 4.50), p. 68, if. 88 richtig aufgefasst werden konnen. Die Art und Weise aber, in welcher Zeuge J. (und mehrere andere) den Vorgang der Einrichtung beschreibt (siehe oben S. 71) ist doch zu pathog- nomisch, als dass hier ein Zweifel liber die wirklich erfolgte Einrenkung bestehen kann. Und dass die Einrenkung richtig erfolgt war, dariiber hatte ein unterrichteter und wirklich sachverstandiger Arzt an der Hand der Inspection, Pal- pation, Messung, Vornahme passiver Bewegungen, Abnahme des Schmerzes und der Funktionsstorungen, kurz sammtlicher hier erforderlicher diagnostischer Hiilfsmittel geurtheilt, auch einer Scheinreduktion vorgebeugt, n weil gerade bei einer Ver- renkung des Hiiftgelenkes es sehr oft vorkommt, dass durch gewaltsame Bewegungen, die bei der Einrichtuug mit der Extremitat vorgenommen werden, der Fuss besser, das heisst gerade gestellt wird, ohne dass doch die eigentliche Ein- renkung gelungen ware." Wie behauptet werden konnte, n dass die Umstehenden das Einschnappen gehort habenwollen, sei ebenfalls bedeutungslos, weil die Einrichtung fast immer ohne jedes horbare Gerausch erfolgt", ist uns unerfindlich. Sammtliche von uns eingesehenen Lehrbiicher der Chirurgie sagen, wie die vom Beklagten angegebenen Autoren: n das Eintreten des Schenkelkopfs verrath sich durch ein n deutlich schnappendes Gerausch" oder ahnliches. Dass n umgekehrt wahrend der Einrichtungsversuche sehr lebhafte Gerausche bei vergeblichen vom Arzte unternommenen Bewegungen durch das Abgleiten des Gelenkkopfs von den knochernen Theilen erzeugt werden" ist belanglos, denn solche Gerausche wurden ja hier nicht gehort, sondern nur das deutliche Einschnappen des Gelenkkopfs. Wir iibergehen alle weiteren Einwiirfe, sie finden ihre vollstandige Losung durch die Forderung, die wir an die technische Begutachtung stellen, und deren Realisirung wir - gewiss zum grossen Nachtheile des Beklagten vermissen, dass namlich dem Richter zur Kenntniss gebracht worden ware, dass nicht nur n einzelne Falle vorkommen, wo besondere jedoch nicht am Lebenden mit Sicherheit zu eruirende 89 Verhaltnisse die Einrichtung iiberhaupt unmoglich machen". sondern dass manclie Luxationen selbst bei der grossten Sorgfalt und der umsichtigsten Behand- lung schlecht heilen und nachtheilige Folgen h inter lassen, dass die grossten An toritaten(Mal- gaigne) unumwunden mehrere Falle von Verren- kungen mittheilen, w die scheinbar vollkoramen reponirt.spaternocheineetwasveranderteRich- tung und abnorme Lange der Extremitat (Arm, Bein), die sich erst spat zum Theil verlor, oder eine dauerndeBeschrankungder Funktionh inter- lies sen"; dass dem Richter dargelegt worden, dass durch gewisse Complicationen oder durch besondere, jedoch nicht am Lebenden mit Sicherheit zu eru- irende Verhaltnisse eine Luxation im Huftgelenk ohneFunktionsstorungnichtzu heilen ist(toutes les solutions de continuite au voisinage des ar- ticles sont les sources des nombreuses erreurs (!) (Dupuytren!) und wir und alle bei diesem traurigen Vor- kommniss Betheiligten wilrden es gewiss sehr dankbar an- erkannt haben, wenn der Begutachter diese Thatsachen un- umwunden zugestanden und im Einzelnen begrundet hatte. Oder will der Kliniker behaupten, dass Alles, Frakturen und Luxationen, ohne jemals zuriickbleibende Function sstorung in der Klinik geheilt wird? Wenn dies der Fall, so fragen wir, warum hat er nicht die Resektion des Schenkelkopfs im vorliegenden Fall vorgenommen und dem arm en Kranken kiirzlich seine Arbeits- und Verdienstfahigkeit zuriickgegeben ? Wir konnen ihm verrathen, dass eine gleichzeitige Fraktur der Pfanne und zwar ihres Randes, eine Complication, die, wie Wernher bemerkt, in geringem Grad recht oft vor- handen sein mag, und deren Bestehen hier sehr naheliegend. mis liber Alles aufklart. Instructive Beobachtungen der Art sind von Maisonneuve, Cooper, Scott u. A. mitgetheilt worden. Halten wir an dieser Annahme fest, so wird die scheinbare Reduction, die Wiederausrenkung, die zuriick- 90 bleibende Funktionsstorung erklarlidi und last not least der Ausgangspunkt der richterlichen Beurtheilung und Verur- theilung, die Selbsttausdmng des Beklagten, die Entlassung des Klagers aus seiner Behandlung als zunachst mit einer Difformitat und Funktionsstorung geheilt, wohl verzeihlich. Denn Fehler, Irrthiimer, die von Celebritaten begaugen und unumwunden zugestanden worden sind, diirfen einem Arzt, der iinter weit schwierigeren Verhaltnissen gehandelt, nicht als Kunstfehler zugerechnet werden. Ich habe in meinem Buche (p. 31) auf die lei elite Moglichkeit soldier Irrthiimer mehrfadi hingewiesen und werde dies in einer neuen Auf- lage insbesondere der hier in Rede stehenden Aifectionen des Hiiftgelenks betonen, und idi darf wohl hier an die schonen Worte, die Spiegelberg, eine so erfahrene Autoritat, in Betreff ansdieinend ganz unbegreiflicher und weit folge- wichtigerer Selbsttauschungen (p. 32 a. a. 0.) zu seinen Schulern sagt, erinnern: n Gewisse Irrthiimer werden Ihnen unverzeihlich erscheinen, wenn ich Ihnen aber mittheile, dass sie den erfahrensten Aerzten begegnet sind, so mb'gen Sie darin eine Warming erblicken, fremde Irrthiimer zu scharf zu beurtheilen." Ich habe in jener Sdirift nadidriicklidi und mehrfadi darauf hingewiesen, dass es nur zu leicht in der geriditlichen Median und insbesondere bei der Beurtheilung der Kunstfehler der Aerzte vorkommen kann, dass ^anstatt unbefangener Priifung und Beurtheilung der eigene Irrtlium den Beklagten des Irrthums ansdmldigt, anstatt ihn zu ent- sdiuldigen. Eine unbefangene Kritik der in der Literatur verzeichneten Falle der Kunstfehler der Aerzte legt leider nur zu oft Zeugniss ab von Verurtheilungen von augeblichen fremden Irrthumern durch eigenen Irrtlium wohl mehr. als von Entschuldigung fremder Irrthiimer durdi eigenen Irr- thum." (p. 71). Wiirde der vorstehende Fall in alien seinen Einzelheiten auf einer Klinik sich zugetragen haben, so stehe idi nidit an, zu behaupten, dass derselbe als eine cause celebre be* trachtet und zum Austrag gebracht worden sei. B Und das, 91 was eben der Arzt und gerade der einer Anfeindimg in Be- treff vorgebliclier Kunstfehler zumeist bedrohte Arzt als ge- reclite Forderung hinstellen muss, 1st, dass er mit gleichem Maass gemessen werde, dass nicht ein gleiches Vorgehen und angebliches Vergehen dort unter gesicherten Verhalt- nissen als excellence und hier unter weit schwierigeren Umstanden als negligence gelte." Der vorliegende Fall diirfte ganz besonders lelirreich sein, diese Parallele in alien ihren Einzelheiten und traurigen Consequenzen zu vervoll- standigen. Die Verhandlung ist geschlossen, der Angeklagte ver- urtlieilt, der Klager kaum oder hochtens zum vierten Theil arbeitsfahig. Bei der Wesenheit der Verletzung kann es clem ausgewichenen Schenkelkopf, wenn er sich in naher Be- riilirimg mit einem Knochen befindet, gelingen, einen festen Stiitzpunkt an diesem zu gewinnen oder selbst eine mehr oder weniger vollkommene Gelenkhohle zu bilden; es steht dann zu erwarten, dass Klager wieder arbeitsfahig!!! 1 ) (Aerztl. Central- Anzeiger 1886, No. 19 u. No. 20. Kiihner.) 2. Die traurigsten Grefahren fur den Arzt. Von Geheimrath v. Nussbaum- Munchen. Oft bedauert man den Arzt, weil ihm Tag und Nacht keine Ruhe gegonnt, kein Vergniigen gesichert ist, weil er in strengster Kalte und finsterer Nacht bei Wind und Schnee Aveite Wege machen muss, und sich durch eine starke Er- kaltung vielleicht ein Siechthum holt, das seine Arbeitskraft und damit auch seinen Wolilstand bedeutend mindert. Das ist in der That recht bedauernswerth und doch habe ich manchen braven Arzt schon in einer noch viel traurigeren J ) Ich darf schliesslich nicht unerwahnt lassen, dass ich einen dem vorbezeichneteu ganz ahnlichen Fall (p. 142) veroffentlicht habe, in dem aber wegen ,,Nichtbefolgung arztlicher Anordnungen" klagefrei entschiedeu wiirde. 