* in* L b'V f> i\ i DIE iii 1 n i S' METAPHYSISCHE GRUNDANSCHAUUNG KANTS, IHR VERHALTNISS ZU DEN NATURWISSENSCHAFTEN UND XHRE PHILOSOPHISCHEN GEGNER. PARGESTELLT IJND BEERTHEILT r»n ‘ Dr. H. WOLFF. LEIPZIG, ALEXANDER EDELMANN, UNIVERSITATS-BUCHHANDLER. 1870 . MEINEM GUTEN YATER KARL WOLFF INNIGSTER VEREHRIING END DANKBARKEIT GEWIDMET. 4 t INHALT. Seite Einleitung. 3—4 I. Die psycliologisch-metaphysische Grundanschauung Kants und ihre genetische Entwicklung durch Wolff, Hume (Locke).4—19 II. Pliysiologische Begriindung. Die objektive Gesicbtsan- sehauung. Bestatigung und Modificierung der Kantschen Anschauung. 20—40 III. Die philosophischen Gegner Hegel und Herbart. Be- rechtigung und Nichtbereclitigung der gegen Kant er- liobenen Einwiirfe. 40—64 l • • • • - • • • • ■ ■■■M ■ Ikuno Fischer sagt in cler Vorrede des dritten Bandes seiner Geschielite der Philosophie: „Kant beherrscht die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts wie Leib¬ niz die des achtzehnten.“ Und in der That ist der Ein- fluss des grossen Mannes auf deni Gebiete der Philoso¬ phie zunachst so massgebend gewesen, dass wir gegen- wartig in Deutschland eine Menge Aeste und Zweige finden, die alle zu ihrem Grundstainme und Ausgangs- punkte Kant haben; und dass schwerlich irgend eine Philosophie in der Gegenwart epochemachend auftreten diirfte, die sicli nicht mit der Kantschen in ihren letzten Endresultaten auseinander gesetzt hat. Die Anregungen und Anstosse ferner, die er der philosopliischen Denk- weise gegeben hat, haben ihre Wirkungen auch ausgeiibt auf ferner stehende Zweige, namentlich die Naturwissen- schaften; und auf die physiologische Optik speciell, sowie iiberhaupt auf die Theorie der Sinneswahrnehmungen hat seit Johannes Muller Kant einen derartigen Einfluss gewonnen, dass lieute nocli ein durcli Kant vielleicht hervorgerufener Zwiespalt der Meinungen betreffs der Theorie der Baumanschauungen besteht, der unter den Physiologen seiner Losung noch entgegensielit.*) Bleiben wir jedocli bei der Philosophie stehen, so sind nach 1 * *) Helmholtz, pliysiolog. Optik. III. p. 435. 4 Kant nachst mehreren einzelnen Richtungen, wie die von Fries und Schopenhau&j?, zwei zahlreich vertretene und weit verbreitete Schulen entsprossen, die entweder in di- rekter Linie, die Herbartsche, oder in mehr indirekter Weise, die Hegelsche durch Fichte und Sclielling hin- durch, Kant zu ibrem Ausgangspunkte liaben. Herbart wie Fichte, an den Sclielling und Hegel ankniipfen, sagen geradezu, der erstere, dass er Kantianer sei,*) der letztere, dass er nie etwas werde sagen konnen, worauf nicht schon Kant unmittelbar oder mittelbar, deutliclier oder dunkler gedeutet habe.**) Je nach der individuellen Entwicklung aber treten nun beide Schulen, die Hegel¬ sche wie Herbartsche bald melir, bald weniger schroff Kanten gegeniiber. Und doch sehen wir, wie grade die neuesten Resultate speciell der physiologischen und phy- sikalischen Forschungen darauf hinauskommen, die me- taphysischen Grundgedanken Kants mehr oder weniger festzuhalten. Daher wollen wir nachst einer kurzen Dar- stellung der Kantschen Grundgedanken zunachst sehen, in wie weit seine Lehre von den heutigen Naturwissen- schaften, Physik und Physiologie bestatigt wird, und hieran eine Beurtheilung der Einwiirfe und Tadel knlipfen, die ihm von den beiden auf und durch ihn folgenden, bedeutenden Mannern, Hegel und Herbart gemacht werden. i. Zwei Manner waren es besonders, die auf den tiefen Denker Kant den grossten Einiiuss gewannen: David Hume, der schottisclie Philosoph, und Wolff, der Ver- theidiger der Leibnizschen Philosophie in Deutschland. *) Herbarts allgem. Metaphysik ed. Hartenstein p. 64. H. S. W. B. III. **) Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre. 2. Ausgabe 1798. Vorrede p. 5. 