92 Lage gesehen, in einer Lage. welclie seine sociale und wirth- schaftliche Stellung in einer Stunde vernichtete. In meinem 29jahrigen chirurgischen Leben wurde ich oft schon von Oollegen zu Hilfe gerufen, weil sie wegen ^Fahrlassigkeit" auf der Anklagebank sassen und trotz Aufgebot aller prak- tischen und wissenschaftlichen Hilfsmittel konnte ich nur wenigen die ersehnte Hilfe bringen. Bei weitem am haufig- sten war es die Beinbruclibehandlung, welclie solches Ungluck herbeifuhrte und zwar in erster Linie die Behandlung mit Gypsverbanden, so dass ich mich gar nicht wundere, wenn Aerzte auf dem Lande eine wahre Panik vor dem Gyps- verband haben. Am Montag z. B. war der Vorderarm eines Arbeiters durch Fall auf die Hand gebrochen. Der weit entfernte Arzt kam Dienstags, erfuhr, dass die Fraktur durch indirekte Gewalt entstanden war und sah daher kein Hinderniss, nach geschehener Einrichtung einen Gypsverband anzulegen. Mit beruhigtem Sinne verliess der Arzt das Haus des Kranken und ging seinen andereu Geschaften nach. Aber schon Tags darauf brachte man ihm die Nachricht; der Kranke hatte Schmerzen am Arm und man erwarte seinen Besucli. Der Arzt befahl dem Boten, den Arm ruhig und hoch zu legen uud versprach am Donnerstag zu kommen. Am 2. Tag er- schien der Bote noch einmal und erzahlte, dass trotz holier Lage der Schmerz sehr zugenommen habe, man erwarte heute seinen arztlichen Besuch ganz gewiss. Der Arzt hatte aber weit entfernt eine schwere Geburt, und kam erst spat Nachts nach Hause. Sobald aber der Morgen graute und ohne sich von den gestrigen Anstrengungen ganz ausgeruht zu haben. machte er sich auf den Weg, urn nach dem Armbruch zu sehen. Welches Bild! Er sah den Kranken apathisch im Bette liegen und erfuhr, dass der Schmerz gegen Morgen etwas nachgelassen habe, allein die Gro'sse des Ungluckes blieb ihm nicht verdeckt. Die todten, brandigen Finger standen schwarz. gefiihllos und kalt zum weissen Gypsver- bande heraus und nach hastiger Abnahme des Yerbandes, 93 sail er gegen Erwarten an der Bruchstelle eine starke Schwellung, welche bei der Unnachgiebigkeit des Gypsver- bandes den Stillstand der Circulation und dadurch den localen Tod veranlasst hatten. Weder warme Umschlage mit Scari- ficationen. noch Massage und liohe Lage machten die Hand, welche bis iiber die Handwurzelknochen herauf blau, kalt und gefiihllos geworden war, wieder lebendig. Man musste die Demarkationslinie abwarten und dann amputiren, wozn zwei Collegen beihalfen. Der Amputirte, Ernahrer von 5 Kindern und einer kranklichen Frau kam in solche Noth. dass man es ihm kaum veriibeln konnte, dass er bei Gericht Klage stellte, nachdem der ungliickliche Arzt eine fiir ihn geradezu unerfiillbare Forderung, wozu der Amputirte ver- hetzt worden war, zuriickgewiesen hatte. Es war unmo'glich die Anklage auf Fahrlassigkeit zu verneinen. Hatte man auch viele Entschuldigungsgriinde fiir den Tag und Nacht fleissigen Arzt, so konnte doch nicht geleugnet werden, dass sich das Ungliick siclier hatte vermeiden lassen, wenn der Arzt dem ersten oder doch dem zweiten Rufe gefolgt ware, oder wenn er einen Bader oder auch nur einen Laien be- auftragt hatte, den Gypsverband sofort im warmen Bade abzunehmen. Die Gerichtsverhandlimg wegen Fahrlassigkeit lief daher eben so ungliicklich ab, wie die der Civilklage auf Schadenersatz, der arme College wurde zu 6 Monaten Festung verurtheilt und musste dem Amputirten lebenslang- lich taglich 1 Mk. 80 Pf. bezahlen, was dem kleinsten Ver- dienste des Amputirten entsprach. - - Das Maass des Un- gliicks war aber noch nicht voll. Dem aus der Festung Zuriickgekommenen hatte sich der bessere Theil seiner Praxis entfremdet und selbst bei der niederen Volksklasse war ihm Mangel an Achtung fiihlbar. Der Ort, wo er iiber 11 Jahre so angesehen und beliebt war mid wo er so gliicklich ge- arbeitet hatte, war fiir ihn em peinlicher Aufenthalt geworden. Dies Alles und die betrachtliche Abnahme seiner Praxis fiihrten ihn zu dem Entschluss. seinen Wolmort zu wechseln. Zweiundzwanzig Kilometer entfernt liess er sich in der Nahe 94 einer neuen Fabrik nieder, welche noch keinen Arzt gewahlt liatte. Jetzt erst zeigte sich das Ungliick in seiner ganzen Grosse, denn auch hier wurde er abgewiesen mit dem Be- merken, dass ihm die Fabrikarbeiter das nothige Vertrauen wohl nicht entgegenbringen wiirden. Darf ich meine Meinung tiber den ganzen Vorgang aus- sprechen, so besteht das Vergehen dieses Arztes lediglich in Unvorsichtigkeit , denn er war weder unwissend noch trage, sondern er arbeitete Tag imd Nacht. Hatte er keinen Gypsverband gemacht. oder hatte er denselben, nachdem ihm die Nachricht von gesteigerten Schmerzen zukara, sofort im warmen Armbade abnehmen lassen, wenn er selbst nicht kommen konnte, so ware jedes Ungliick ausgeschlossen ge- wesen. Es steht mir eine grosse Erfahrung zu Gebote, wie gerade bei Beinbriichen die Aerzte sehr viel gerechten, aber auch ungerechten Verdruss erleben. Jetzt nach 29jahriger chirurgischer Praxis hore ich viel ruhiger an, was mich im 3. und 4. Jahre meiner Thatigkeit in die grosste Aufregung versetzte. Bei einem Comminutivbruch des Untersclienkels hatte namlich ein Arzt auf demLande zu mir gesagt: n Schneiden wir den Fuss ab, so lauft der Mensch ganz zufrieden auf seiner Stelze herum. Wenn wir nicht amputiren. bekommen wir wahrscheinlich eine recht ungeformte Callusmasse, und wenn wir uns noch so plagen, so schmaht uns der Kranke, so lange er lebt, alle Tage." So schrecklich fiir mich der Gedanke auch bleibt, einen Fuss zu amputiren, welchen man heilen kann, so begreife ich jetzt nach einer Unmasse bitterer Erfahrungen die angefuhrte Anschauung viel besser als fruher. Darf ich noch einige praktische liegeln beifiigen, so steht oben an: n Bei Frakturen, welche durch directe Gewalt entstanden sind, soil man in der ersten Zeit nie einen Gypsverband mac hen; aber auch bei Frakturen, die durch indirecte Gewalt entstanden, soil man einen Gypsverband in der Anfangszeit nur dann machen, wenn man den Kranken taglich sehen kann. Selbst gut wattirte Gypsverbande werden oft plotzlich zu eng. Sind 95 wir selbst verhindert bei auftretenden Beschwerden den Gyps- verband sofort abzunehmen , so kann dies jeder Laie, wenn er ein warmes Bad giebt, oder wenn er sich die Linie, wo er ihn offnen will, mit concentrirtem Salzwasser recht an- fenchtet. Es mag sein, dass wir ims diese Millie manchmal umsonst machen; aber was liegt daran? Was ist diese kleine Plage im Verhaltniss zu jenem Ungliick, das uns droht ? Das, was ich jetzt von den Gypsverbanden bei Bein- briichen sagte, gilt nocli in weit hoherem Grade von Gyps- verbanden, weldie wir nach ein em Brisement force machen miissen. Allerdings ist das Brisement force eine Specialitat. wahrend ein Beinbruch von jedem prakt. Arzt auf dem Lande ubernommen werden muss. Streckt man ein ankylotisches. rechtwinkeliges Knie wahrend guter Chloroform-Narcose, so hat der Unterschenkel, wenn auch alle knochernen Briicken nnd alle Psendoligamente gut getrennt sind, doch immer die Neigung in die alte pathologische Winkelstellung wieder zuriickzugehen. Man legt daher sofort einen Gypsverband an und lasst denselben noch wahrend der Chloroform-Narkose erharten, um die mit Gewalt erzwungene Stellung festzu- halten. Diesen Eingriff darf man gewiss nur dann unter- nehmen, wenn man den Operirten nach 6 10 Stunden langstens wieder sehen kann, denn bei der besten Wattirung kommt es vor, dass der Gypsverband an einer oder der anderen Stelle fest aufdriickt und die Circulation so beeintrachtigt ist, dass bis in ein paar Stunden der Vorderfuss blau, kiihl, gefiihl- und be- wegungslos ist. Wird nun der Gypsverband sofort abge- nommen, der Fuss massirt und hochgelegt und leicht in einer etwas weniger gestreckten Stellung gelagert, so ist in 1 2 Stunden das ungliickliche Bild verschwunden und nichts mehr zu befiirchten; es kann auch die vorherige schone Stellung wieder erreicht werden, jedoch nicht durch den ersten Em- griff, sondern in zwei bis drei Zeiten. Beim Brisement force mo'chte ich noch ein Ungliick andeuten, welches aber auch mit Vorsicht vermieden werden kann. Sind es nam- lich knocherne Briicken, welche die Winkelstellung festhalten. 96 so kann man selbe nie durch einen langsam verstarkten Zug iiberwinden, sondern selbe miissen mit e i n e m Euck gebroclien werden, erst nach ihrem Zerbrechen kann man durch all- mahlich verstarkten Zug die gewiinschte Stellung fertig be- kommen. Dieser heftige Ruck, welcher die knochernen Bracken absprengt, bat nun, wenn er wahrend einer streckenden Be- wegung geschah, wiederholt sclion ein acutes Aneurysma d. b. eine Zerreissung der Arteria poplitea hervorgerufen . was natiirlich die sofortige Amputation nothig machte. In solchen Fallen ist aber auch die Arteria poplitea oft in recht rigide Exsudatmassen eingebettet und bei einem heftigeu raschen Zuge kann neben der knochernen Briicke auch die harte Poplitea brechen. Daraus folgt die wichtige Lehre. dass man jede Ankylose stets durch forcirte Beugung zuerst be- weglich mache, denn sind die knochernen Brucken durch eine forcirte Beugung in einem Ruck abgebrochen, so steht nichts im Wege, die gewiinschte, streckende Bewegung sehr vorsichtig und langsam folgen zu lassen, wobei ein Zerreissen der Arteria niclit mehr zu befiirchten ist. (Aerztl. Central-Anzeiger 1887, No. 18.) 3. Die traurigsten Crefahren fiir den Arzt. Von Dr. Kuhner. Herr Geheimrath von Nussbaum hat in Yorher- gehendem mit gewolmter Sachkenntniss, Umsicht und Humani- tat die traurigsten Gefahren fiir den Arzt in mehreren kurzgefassten Beispielen gekennzeichnet, so dass sich eine so hochansehnliche Personlichkeit, wie der Verfasser. des Dankes der Aerzte und namentlich der von sogenannten Kunst- fehlern zumeist bedrohten Landarzte zuvor versichert halten konnte. Fast diirfte es diesen Ausfiihrungen gegenliber an- massend erscheinen, wenn nochmals in der Sache das Wort ergriffen wird. Indess Jeder, der zur allseitigen gerichts- arztlichen Wiirdigung eines Falles, zur Aufklarung der 97 bedrangten Lage eines Colleger! beizutragen gedenkt, hat gewiss die Pflicht, dies ungescheut und ungesaumt zu thun. Es mag dies in Betreff des ersten in jenem Expose erwahnten Beispieles in aller Bescheidenheit hiermit geschehen. Es handelte sich in diesem Fall urn eine Fraktur, An- legung eines Gypsverbandes, Constatirung des Brandes, Ampu- tation post hoc, Verurtheilung des Arztes wegen Fahrlassigkeit propter hoc zu einer Festungsstrafe von sechs Monaten. - Am Montag war die Fraktur enstanden. Dienstag Gypsver- band. Am Mittwoch erhalt der Arzt die Nachricht: der Kranke habe Schmerz am Arm und man erwarte einen Be- sucli. Der Arzt befiehlt dem Kranken, den Arm ruhig und lioch zu legen; er verspricht am Donnerstag zu kommen. An diesem Tag erscheint der Bote noch einmal und erzahlt, dass trotz holier Lage der Schmerz sehr zugenommen, man erwarte heute ganz gewiss den arztlichen Besuch. Der Arzt hat aber weit entfernt eine schwere Geburt und koinmt erst spat Nachts nach Hause. Sobald aber der Morgen graute, macht er sich auf den Weg, konstatirt ausgedehnten Druck- brand, dass die Amputation unvermeidlich. Es war nicht thimlich in dem Expose alle jene Motive eingehend geltend zu machen, welche die Anklage auf Fahrlassigkeit stiitzten. AVir setzen voraus, dass diese Motive actengemass gemacht worden sind. Vor Allem handelt es sich darum, den Staats- anwalt zu informiren, dass ein solcher Druckbrand durch Missgriffe des Heilpersonals verschuldet werden kann, dass jedoch ein derartiges unheilvolles Ereigniss noch haufiger ganz ohne Schuld des Arztes geschieht. Herr Dr. Johann Merkel in Nurnberg hatte die Giite mir ganz neuerdings eine hochst interessante Abhandlung aus der medicinischen Gesellschaft in Nurnberg' liber n Gan- gran der Hand nach Radiusfraktur" mitzutheilen, ein Vor- trag, der auch in der Miinchener medicinischen Wochenschrift (No. 24, 1887) Abdruck gefunden hat. In diesem Fall war es gerade die Unterlassung eines Verbandes und die An- wendung von Eisumschlagen, welches Verfahren von dem 7 98 aufgebrachten Volk dem Arzt zur Last gelegt wurde ! Aber die Section des amputirten Theiles ergab, dass B zwei los- geloste Knochenfragmente in dem kleinen Raum zwischen den beiden Bruchstiicken rechtwinklig zur Knoclienaxe gerichtet und in die Weichtheile eingespiesst war en". Durch diese sonderbare Stelluug der Splitter wurde die Gangran vollstandig erklart. Dieselben druckten auf die grosseren Gefasse, die Compression setzte sich auf die kleineren Arterien, Venen und das Capillar- gebiet der Carpalgegend fort. Durch die Compression mussten die Gefasswandungen derart alterirt werden, dass das Blut in ilmen gerann. Die Gerinnung setzte sich nach alien Richtungen fort, dadurch ward der Extremitat das Blut ent- zogen. somit ihr Schicksal, dem Brand zu verfallen, ent- schieden. Eine andersartige Begutachtung hatte den be- handelnden Arzt leicht in die misslichste Lage versetzen konnen. Das Auftreten von Gangran in Folge von Knochen- briichen ohne Schuld des Arztes ist ein gar nicht seltenes Ereigniss. Es ware eine verdienstliche Aufgabe in einer Inauguraldissertation oder einer Sonderschrift, alle einzelnen derartigen spontanen Falle aus der Literatur zu sammeln und durch deren Aufzahlung, die voraussichtlich eine sehr grosse, manche angeschuldigte Aerzte zu entlasten. War dieser Beweis fur das Vorkommen spoutaner Gangran nach Knochenbr lichen erbracht, so wird kein Richter den Arzt verurtheilen wegen eines Versehens, das moglicherweise einen Schaden hatte verursachen konnen. Denn es muss als strenge Forderung hingestellt werden, dass der Beweis von dem ursachlichen Zusammenhang zwischen der angenommenen Fahrlassigkeit uud dem ungiinstigen Erfolg mit derselben Scharfe, in derselben Ausdehnung er- bracht werde, als bei jeder anderen Feststellung des That- bestandes der Korperverletzung aus anderer Ursache; dass hier nicht durch Vermuth ungen, Wahrscheinlich- keitsan nah men Anlass zu Trugschlussen, Tauschungen gegeben werde, wo nur Gewissheit, posit iver Beweis 99 entsclieiden soil, dass der Arzt, wie jeder Andere, nur fur den Schaden verantwortlich gemacht werde. wel- chen er verwirklicht hat, und nicht fiir eine Hand- lung, aus welcher Schaden moglicherweise hatte entstehen konnen. Abgesehen von dieser fiir den angeschuldigte'n Arzt viel- leicht bedeutungsvollen Eiuwendungliegt fiir den unbefangenen Beurtheiler bei der Darstellung, wie sie uns in der Kiirze ge- worden ist und oben wiedergegeben wurde, nur ein trauriges Beispiel jener in der Landpraxis so haufigen Vorkommnisse vor ; Ultra posse nemo