5 Von clem ersteren spriclit es Kant einmal aus, class er durch ihn ans dem dogmatisclien Schlummer geweckt sei,*) und gegen den Dogmatismus des zweiten war ja besonders seine Kritik gerichtet.**) Der Leibniz-Wolffsche Dogmatismus war damals in Deutschland die herrschende Denkweise, die wie Kant selbst sagt,***) sich anmasst, mit einer reinen Erkennt- niss aus Begriffen, (die sie in der Ontologie aller Spe- kulation voranschickte), nach Principien, so wie sie die Vernunft langst in Gebrauch hat, ohne Erkundigung der Art und des Rechts, wodurch sie dazu gelangt ist, phi- losophieren zu konnen. Gegeniiber dieser dogmatischen Denkweise fiihrte Kant den einfachen grossen, von Locke bereits angeregten Grundgedanken durch, ehe man an philosophische Spekulationen herantrete, doch zuerst zu untersuchen, wie weit denn das menschliche Erkenntniss- vermogen reiche, zuerst von Allem also den Umfang, die Grenzen und den Inhalt des menschlichen Erkenntniss- vermogens zu bestimmen. Und zu dieser seiner Kritik des herrschenden Dogmatismus war er veranlasst durch David Humes Bestrebungen, der, ausgehend von Locke, dessen Empirismus zum Scepticismus umgewandelt hatte. Das kurze Resultat der Untersuchungen Lockes, die er uns in seinem Hauptwerke „Versuch liber den mensch¬ lichen Verstand“ mittheilt, ist folgendes: In dem ersten Buche, das wesentlich kritischer Art ist, bestreitet Locke alle angebornen, sowohl spekulativen, als praktischen Grundsatze und Begriffe, die den Inhalt jener ausmachen, gibt jedoch zu, dass der menschlichen Seele Fahigkeiten, Thatigkeiten, Operationen angeboren seien, die sie in Stand setzen, zu allgemeinen Begriffen und Vorstellungen zu gelangen. Die Seele, iiber deren eigentlichstes Wesen er ebenso wenig, wie spater Kant eine bestimmte Ent- *) Prolegomena, Einleitung. **) Vorrede znr Kr. d. R. V. ed. Hartenstein p. 27. ***) Vorrede zur Kr. d. R. V. ed. Hartenstein p. 30. 6 scheidung gibt — denn was er Seele nennt, ist nur der allgemeine und formale Begriff ernes erkennenden, flili- lenden und wollenden Subjekts — ist von Hause aus eine tabula rasa, einem unbeschriebenen Papier ahnlich, das alle Schriftziige aufnimmt, die sie bebalten soli, deren Audienzzimmer gewissermassen das Geliirn mit seinen Organen und Nerven ist, welclie die Vorstellungen von Aussen zufiihren. „Er denkt sicli, um mit den Worten Drobischs zu sprechen, (cf. Drobiscli „Ueber Locke, den Vorlaufer Kant’s “ Zeitsclirift fur exakte Philosophic B. II., p. 10) die Seele gleichsam wie eine Kugel, auf deren Oberflache einerseits die ausseren Objekte, anderer- seits aber auch die in ihrem Inneren vorhandenen, ihr allerdings als Vermogen angeborenen Thatigkeiten Ein- driicke machen, die als von Aussen und von .Innen her- riihrende und daher als zwei theils durch Sensation, theils durch Reflexion gegebene disparate Vorstellungs- klassen unterschieden werden.“ Lockes tabula rasa ist also so zu sagen nur die Oberflache der Seele, die urspriinglich ganz leere Tafel des Bewusstseins, niclit aber die ganze Seele; denn diese Oberflache umschliesst ein Kern, der zwar niclit Vor¬ stellungen, wohl aber Vermogen, und zwar niclit bloss Vermogen vorzustellen, sondern auch zu f'uhlen und zu wollen enthalt, die aber erst zufolge ausserer Anregungen sicli entfaltenA Er schreibt also der menschlichen Seele gewisse Thatigkeiten, Fahigkeiten, Operationen zu, welclie ihr angeboren sind und sie in Stand setzen, zu allgemeinen Wahrheiten zu gelangen. Diese Fahigkeiten sind zunachst eine Erregbarkeit und Empfanglichkeit fiir die Einwir- kung ausserer Objekte; ferner eine, wenngleicli durch die aussern Eindriicke erweckte Selbstthatigkeit, die sicli kund tliut im Vorstellen, Bebalten, Verbinden, Unter- scheiden, Vergleichen, Abstrahieren. (Essai philosophique par M. Locke, II. chapitre 