tenetur ! Der Arzt konnte nicht eine T schwere Geburt" n weit entfernt" leiten und gleichzeitig nach dem Frakturirten sich umsehen. Bei einem beschaftigten Land- arzt, der die yerschiedensten Obliegenheiten wahrzunehmen hat, als Amtsarzt der Verwaltung, als Impfarzt, Armenarzt der Gemeinden, den Gerichten als technischer Eathgeber bei- geordnet, in diesen Geschaften an Tag und Stunde piinktlich gebunden ist, kann es vorkommen, dass Tage vergehen, ehe er einen Schwerverletzten verbinden kann. Dieses non pos- sumus ist nicht Schuld des Arztes, es ist die Sclmld er- schwerter Umstande. Falle der Art habe ich in raeinen n lumstfelilern a mehrfach aus eigener Erfahrung beschrieben und Niemand, der diese Verhaltnisse kennt und erwagt, wird den Vorwurf der Vernachlassigung erheben gegen den Arzt, wenn er nach angelegtem Verband nicht schon Tags darauf den Besuch wiederholt auf die Nachricht; der Kranke habe Schmerzen am Arm. Die Akten sind geschlossen. Der Angeklagte ist ver- urtheilt. Es scheint mir keinem Zweifel zu unterliegen, dass eine ganz andersartige Wendung des richterlichen Erkennt- nisses erzielt worden, wenn die in meinen Thesen *) empfohlene Fragestellimg in deren zeitlichen Aufeinanderfolge bei der Yernehmlassung der Sachverstandigen zu Grunde gelegt J ) Acht Thesen nebst Motiven und Fragestellung, betreifeud die rechtliche Veraut\vortung der Aerzte. (Gebr. Knauer, Frankfurt a. M.) 100 worden ware. Namentlich wird sich fiir einen solchen Fall die Beriicksichtigung der drei Schlussfragen empfehlen: Frage 4. Hat der Beklagte den Eintritt des Todes oder den ungliicklichen Ausgang des Falles als moglich voraussehen konnen oder miissen? Frage 5. Hat derT hater die Aufraerksamkeit, zu welcher er vermoge seines Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders verpflichtet war, im vorliegenden Fall ausser Auge gesetzt? Frage 6. 1st jenials ein gleicher oder ahn- licher Fehler als der des Beklagten von Autori- taten begangen und unumwunden zugestanden worden, in welchem Fall das Verfahren des Arztes, der im vorliegenden Fall voraussiclitlich unter weit schwierigeren Thatumstanden handelte, gerechtfertigt erscheint. (Vergl. Aerztl. Central-Anzeiger 1887, No. 19.) 4. Brand nach Anlegung eilies Grypsyerbantles. Freispreclmng. Anfangs der siebenziger Jahre brach ein sechsjahriges Madchen in einera badischen Stadtchen durch einen Sturz iiber die Lehne eines Stuliles den linken Oberschenkel. Es geschah an einem Donnerstag Abend, worauf sogleich Dr. A. berufen und bei der Untersuchung einen einfachen Querbruch des linken Oberschenkels erkannte. Der Arzt umgab das Glied mit einer zarten Compresse und einer locker angelegten Binde und umwickelte dann das Bein mit einem G3 T psver- band. Nach diesem kontrollirte er, ob der Verband gut liege und nirgends driicke, fragte auch das Madclien, ob es keinen Druck oder Schmerz durch den Verband empfinde, was das- selbe verneinte. Nachdem den Eltern die nothigen An- weisungen gegeben, und nachdem sie beauftragt waren, jede etwa vorkommende Stoning an den Arzt zu melden, verliess 101 - er im besten Vertrauen das Madchen. Am folgenden Nach- mittag bekam dasselbe Schmerzen und die Eltern schickten gleich zum Arzte. Da er nicht zu Hause. wollte man den zweiten Arzt des Stadtchens berufen, zur Untersuchung und etwa nothwendigen Liiftung des Verbandes; allein dieser lehnte die Berufung mit der Bemerkung ab: er wolle nichts am Verbande andern, man solle die Ankunft des behandeln- den Arztes Dr. B. abwarten. Dieser kam aber erst spat nach Hause und erst Samstags Morgens zum Besuche, er traf den Fuss blau, kalt, ohne Empfindung. Nach Abnahme des Gj'psverbandes erschien das Bein bis iiber die Bruchstelle brandig und abgestorben. Zur Begrenzung des Brandes und zur Erhaltung des Lebens des Kindes eriibrigte jetzt die Ab- nahme des Gliedes, als ultimum remedium, was auch bald durch eineu benachbarten Arzt mit gutem Erfolge besorgt wurde. An dem abgenommenen Beine zeigte sich der Brand auf grosse Umgebung, veranlasst durch den Druck der ver- schobenen beiden Bruchenden auf die Blutgefasse und die betroffenen Weiclitheile. Das untere Knochenstuck iibte seinen Druck auf die Nerven wie die Blutgefasse nach hinten mid unten aus und storte dadurch den Blutlauf; das obere Knochenstuck diiickte sich nach vorne in die Gewebstheile und bewirkte das Absterben derselben; Grund genug zu Brand und Absterben des ganzen linken Beines. Bald nach erfolgter Heihmg strengte der Vater des Madchens, der Kleingewerbler N. N., eine Ersatzklage gegen den Arzt A. bei der Strafkammer des damaligen Kreis- gerichtes in Konstanz an wegen Korperbeschadigung seines Kindes. Der Vater N. N. erschien an dem Gerichtstermin mit seinem An wait, der kleinen Tochter und mehreren Zeugen sowie mit einem Armuthszeugniss vom Gemeinderath. um fiir alle Falle intakt zu bleiben. Er verlangte vom Arzte, dem er die Schuld an dem Ungliick seines Kindes beimass, 1000 Mk. Entschadigung, 1000 Mk. Kurkosten f fir Arzt, Apotheker und Verpflegung, sowie Verurtheilung des Beklagten in sammt- liche Gerichtskosten. 102 Der beklagte Arzt A. erschien, aber nur im Zuhorer- raura des Gerichtssaales mit dem Herrn Anwalt und mit den Aerzten Dr. B., C. und D. als Sachverstandige. Der klage- rische Anwalt scheint vor der Gerichtsverhandhmg mit einem Arzte Riicksprache genommen zu haben, denn immer wollte derselbe einer niclit angebrachten Schwebe am kranken Beine die Schuld der Kuochenverschiebung und des erfolgten Brandes zumessen. Dagegen erwiderten die Aerzte Dr. B., C. und D. eine Schwebevorrichtung sei unnothig gewesen, ein Nachtheil nacli der sachkundigen Anlegung des Gypsverbandes habe sicli bei der guten Lagerung des Beines niclit gezeigt, das Madchen selbst habe dem Arzt auf seine Frage, ob der Verband nicht schmerze oder driicke, mit Nein geantwortet ; des andern Tages, Freitag Morgens, sei dem Arzte A. keine Berufung zur Kranken zugegangen. So konnte der Arzt guten Glaubens, es sei Alles in Ordnung, seine Landpraxis bis spat Nachts besorgen. Beim Auftreten von Schmerzen am Bein, Freitag Nachmittags ware es am Platze gewesen von Seiten des andern Arztes im Stadtchen, bei Abwesenheit des Dr. A., die Kranke zu besuchen und durch Ltiftung des Gypsver- bandes die Fehlerquelle noch rechtzeitig zu entdecken und dem erfolgten Uebel moglicher Weise vorzubeugen. Die Sachverstandigen machten zu Gunsten des Angeklagten geltend, dass die Bruclitheile nach dem Verbande und gehoriger Ver- bindung, das Bein ferner zweckmassig gelagert war, sicli die Verse hiebung der beiden Knochenstiicke durch ein un- ruhiges und unbewachtes Verhalten des Madchens wahr- scheinlich machen lasse. Nach eiuiger Zeit wurde vom Gerichte ein Gutachten von den drei Aerzten verlangt, welches Obmann Dr. E. unter Mitwirkung der zwei anderen Aerzte besorgte. Mit logischer Scharfe und unabweisbarer medicinischer Begriiudung ver- theitigte Dr. E. den Dr. A. als nicht oder doch nicht allein an dem Ungliick schuldig. Der Gerichtshof trat den An- sichten der drei Aerzte bei und sprach den angeklagten Dr. A. 103 klag- und kostenfrei. Allgemein erfreute das richterliche Urtheil, namentlich die Aerzte, welche ihren hochgeachteten Collegen vor materiellem Ruin gerettet sahen. Dr. A, hat geistig und korperlich durch diese Geschichte viel gelitten; bald nach der Verhandlung traf ihn ein Schiaganfall, wovon er sich nach langer Zeit wieder erholte und jetzt als 73 Jahre alter hochgeachteter College noch der Praxis obliegt. Das verungluckte Madchen, bereits 18 Jahre alt, hat ein Asyl in der Lnisensehule zu Karlsruhe erhalten und wird nach beendigter Schulzeit im Stande sein, den nothigen Unter- halt zu verdienen. (Aerztl. Central- Anzeiger 1887, No. 22.) 