7, 8, 9, 10, 11). Zu alien unseren Vorstellungen gelangen wir nun durch Erfalirung, und zwar auf zwei Wegen, durch Sensation, d. h. durch 7 Eindriicke, welche die aussern Objekte auf unsere Sinne machen und diese unserer Seele zufiihren (aussere Er- fahrung), und durch Reflexion, Aufmerksamkeit auf ihre eignen Operationen, welche sie mit den durch die Sinne empfangenen Vorstellungen vornimmt, vermoge welcher sie nun die Vorstellungen des Wahrnehmens, Denkens, Zweifelns, Glaubens, Folgerns, Erkennens, Wollens em- pfangt. Grade ebenso jedoch, wie er die aussern Ob¬ jekte von den durch sie bewirkten Empfindungen unter- scheidet, so unterscheidet er auch die Thatigkeiten (Ope¬ rationen) der Seele von den durch sie hervorgebrachten Vorstellungen und bezeichnet die letztern ebenso gut als Eindriicke, welche von den ersteren auf die Seele gemacht wiirden, die erst dann wahrgenommen wiirden, wenn sie stark genug waren.*) Die Grundlage zu alien unseren Vorstellungen sind nun die einfachen Wahr- nehmungen, die der Seele also theils durch die Affektion der Sinne von Aussen, theils durch die innere Erfahrung aufgenotigt sind. Einige von ihnen kommen nur ver- mittelst eines Sinnes in die Seele, wie die einfachen sen- siblen Qualitaten, andere werden durch das Medium von mehreren Sinnen zugefuhrt, wie die Vorstellungen von Raum, der Ausdehnung, Gestalt, Ruhe, Bewegung, noch andere erhalt sie bios durch Reflexion, wie die Vorstel¬ lungen von den Seelenthatigkeiten, dem Vorstellen, Wollen etc.* einige endlich bieten sich der Seele auf jedem Wege, der Sinnlichkeit und Reflexion dar, wie die Begriffe von Vergniigen, Lust, LTnlust, Schmerz, Kraft. (Essai pliilosoph. II. chap. III. § 1 ff.) Diese Vorstel¬ lungen sind aber keineswegs Bilder, welchen im Objekte etwas Reales entsprache, so wenig als die Worte den durch sie bezeichneten Objekten ahnlich sind, sondern es sind die unmittelbaren Objekte des Bewusstseins, her- vorgerufen durch Korper, welche die Eigenschaft, Kraft *) cf. Drobisch, liber Locke, den Vorlaufer Kants p. 10. — Essai philos. par Locke II. cliap. 1. § 2 ff. 8 besitzen, derartige Yorstellungen in uns hervorzurufen. Hier aber bleibt sicli Locke niclit durchgangig treu, und es ist dies wohl eine scbwaclie Stelle seiner Metaphysik. Er untersclieidet namlich dreierlei Eigenscliaften als Krafte der Korper. Erstlich solclie, welche vom Korper in jedem Zustande unzertrennlich sind, welche an ihm bei alien Veranderungen, bei allem Weclisel und bei jedem nocli so gewaltigen Einfluss bestandig haften. Es sind dies die Grundeigenschaften der Korper, welche die einfachen Yorstellungen der Dichtheit, Aus- dehnung, der Figur, der Bewegung, der Ruhe und der Zahl in uns hervorbringen, welche letzteren somit eine objektive Realitat haben (?). Von diesen sind unterschie- den die abgeleiteten, sekundaren Eigenscliaften, die zwar von Aussen angeregt, aber docli nur subjektive Vorstel- lungen der Seele sind. Und unter diesen letzteren scheidet er wieder die unmittelbar wahrnehmbaren und die mittelbar wahrnehmbaren, die ersteren die Farben, Tone, Geriiclie, Geschmacke, die letzteren die Krafte der Korper im eigentlichen Sinne. (Essai phil. II. chap. 8 § 1—26). Diese einfachen, theils durcli Sensation, theils durcli Reflexion gegebenen Yorstellungen sind nun die Grundlage und Bestandtheile, aus welchen mittelst der immanenten Operationen des Vergleichens, Unterschei- dens, Verbindens, Trennens zusammengesetzte Yorstel¬ lungen gebildet werden, theils nur als Modifikationen von jenen, wie die Modi des Raums, der Dauer, theils Begriffe der Substanzen und Relationen (Essai pliilos. II. chap. 12), theils endlich alle die tiefsinnigsten und ab- straktesten Begriffe, welche sicli nur im Besitze der menschlichen Seele befinden mogen. Auf