5. Artiftcielle Hiiftgclenksluxation. Ein Arzt wurde vor etwa zwei Jahren von einem be- nachbarten Collegen consultirt bei einem Arbeiter, der vier Wochen zuvor eine Huftgelenksluxation erlitten. Man con- statirte, dass die Luxation nicht beseitigt und der Kopf deutlich ausserhalb der Pfanne zu fiihlen. Die sofort ohne Narcose vorgenommene Reposition gelang unter horbarem Gerausch; Kopf verschwunden, ebenso die Verkiirzung der Extremitat beseitigt. Ein Vierteljahr spater sieht der zur Consultation damals beigezogene Arzt den Arbeiter wiederum hinkend und mit der alten Verkiirzung, aber ohne Kopf auf dem Darmbein. Man erklarte sich den Vorgang durch Zer- storung des Htiftgelenks *in Folge von durch Trauma ent- staudener caries sicca. 1 ) 2 ) Schriftliche Mittheilung. Durch diese sowie durch eine Menge anderer, anlasslich der Veroffentlichung von Fall 1 mir zugegangener Zu- schriften werden die gravirenden Behauptungen des Prof. N. N. voll- stiiudig eutkraftet. 104 6. Fahrlassigkcit des Arztes oder Selbstversclmlden des Kranken ? von Dr. Bert hold Flothmann, Ems. Montag, den 29. August d. J. kam ein zwolfjahriger Junge, Joh. Bode aus Nievern bei Ems. mit doppelter Luxation des linken Ellenbogengelenkes, des Radiuskopfchens und des Olekranon, in meine Behandlung. Ferner bestand eine bedeutende Anschwellung daselbst. Die luxirten Theile wurden von mir eingerichtet und der Arm in rechtwinkliger Stellung mit Wattepolster umgeben und nachfolgendem Gyps- verbande fixirt. Dreieckiges Tuch. Am 5. September nahm ich den Gypsverband im Spitale des Eraser Knappschafts- Vereins ab und constatirte, dass jede Anschwellung ver- schwunden. alle activen uud passiven Bewegungen des linken Ellenbogengelenkes schmerzlos und leicht ausfiihrbar waren. Aus vielleicht unnothiger Vorsicht hielt ich es fur passend, den aufgeschnittenen Gypsverband, der ja zweifellos die idealste Schiene fiir gerade diesen Arm lieferte, wohlaus- gepolstert noch einmal auf weitere 8 Tage mit einer Gaze- binde urn den geheilten Arm zu legen, urn den Jungen gegen die Piiffe seiner Schulkameraden zu schutzen. Montag, den 12. September kam der Patient wieder, um, wie ich sicher glaubte, ein fiir allemal entlassen zu werden. Doch welche Ueberraschung! Patient konnte den Arm nicht heben, sah blau und elend aus, klagte iiber heftige Schmerzen im Ellen- bogengelenke. Ich nahm die Gypsschiene ab; das Gelenk war hochgradig geschwollen, die innere Seite desselben in 5-Markschein grosser Ausdehnung schwarzlich-blau verfarbt und fluctuirend, der Unterarm weiss, kalt, gefiihllos, der Oberarm heiss und roth, hochroth an den Impfnarben. Das Olekranon war wieder nach oben luxirt. Ich zweifele nicht daran, dass selbst ein wohlwollender und objectiver College, wenn der Junge in diesem Zustaude in seine Behandlung gekommen ware, den status praesens nicht wohl anders hatte deuten konnen, als dass die der 105 Luxation folgende Anschwellung durch den Druck des Gyps- schienenverbandes zu Abscess und Brand gef iihrt habe ; dass vielleicht oder wahrscheinlich die Luxation vom zuerst be- liandelnden Arzte ubersehen worden sei. Ein ^unfehlbarer" College aber wiirde sich niclit gescheut haben, mit Bestimmtheit die Schlussfolgerung zu ziehen, weil eine Luxation der Ulna vorhanden, w so hat diese der zuerst behandelnde Arzt iiber- selien ; er hat sie nicht eingerichtet. Ausserdera hat er noch den Kunstfehler begangen, um das angeschwollene Gelenk einen Gypsschienenverband gelegt zu haben, der bei noth- wendig sich steigernder Anschwellung einen Druckbrand er- zeugt hat. Der Arzt hat sich einer nicht zu verzeihenden Fahrlassigkeit schuldig gemacht." Doch die Aetiologie ist eine ganz andere. Nachdem die erste doppelte Luxation vollig geheilt war (auch andere Sachkundige sahen am 5. September dies Resultat), und der Junge mit Gypsschiene auf weitere 8 Tage entlassen war, sturzte derselbe am 9. September aus einer Schaukel, fiel auf die platte linke Hand, wodurch zum zweiten Male die Ulna im Ellbogen- gelenke luxirt wnrde. Obwohl nun heftige Schmerzen ein- traten, so mochte Patient den Unfall seinen Eltern aus Furcht vor Strafe nicht gestehen, bis die sich steigernden unertrag- lichen Schmerzen denselben hochfiebernd nach 3 Tagen mir wieder zuflihrten. Fiir die nach zweiter Luxation sich eta- blirende Anschwellung war selbst der bequeme Gypsschienen- verband zu eng und musste um so enger werden, um so mehr driicken und einschnuren, je starker die Anschwellung zunahm. AVer aber hatte den Beweis fiir die Unschuld des Arztes beibringen konnen, wenn 8 Tage friiher, schon im erst en geschlossenen Gypsverbande, die wohleingerich- tete Doppelluxation zum zweiten Male luxirte, Druckbrand eingetreten und der Sturz aus der Schaukel verheimlicht worden ware? Niemand! Und doch wird der Gerichtsarzt der Gerechtigkeit keinen Abbruch thun, wenn er in colle- gialer Riicksicht auch solche Moglichkeiten nachdriicklich betont. 106 Uebrigens war der Verlauf fur den Patienten noch ein reclit zufriedenstellender. Stundenlange warme Bader mit massiger Massage des linken Arms brachten die Circu- lation allmahlich wieder in Gang. Chloroformnarkose. Ein- richtung der Ulna. Incision der brandigen Partie und des Gelenkabscesses. Drainage und antiseptische Ausspiilungen des Gelenkes. Hohe, schrage Lagerung des Armes. Am 20. October war die Wunde vernarbt und die Steifigkeit der Gelenke nach vierzehntagigen gymnastischen Uebungen ver- schwunden. Am 4. November sind alle Bewegungen im linken Ellenbogengelenk wieder leicht auszufiihren, nur ist die Incisionsnarbe mit dem Lig. laterale internum und der Ulna verwachsen, so dass bei Beugung an der Innenflache des Gelenkes eine trichterformige Vertiefung entsteht. Aerztl. Praktiker 1888, Nr. 1. 7. Gaiigran nach Anlegimg cines Yerbandcs. Wahrend meiner Studienzeit wohnte ich einer Verhand- lung des damaligen Kreisgerichtshofes bei, bei welcher ein Wundarzt unter der Anklage stand, durch einen zu fest an- gelegten Verband am gebroclienen Arm eines jungen Madchens, das brandige Absterben dieses Armes veranlasst zu haben. Bald nach dem Anlegen des Verbandes waren Schmerzen aufgetreten, die sich immer mehr steigerten : die Fingerspitzen wurden pelzig und kiihl. Zweimal war zu dem Wundarzt geschickt worden. Bei der Verhandlung konnte er keine geniigende Entschuldigung vorbringen, warum er nicht ge- kommen war. Und als er kam, war es zu spat. Der als Sachverstandiger zugezogene Professor V. v. Bruns sprach sich in seinem Gutachten dahin aus, das der Wundarzt des- halb durchaus nicht straf bar sei, weil vielleicht die Bruchenden unter dem Verbande sich verschoben haben, oder der ganze oder ein Theil des Verbandes sich als zu fest erwies: n denn welchem Arzte, fiigte er hinzu, der sich nur einigermassen mit Wundarzneikunde beschaftigt, komme es nicht vor, dass 107 er einen noch so sorgf altig angelegten Verband nach Stimden oder Tagen wieder abnehmen miisse, well Gefahr drohe, dass Druckbrand entstehe." r Er gebe jedem Arzt den dringenden Eath, nach Anlegung jedes, wenn auch kleinen, festen Ver- bandes, den Angehorigen einzuscliiirfen, bei anhaltendem Schmerz in dem gebundenen Glied oder gar bei Kiihl- oder Gefiihlloswerden von Fingern oder Zehen, sofort den Arzt wieder zu rufen. Geschehe das nicht, so sei der Arzt