demselben Standpunkte der Empirie stelit nun auch Hume, der in seinem Hauptwerke „Untersuchungen iiber den menschlichen Verstand“ ebenfalls den Ursprung unserer Yorstellungen, und was Locke nicht gethan hatte, wesentlich den Ursprung des Causalitatsbegriffs unter- suchte. Er frug also zunachst, ob es moglich sei, dass 9 die Vernunft cliesen Begriff a priori denke, und forderte, wie Kant (Einleitung zu den Prolegomena) sagt, die Yer- nunft auf, die da vorgibt ihn a priori in ihrem Schoosse erzeugt zu haben, ilim Rede und Antwort zu geben, mit welchem Rechte sie sicli denkt, dass etwas so beschaffen sein konne, dass, wenn es gesetzt ist, dadurch aucli etwas Anderes notwendig gesetzt werden miisse.“ Die Wirkung ist von der Ursaclie ihrem Inhalte nach durch- aus verschieden, und es lasst sich daher a priori gar nicht erweisen, mit welchem Rechte mit dem blossen Be- griffe der Ursache aucli die Wirkung notwendiger Weise gesetzt werde. Hieraus scliloss er, dass die Vernunft gar kein Vermogen habe, solche Yerkniipfungen, aucli selbst nur im allgemeinen a priori zu denken, und dass daher der Causalitatsbegriff kein apriorischer, sondern lediglich ein auf psychologischer Induktion beruhender, auf Erfahrung sich stiitzender Begriff sei. Die Erfah- rung, die ja nur Thatsachen liefert, zeigt uns, wie auf gewisse Erscheinungen bestandig andere in derselben Reihe folgen, und hieraus bilde sich durch die Ge- wohnheit, solche Erscheinungen mit einander eintreten zu sehen, der Causalitatsbegriff, der uns also iiber den notwendigen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung auch nicht das mindeste aussagt. Der objek- tive, allgemein notwendige Zusammenhang ist, weil ein gewohnheitsmassiger, faktisch in Abrede gestellt und der Lockesche Empirismus zum Scepticismus umgewandelt. David Hume brachte hierdurch nach Kant kein Liclit in diese Art von Erkenntniss, aber er schlug doch einen Funken, bei welchem man ein Licht hatte anzunden konnen, wenn es einen empfanglichen Zunder getroffen hiitte. (Prolegomena, Einleitung.) Die Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit der Begriffe aus der Erfah¬ rung ist, weil gewolmheitsmassig, faktisch in Abrede gestellt; Erfahrung also, als die in notwendigem Zu- sammenhange stehenden Wahrnehmungen, in der That unmdglich gemaclit. Gleichwohl linden wir in der Ma- 10 thematik besonders, ebenso in der Naturwissenschaft und Metaphysik synthetische, die Erfabrung erweiternde Satze, die mit strengster Notwendigkeit und Allgemein- heit gelten. Woher kommen diese nun, und wie ist so- mit uberhaupt reine Mathematik, wie ist reine Natur¬ wissenschaft, wie Metaphysik moglich? Aus der Erfah- rung konnen sie nicbt abgeleitet sein, da diese keine strenge Notwendigkeit und Allgemeinheit liefert, folg- licli miissen sie aus der reinen Vernunft kommen, dort den Sitz ihrer Entstebung und Allgemeingiiltigkeit baben und die Erfabrung somit erst ermoglichen. Mit der Be- antwortung dieser Fragen bescbaftigen sich die Kritik der reinen Vernunft und die Prolegomena. Mathematik ist nur allein dadurcb moglich, dass Baum und Zeit apriorische, vor der Erfabrung vorangehende Eormen der Anschauung sind, auf welche gestiitzt, ibre Satze mit strenger Notwendigkeit und Allgemeinheit gelten; Naturwissenschaft als die Wissenschaft von dem Inbe- griff aller nacb gewissen allgemeinen Gesetzen verkniipften Erscbeinungen, allein dadurcb, dass von der theoretischen Vernunft oder dem Verstande den Erscheinungsobjekten — denn die Welt der Dinge an sich bleibt uns ganz unbekannt — gewisse allgemeine Gesetze (Kategorien und daraus entspringende Grundsatze) vorgescbrieben werden, und so eine objektive Erfahrungswelt erst er- moglicbt wird, innerbalb welcher aber die einzelnen kon- kreten Gesetze durch die Erfabrung gegeben