absolut unschuldig an einera entstehenden Ungliick, und falle die Yerantwortung denen zu, welche diese Malmung versaumten. Werde der Arzt aber sofort bei starkeren Schmerzen gerufen und nehme den Verband ganz oder theilweise ab und es ent- stelie denuoch Brand, so sei auch in diesem Falle der Arzt, wenn nicht ganz besondere Nebenumstande vorliegen, durch- aus freizusprechen, denn nach Knochenbriichen entstehe zu- weilen Brand, ohne dass der Grund in dem angelegten Ver- band oder einer Einwirkung von aussen zu suchen sei." - Im vorliegenden Falle erfolgte Verurtheilung, aber nicht, wie die Urtheilsgriinde lauteten, wegen Kunstfehlers, sondern wegen Fahrlassigkeit, weil der mehrmals gerufene Wundarzt nicht alsbald den Kranken fresuchte, ohne dass eine zwingende Abhaltung vorgelegen hatte. Bei Beachtung dieses treff- lichen Bruns'chen Rathes werden sich die traurigen Ge- fahren einer gerichtlichen Verurtheiluug vermeiden lassen. Bei grosserer Entfernung des Kranken kann es vorkommen, dass der Arzt nicht bald zur Stelle ist, wenn er, bei sich steigernden Schmerzen, gerufen wird. In sochen Fallen mache ich die Angehorigen darauf aufmerksam, vor meinem Eintreifen den Verband selbst zu losen. Aerztl. Central-Anzeiger 1887, Nr. 24. 8. Entscheidung des Reichsgerichts. M o r p h i u m s u c h t und S t r a f g e s e t z. Der Handwerker St. in Miihlhausen (Thuringen) hatte im letzten Kriege ein Leiden aquirirt, gegen welches ihm 108 von den Aerzten Morphium-Einspritzimgen verordnet worden waren, die er anfangs selten, seit dem Jahre 1884 aber in soldier Menge anwandte, dass bei ihm Morpliiumsucht sich ausbildete, nachdem er aus einer Droguenhandlung tiiglich bis 19 Gramm Morpliium zu beziehen in der Lage war. Die Folge davon war seine Unterbringung in eine Irrenanstalt. - Gegen den betr. Droguenhandler und dessen Gehilfen wurde in Folge dessen die Anklage wegen fahrlassiger Schadigung der Gesundheit des St. erhoben und dieselben zu Geldstrafen verurtheilt. - - In der von dem Reichsgerichte jlingst zur Verhandlung gelangten Revision machten nun die Verklagten geltend, dass die Korperverletzung nicht durch den Verkauf, sondern durch die Einspritzung erfolgt sei, sie also nicht die Thater gewesen seien. Wenn St. schon seit 1870 die Morphium-Einspritzungen gemacht, so hatten sie annehmen konnen, dass er damit vertraut sei und nicht iiber das rechte Mass hinausgehen wiirde. Der Reichsanwalt gab denn auch zu, dass ein Verkaufer nicht verantwortlich gemacht werden konne fur das, was ein erwachsener Kaufer mit dem Kaufobject vornehme; wie aber ein Waffenhandler, der an Kinder Waffen verkauft, verantwortlich sei fiir alle Folgen, so sei es auch der Droguenhandler im vorliegendem Falle, da ja ein Erwachsener, der der Morpliium- sucht unterliegt, als ein Kind anzusehen sei. Daher sei auch mit Recht den Angeklagten die Schuld an der Zeruttung der Gesundheit des St. aufgeburdet worden, weil jeder von ilmen den straf'baren Erfolg zu verhindern in der Lage gewesen, aber keiner es getlian. Dem Antrage des Reichsanwalts entsprechend, verwarf sodann das Reichsgericht die Revision. Rosenthals Allgemeine Med. Central-Zeitung, 10. Marz 1888. 9. Angeblieher Tod in Folge der Inipfung;. Das drei Monate alte Kind war am 5. Marz 1885 von dem offentlichen Impfarzt Dr. Claremont geimpft worden. Die Lymphe Avar einem vollstandig gesunden Kind entnommen. 109 Am 22. Marz erfolgte der Tod und da dieser laut arztlichem Zeugniss die Folge von n Blutvergiftung, Convulsionen und Impfung", so fand eine gerichtliche Untersuchung am 28. Marz statt. Die Mutter bezeugt, dass das verstorbene Kind bis zum Impftermin ganz gesund, nachher somnolent, wenig Nahrung nahm und von Convulsionen befallen wurde. Dr. Whitefood, welcher den Todtenschein abgegeben, constatirte, dass er das Kind bei seinem Besuch am 14. Marz an Con- gestioneu der Lungen und des Gehirns leidend fand. Der Arm war leicht geschwollen , nach seiner Ansicht litt das Kind an Blutvergiftung, durch welche die Congestion ver- anlasst Eine Obduction wurde nun auf Veranlassung der Jury von Dr. Pepper. Arzt an St. Mary's Hospital vorge- nommen. Dieser stellte fest, dass der Tod erfolgte durch capillare Bronchitis und Meningitis, insbesondere der pia mater. Er constatirte ferner, dass keine Erscheinungen in Lunge oder Gehirn, welche nicht ganz selbststandig, abge- sehen von der Impfung sich finden konnten. Die Impfreac- tionen waren ganz normal, keine Erscheinungen von Ent- zimdung oder irgend welcher Affection in der Achselhohle, keine Erweichung, Infarkt oder Tuberkulose innerer Organe. Das Kind war am 9. Tag nach der Impfung bei sehr rauhem Wetter ausgetragen worden und die vorgefundenen Sections- erscheinungen schienen sammtlich der Einwirkung der Kalte auf ein so zartes Wesen zuzuschreiben zu sein. Die Jury schloss sich dieser Ansicht an: Die Impfung sei vorschrifts- gemass vollzogen, der Tod in keiner Weise damit im Zu- sammenhang und Dr. Whitefood hatte sich grosserer Vorsicht bei der Ausfertigung eines Zeugnisses befleissigen sollen, das die Jury als incorrect und zu irrthllmlichen Schluss- folgerungen fiihrend, anerkannte. British medical journal v. 4. April 1885. Audi die Impfinstitutsvorstande zu Dresden und Leipzig hatten in ihren eigenen stadtischen Impfbezirken wiederholt Gelegenheit, ein allgemeines Exanthen von kurzer Dauer, welches der Form nach den Masern, Rotheln oder der Urticaria 110 glich, zu beobachten. Ein Arzt in Zwickau hat im Verlauf der localen Vaccina hamorrhagische Maseru und darauf- folgende sogenannte Vaccina universalis beobachtet. Das betreifende Kind ist etwa zwei Monate nach der Impfung an Darmcatarrh gestorben. Pemphigus -almliche Exan theme warden im Marienberger Bezirk* beobachtet, auch eiumal vom Vorstand des Frankenberger Instituts bei einem von ihm selbst geimpften Kind gesehen. Dem zuletzt genannten Vorstand wurden auch einzelne Falle von intensiverer Rand- en tzundung. von Driisenschwellungen, einmal auch von Wandererysipel gemeldet. (Corresp.-Bl. der arztl. Vereine aus Sachsen No. 1, 1888.) (Memorabilien N. F. VIII. Jahrg. Heft II.) In Teales n Lebensgefahr im eigenen Hause" wird ein Fall von todtlichem Ausgang nach Impfroseola erwahnt, der mit Sicherheit auf fehlerhafte Abfuhr und dadurch bedingte Luftverderbniss zu beziehen war. Wie viele Aerzte miissen unter diesen Umstanden, wenn man die entsetzlich mangelhaften sanitaren Einrichtungen der Wohnungen unserer Landbevolkerung beriick- sichtigt, unter falschen Anschuldigunge.n leiden! 10. Unterlassene Anzeigepflicht l>ei aiisteckenclen Krankheiten. Am 20. October 1887 wurcle ich zu einer Frau gerufen, welche sich seit 2 Tagen unwohl befunden haben wollte und besouders wahrend dieser Zeit iiber Appetitmangel klagte. Ich erfuhr, dass sie am 9. desselben Monats, also vor 11 Tagen, entbunden war, dass die Entbindung ohne Kunsthulfe und Schwierigkeit unter dem Beistande einer Hebamme vor sich gegangen, dass die Frau eine Woche lang ohne weitere Beschwerden im Bette zugebracht und sich nach Verlauf dieser ersten Woche den gewohnten wirthschaftlichen Arbeiten wieder zugewandt habe und sich auch ohne irgend welche Ill Beschwerden daran habe betheiligen konnen. Bei der Unter- suchung am 20. fand ich ein Fieber von wenig liber 39 C., der Appetit war gestort, die Zunge sehr belegt. Die Lochien von normaler Beschaffenheit an Menge und Aussehen, nicht iibelriechend, gelinder oder kraftiger Druck iiber der Sympli3 T se nicht schmerzhaft. Die aussere Inspection der Genitalien ergab nichts Abnormes und fiihlte ich mich nach dem ganzen Befunde nicht weiter veranlasst, innerlich zu untersuchen. Spontane Schmerzhaftigkeit wurde weder angegeben nocli von mir bemerkt. In der Magengegend glaubte ich dagegen Empfindlichkeit auf Druck wahrzunehmen und diagnosticirte ,,neberhafte Verdauungsstorung", wie sie ja oft genug in puerperio beobachtet wird. Ich verschrieb gleichwohl folgen- des, auch den prophylaktischen Prinzipien Rechnung tragendes Recept. Up. Chin. mur. 0,7 Natr. salicyl Natr. phosph. aa 0,5 Natr. bicarb. Natr. muriat. aa 0,2 Pulv. aerophor. 4,0 in zwei Portionen und nach einer Zwischenzeit von 7 8 Stunden zu gebrauchen. Am folgenden Morgen, etwa nach 18 Stunden besuchte ich die Fran wiederum und fand sie fieber- und schmerzfrei und war der Appetit wieder etwas besser geworden. Auch waren jetzt wieder keinerlei storende Erscheinungen an den Genitalien zu bemerken. Ich hielt die Fran fiir gebessert, glaubte sie arztlichen Beistandes fur ledig erklaren zu konnen und sie nicht mehr besuchen zu miissen. Nach mehreren Wochen sollte ich jedoch durch Zusendung eines polizeilichen Strafmandats in Hohe von 10 Mark wegen verabsaumter Anzeige eines auf Kindbett fieber verdachtigen Krankheitsfalles eines Andern belehrt zu werden. Ich beantragte hierauf ge- richtliche Entscheidung und erfuhr im Termin, dass der Ehemann der bezeichneten Frau nach 5 Tagen zu dem andern hierorts befindlichen Collegen geschickt, dass derselbe Febris 112 puerperalis diagnosticirt hatte und dass die Frau nach einigen Wochen an Kindbettfieber gestorben sei. - - Ich wurde ver- urtheilt, da der Kreisphysikus erklarte, dass aus dem Recept, sowie gleicbzeitig aus dem Umstande, dass Fieber - - wie ich auch zugegeben hatte vorhanden gewesen sei, ge- schlossen werden mtisste, ich hatte den Verdacht auf Kind- bettfleber gehabt. Dr. J. B. im Aerztl. Central-Anzeiger No. 28, 1888. Diesem Falle stelle ich folgenden gegenuber: Ein Arzt Dr. M. in Fr. wurde angeklagt, Scharlach- falle nicht angemeldet zu haben, aber freigesprochen, nachdem er - - einen Anwalt hatte er nicht angenommen 50 der (im Text dieser Schrift von mir bezeichneten) gesetzlichen Bestimmungen angezogen und die Polizeibehorde nicht bekannt gemacht hatte, dass alle Falle von Scharlach ihr angezeigt werden miissten. Der Polizeihb'rde steht nach 50 auch nur das Recht zu, dies zu verlangen, wenn besonders bosartige und (nicht n oder") besonders zahlreiche - - Falle von Scharlach vorkommen. Ein einziger besonders bosartiger Fall braucht demnach nicht angemeldet zu werden. - - Die Kosten wurden der Staatskasse auferlegt. 11. Misslungene Anklage ciner Hedicinalperson. Es handelte sich um eine Klage gegen einen Arzt A., welcher vor etwa einem Jahr eine Frau in Behandlung hatte. Der Ehemann beantragte, da Besserung nicht eintrat, eine Consultation und brachte Dr. B. in Vorschlag. Dr. A. er- klarte sich nun bereit den Fall dem Dr. B., einem jiingeren Arzt, zu iibergeben oder Dr. C. zu Rath zu ziehen. Diese Zusammenkunft wurde vereinbart. Da aber Dr. A. inzwischen geriichtweise erfahren, dass der Ehemann den Dr. B. zugezogen, ohne dem seither behandelnden Arzt davon Keniitniss zu geben, gab Letzterer der Familie sein Befremden kund und trat von dem Fall zuriick. Nunmehr brachte er aber in 113 Erfalirung, dass das Geriiclit nicht begriindet, wie eine An- frage bei Dr. B. bestatigte. Nun traten der Eheraann und dessen Fran als Klager auf, indem sie behaupteten, die be- fremdenden Aeusserungen des Dr. A., seine gereizte, ver- letzende Sprache habe auf die ohnedies reizbare Fran so ungiinstig eingewirkt, dass Blutspeien entstanden. Daher die Klage wegen angeblicher Vernachlassigung, Krankung sowie Schadigung der Gesimdheit und Forderung auf Schaden- ersatz in der Hohe von ca. 1000 Mk. Dr. A. bestritt die ilim zugeschobenen krankenden Aeusserungen. Der Richter billigte das Verfahren des Arztes in der Sache. Insofern die Vernach- lassigung der Behandlung in Frage kam, anerkannte das Gut- achten eine solche nicht. Das Urtheil lautete zu Gunsten des Beklagten, indem der Richter den Medicinalpersonen die Wahrung ihrer Standesinteressen einraumte und anerkannte, dass Dr. A. in seinen Handlungen nicht weiter gegangen sei. Die offentliche Meinung gab ihre Befriedigung in Betreff des Erkenntnisses kund und es steht zu erwarten, dass dieser Fall Diejenigen entmuthigt, welche Anlass nehmen wollen zu leicht- sinnigen Klagen gegen Standespersonen. Lancet v. 7. April 1888. 12. Niclitbefolgung iirztliclier Anordmingcn. Der praktische Arzt Dr. B. in P. war bei der Staats- anwaltschaft denuncirt, einen Oberschenkelbruch so schlecht geheilt zu haben, dass der Beschadigte dadurch arbeitsunfahig gewordensei. Der Staatsanwalt stellte die Frage: 1st die Art, in welcher der Schenkelbruch des Amtsdieners N. N. geheilt ist, nothwendig auf eine n Fahrlassigkeit al ) des behan- delnden Arztes zurilckzufiihren? Der Auftrag wurde folgen- dermaassen erledigt : Das Wort n Fahrlassigkeit" ist ein scliarf juridisch ab- gegrenzter Begriff. Die Anwendung, resp. Anpassung desselben J ) Interessant, dass hier die Frage der ^Fahrlassigkeit", ein vom Kichter festzustellender Begriif, beriihrt wurde. 114 an bestimmte vorliegende -Zustande 1st nach meiner Auf- fassung Sache des Juristen. Indem ich daher die Beant- wortung der mir vorgelegten Frage, ob im Falle des Dr. B. eine Fahrlassigkeit Seitens des letzteren vorliege, ablehnen zu miissen glaube, werde ich die Momente beleuchten, miter denen die Schiefbruchheilung (Winkelstellung) des rechten Oberschenkels des N. N. zu Stande gekommen ist. Die Staats- anwaltschaft diirfte auf diese Weise selbst zu entscheiden in der Lage sein, ob den Dr. B. eine Sclmld an jenera be- dauerlichen Ereignisse trifft. Der Amtsdiener N. N. erlitt am 28. Januar 1881 einen rechten Schenkelbruch, ist Tags darauf in das Krankenhaus zu P. geschafft worden, wo er bis Mitte September - - also 10 Wochen lang - - unter der arztlichen Obhut des Dr. B. verblieb. Musste schon das Bein durch den Knochenbruch an sich vom 28. 29. Januar anschwellen, so wurde diese Anschwellung sicherlich noch durch den Transport vom Lande nach dem Krankenhause am 29. Jan. vermehrt. Zweckmassig hat nun der Dr. B. durch Eisum- schlage jene Geschwulst bekampft (Act. Fol. 5,11), sodann einen Schienenverband und zur Contra-Extension einen be- schwerten Sandsack angelegt. Der Bruch war ein Schrag- bruch, ausser der bald gehobenen Anschwellung der betreffen- den Weichtheile ohne Complication, er war also ein einfacher. Werden nun die Bruchenden dauernd gleichmassig so an- einander durch den Verband gehalten, dass sie coaptiren, so heilen diese durch neu sich bildende, allmahlich knochig erhartende Masse gerade zusammen mit gewohnlicher geringer Verkiirzung des betreffenden Schenkels, bedingt durch die starke Contractionsneigung der Oberschenkelmuskeln. Aber diese zwischen den Knocheubruchenden sich bildende Masse verknochert nicht immer, theils durch zu feste Bandagen, schlechte Saftemassen des betreffenden Patienten, theils durch intercurrente, die Krafte aufreibende, anderweitige Krankheits- zustande, wie Lungenentzundung, Typhus u. s. w. Dann kann sich an der Bruchstelle ein sogenanntes ,,falsches Gelenk" bilden, wodurch der Patient nicht in der Lage 115 ist, sein Bein (lurch die bei jedem Schritt eintreteude Ver- schiebung der urspriinglichen Bruchenden des Knochens gebrauchen zu konnen. Soldi ein abnormer Zustand hat wahrend des Heilungsprozesses jenes Bruches nicht statt- gefimden. Die Knochenerhartung der zwischen den Bruch- stellen ausgeschiedenen Masse (Callus) ist eingetreten, aber da die Bruchenden nicht gerade aneinander dauernd in der Lage sich befanden, so sind jene schief unter einem stumpfen Winkel verheilt. Die Folge ist die bedeutende Verkiirzuug des Beines, Gehen an einer Kriicke. Waren aber die Bruchenden in gerader Richtung coaptirt erhalten worden, so nmssten diese bei dem Amtsdiener N. N. gerade verheilen, da ja schon die schlecht coaptirt gehaltenen knochig verheilten, freilich immerhin schief. Ein Beweis fur die gut- beschaifene Constitution des N. N. ist damit gegeben. Der Dr. B. hat nach Lage der Akten nicht nur den Bruch er- kannt, sondern denselben auch zweckmassig verbunden. Er hat fast taglich mit dem Patienten n gesprochen" (Akt. Fol. 5), d. h. doch nicht anders als dass er ihn fast taglich im Lazareth besucht hat. Weshalb Dr. B. nicht den zu- verlassigen Gypsverband bei dem Patienten angelegt, geht aus den Akten nicht hervor. Muss dieser schon nach Um- standen von Zeit zu Zeit erneuert werden, so ist es bei einem Schienenverbande noch nb'thiger. da letzterer leichter als ersterer lockert. Nach Aussage des Amtsdieners (Akt. Fol. 5) ist der Schienenverband 6 Wochen lang liegen ge- blieben, nach Dr. B. (Akt. Fol. 12) ist dieser erneuert worden. Da aber der Dr. B. fast taglich den Patienten im Lazareth besucht hat, so muss angenommen werden, dass jener keine Ursache zu ofterer Verbanderneuerung gefunden. Anderer- seits aber hat der Patient wahrend seines Aufenthaltes im Lazareth zu P. (Akt. Fol. 12) den Anordnungen des Arztes nicht Folge geleistet, den Verband gelockert, sich unruhig gezeigt, so dass der Krankenwarter ihn schon auf einen schlechten Heilungsausgang seines Beinbruchs hingewiesen hatte. Der Amtsdiener N. N. war demnach ein unniitzer Patient. 8* 116 Solclien gegeniiber 1st auch der geschickteste, aufmerksamste Mann von Fach machtlos. Nach diesen Erortenmgen stelle ich ergebenst anheim, gefalligst selbst erwagen zu wollen, ob dem Dr. B. der Vorwurf der Fahrlassigkeit bei der Be- handlung des Beinbruches des N. N. zu machen ist." Uer Staatsanwalt hat hierauf den Dr. B. iricht welter verfolgt. Ich habe diesen Fall veroffentlicht in Riicksicht, dass man Seitens der Staatsanwaltschaft gestellte Fragen mit Umgehnng juridischer technischer Ausdrucke, wie Fahrlassig- keit", beantworten und doch den Anforderungen jener in dem zu gebenden Gutachten genligen kann. Das hat zwei Vortheile fiir den Gerichtsarzt. Einmal erscheint er nicht mit als Anklager, und zweitens begiebt er sich nicht in die Lage, mit seiner Auffassung von juridisch-teclmischen Be- zeiclmimgen schliesslich sich in foro u. s. w. refiisiert zu sehen. 1 ) 13. Ungluckliclicr Zufall Oder Fahrlassigkeit ? Ein Zalmtechniker zog einem noch nicht sechs Jahre alten Knaben hinter einander drei Zahne aus. Der dritte Zalin entglitt der Zange und gerieth sofort in die Luftrohre. Augenblicklicher Erstickungstod. Der Zalmtechniker wird wegen fahrlassiger Todtung unter Anklage gestellt. Bei der *) NachMerner. ,,Aus langjahriger Gerichtspraxis" in Euleubergs Vierteljahrschrift fiir gerichtliche Medicin. Juli 1888. Wenu die Nichtbefolgung arztlicher Anordnungen stets eiiie sach- gemasse Wiirdigung fiuden imd nicht nach klinischen Anforderangeu, deneii fiiglich der Arzt nicht geniigen kann, geinessen wiirde, so bin ich fest iiberzeugt, dass der gewb'hnliche Ausgang solcher nichtswiirdigen Klageu demgemass erfolgen wiirde. In alien solchen Fallen empfiehlt es sich, den Kranken za iiherraschen. In einem Fall fand ich, misstrauisch ge- worden, den Kranken, dem strenge Kuhe angeordnet worden, als ich kurze Zeit nach meinem Besuch unter dem Vorwand, etwas zuriickgelassen zu habeu, wieder eintrat, im Verband im Zimmer herumtanzen. Es ist reiner Unsinn, dass der Arzt fiir den giinstigeu Ausgang solcher deu Anordnnngen ganzlich zuwiderhandelnder Kranker haften soil. 117 Priifung der Frage, ob und in welcher Bezielnmg eine Fahr- lassigkeit vorliege, erheben sich unter den Sachverstandigen Meinimgsverschiedenheiten. Kreisphysikus A. und Zahnarzt B. bezeichnen es als leichtfertig, einem Kinde drei Zahne auszuziehen, well dasselbe dadurch in iibermassige Erregung gerathe und dann ein Ungluck wie das vorliegende leichter vorkomme. 1 ) Zahnarzt C. nannte ein solches Beginnen sogar riide. Dem gegeniiber sah Dr. D., den man bei dem Ungluck sofort herbeigerufen hatte, in dem gleich aufeinanderfolgenden Ausziehen dreier Zahne keinen Verstoss gegen die Regeln der zahnarztlichen Kunst, wahrend Zahnarzt E. ein derartiges Verfahren sogar fur das richtigste hielt. Wenn ein Kind, wie es in dem vorliegenden Fall festgestelt worden, ziemlich ruhig sei, dann ziehe man besser die Zahne gleich hinter- einauder aus. Der Schrecken sowie die Angst und in Folge dessen auch die Aufregung eines Kindes seien viel grosser, wenn es zum zweiten und dritten Mai zum Zahnarzt gefiihrt werde, damit wachse also auch die Gefahr. Dazu komme, dass in der Regel auch bei dem Ausziehen der Zahne mit Zwischenpausen der Schmerz grosser sei, als wenn es gleich nach einander geschehe. Das Leben des Kindes sei lediglich einem bedauerlichen Ungliicksfall zum Opfer gefallen. Dem letzteren Gutachten schloss der Gerichtshof sich im Wesent- liclien an .und erkanute auf Freisprechung. Eine geschickte Vertheidigung ist fiir den Ausgang von Verhandlungen gegen Aerzte wegen begangener Kunst- fehler von ungemein grosser Wichtigkeit. Wenn Ortloff (Ge- richtlich-medicinische Falle und Abhandlungen, Heft III, 1888, p. 44) sagt: n Die Approbation soil kein Freibrief sein fur Faulheit, Bequemlichkeit oder Eigendiinkel oder gar blossen Gelderwerb," so geben wir diesen Vorwurf sowie die *) Unglucksfalle der Art sind doch mehrfach auch beim Ausziehen eines einzelnen Zahnes vorgekommen! Ich selbst erlebte bei einem alten AVundarzt diesen Fall, der aber nicht Gegenstand eiuer Klage wurde. T18 uachfolgende Anforderung zuriick: n ln jedem Berufskreis, der auf wissenschaftlichem oder gewerblichem Studium beruht und den Zweck der Abwendung von Gefahrdungen von Leib und Leben desMenschen zur Lebensaufgabe hat, muss der Berufsiibende als Vorbedingung fiir fort- laufende Befahignng zur Berufsausiibung Sorge tragen oder diese unterlassen." Dieser Satz, der jeder Berufsstellung gilt, involvirt, dass Formfehler, Begehungen. Unterlassungen, nicht nur von Seite des Arztes, geziemende Almdung finden. Vieles, was wahr und rein menschlich ist, kann der Arzt dem Arzt gegenuber nicht beschonigen, wohl aber der Ver- theidiger. In einem uns aktenmassig vorgelegenen Fall, der mit Verurtheilung eines Arztes zu einer schweren Gefangniss- strafe wegen angenommener Fahrlassigkeit, bestehend in der Zerreissung der Scheide bei Entbindungsversuchen, endete, hatte das Obergutachten sich wortlich dahin ausgesprochen, dass die Moglichkeit, die Zerreissung sei bei der von einem andern Arzt ausgefiihrten Wendung eingetreten, a priori nicht zu leugnen sei. Wir enthalten uns der Ausfiihrung, ob diesem Ausspruch gegeniiber der ursachliche Zusammenhang zwischen der angenommenen Fahr- lassigkeit und dem ungiinstigen Erfolg nicht anderweit zu begriinden war, wahrend zu dieser Begriindung von der Ver- theidigung nicht einmal der Versuch gemacht wurde und es in den Akten bestandig heisst: der Vertheidiger schweigt! Kuhner - K95a Der arztliche Stand und dessen besondere Gefahren APR 1 5 196^ UC SOUTHERN REGIONAL LIBRARY FACILO> A 001376622 5 K95a