werden. Metaphysik dadurcb, dass die Thatigkeiten unseres Ver- standes, seine aprioriscben Formen und Begriffe, sowie die daraus resultierenden Grundsatze, von denen strong die Vernunftideen zu trennen sind, in systematiscber Vollstandigkeit dargestellt werden. — Hier tritt sclion mit voller Klarbeit der charak- teristische Moment der ganzen Kantschen Philosophic, die Betonung und Hervorbebung der subjektiven Seite ge- genuber der objektiven hervor. Ebe wir aber an die Herleitung der subjektiven Formen und Gesetze (Kate- 11 gorien und Grundsiitze), die von dem Verstande der Natur vorgeschrieben werden, gehen, sei es uns gestattet, einen kurzen Blick auf seine psycliologisclie Anscliauung zu werfen, da diese mit der metaphysischen stets Hand in Hand geht. In den Paralogismen der reinen Ver- nunft, d. h. in einer Kritik der rationalen Psychologie zeigt Kant, wie die rationale Psychologie keineswegs be- fugt sei, aus dem einfachen Bewusstsein, der empirischen Tbatsache. ,,Ich denke“ darauf zu schliessen, dass die Seele 1) Substanz 2) ihrer Qualitat nach einfacb 3) den verschiedenen Zeiten nach, in welchen sie da ist, nume- riscb identisch (d. i. Einheit nicht Vielheit) 4) im Ver- baltnisse zu moglichen Gegenstanden im Raume sei, sondern dass durcli dieses Ich oder Er oder Es (das Ding), welches denkt, nun nichts weiter, als ein trans- cendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt werde, welches nur durch die Gedanken, die seine Pradikate sind, erkannt wird, und wovon wir abgesondert niemals den mindesten Begriff haben konnen.*) Durch die Ana¬ lyse des Bewusstseins meiner selbst im Denken wird ebensowenig wie durch die logische Erorterung des Den- kens irgend etwas in Ansebung der Erkenntniss meiner selbst als Objekt gewonnen. Die Qualitat dieses intelli- giblen Subjektes, ob es Substanz, ob es einfacb sei, bleibt uns daher total unbekannt, und wir kennen nur die Aeusserung desselben, das Denken, dessen Formen aber einzig und allein die Bestimmung baben, die Er- fabrung zu ermoglichen und keine Anwendung auf das intelligible Subjekt selbst erleiden. Ueber das essen- tielle Wesen der Seele als eines „Dinges an sich“ vermag uns daher Kant ebenso wenig wie Locke etwas gewisses auszusagen. Unsere Erkenntniss erstreckt sich nur auf die durch innere Erfabrung erlangten Aeusserungen der Seelentbatigkeit im Denken, Fiihlen, Wollen, wesbalb der Seele zunachst ein Erkenntniss-, Gefulils-, Willens- *) Kr. d. R. V. ed. Hartenstein p. 293—314. 12 Vermogen zukommt. Alles dasjenige nun, was das Moment der strengen Notwendigkeit und Allgemeinheit an sich tragt, kann dureli Erfahrung nicht gewonnen sein, denn diese liefert diese beiden Bestimmungen niclit, folglich muss es immanent in der Seele vorhanden sein (cf. Drobisch, Ueber Locke, den Vorlaufer Kant’s: Zeit- schrift fur exakte Philosopliie II. p. 5 ff.). Somit kom- men auf alien drei Gebieten der Seele apriorisclie, von der Erfahrung unabhangige Thatigkeiten, Formen und Grundsatze zu. Auf dem Gebiete der theoretischen Vernunft sind es die Formen der Anschauung, die Kategorien und die daraus entspringenden Grundsatze, die somit, weil die Sinnlichkeit nur die Materie der Erfahrung liefert, die verbindenden Synthesen und die einzig mogliche Bedingung sind, wie Erfahrung zu Stande kommen kann. Auf dem Gebiete der praktischen Vernunft ist das apriorisclie Element der formale kategorisclie Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Widens zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten konne,“ indem sich hierbei die Vernunft autonomisch gegen sich selbst erweist. Auf dem asthetischen Gebiete, dem der Urtheilskraft, als dem mittleren zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, welche sich auf das Gefiihls- vermogen bezieht, endlich ist es der Zweckbegriff, wel- cher der Natur bei Bestimmung der einzelnen empirisch konkreten Gesetze vorgeschrieben wird. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, behandelt Kant in der Kritik der reinen Vernunft nur die eine Aeusserung dieses intelligiblen Subjekts, das denkende Erkennen (Erkenntnissvermogen), dessen Getriebe und • apriorisches Besitzthum zur Ermdglichung der Erfahrung darzulegen, ihm nun von wesentlichem Interesse war. Er unterscheidet vier zwar scharf von einander geschiedene, aber docli im Zusammenliange stehende Vermogen: die Sinnlichkeit, als das Vermogen der Seele von Aussen 13 afficiert zu werden, somit jegliclien Erfahrungsstoff dar- zubieten, zugleich das Vermogen der Sinnlichkeits- formen, des Raumes und der Zeit. Den Yerstand als das Vermogen der Begriffe und apriorischen Grundsatze; mitten inne zwischen beiden die Einbildungskraft als das Vermogen der allgemeinen Schemata, und endlich die Vernunft als das Vermogen der keinen konstitutiven, sondern bios regulativen Gebrauch zulassenden Ideen. Diese Vermogen, streng zusammengehorend, ahneln einem lebendigen Organismus, der riur allein im Stande ist, den durch die Sinnliclikeit gegebenen rolien Stoff der Erfahrung in imuier hohern Formen aufnehmend, zuletzt eine vom Denken durchdrungene Erfalirungserkenntniss zu Stande zu bringen. Er beginnt seine Darstellung, indem er in seiner ,,transcendentalen Deduktion der rei- nen Verstandesbegriffe“ nachweist (Kr. d. R. V. 1. Aufl. p. 92—110 cf. Kr. d. R. V. ed. Hartenstein Beilagen I. p. 609—631J, wie zur Bildung von ErfahrungsbegrifFen zunachst eine verbindende Thatigkeit vom Subjekt aus- gelien muss, um das durch die Sinnliclikeit gegebene Mannigfaltige der Anscliauung zur Einlieit des Bewusst- seins zu bringen. „Damit aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anscliauung werde (wie etwa in der Yor- stellung des Raums), so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und die Zusammennekmung desselben notwendig, welch e Handlung ich die Synthesis der Ap¬ prehension nenne, weil sie geradezu auf die Anschauung gerichtet ist, die zwar ein Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches, und zwar in einer Vorstellung ent- halten, niemals ohne eine dabei vorkommende Synthesis bewirken kann (p. 612 bei Hartenstein). Innig mit der Synthesis der Apprehension verbunden ist die Synthesis der Reproduktion, die er als zweite transcendentale Handlung des Gemiits darlegt. Er sagt (p. 613 bei Hartenstein) „Nun ist offenbar, dass, wenn ich eine Linie im Gedanken ziehe, oder die Zeit von einem Mittag znm andern denke, oder auch nur eine gewisse Zahl mir vorstellen will, ich 14 erstlich notwendig eine clieser mannigfaltigen Vorstel- lungen nacli der andern in Gedanken fassen miisse. Wiirde ich aber die vorhergeliende (die ersten Theile der Linie, die vorliergehenden Theile der Zeit oder die nach einander vorgestellten Einheiten) iminer aus den Gedanken verlieren und sie nicht reproducieren, indem ich zu den folgenden fortgelie, so wiirde niemals eine ganze Vorstellung und keiner aller genannten Gedanken, ja gar nicht eimnal die reinsten und ersten Grundvor- stellungen von Raum und Zeit entspringen konnen.“ Eer- ner weist Kant 3) nach, wie Erkenntniss iiberhaupt nur moglich sei durcli Recognition der Objekte im Begriffe. „So dient der Begriff vom Korper nach der Einheit des Mannigfaltigen, welches durcli ilm gedacht wird, unserer Erkenntniss ausserer Erscheinungen zur Regel. Eine Regel der Anschauung kann er aber nur dadurch sein, dass er bei gegebenen Erscheinungen die notwendige Reproduktion des Mannigfaltigen derselben, mitliin die synthetische Einheit in ihrem Bewusstsein vorstellt“ (p. 616 bei Hartenstein.) Es handelt sicli nun aber weiter um die die Erfahrung bedingenden subjektiven, apriori- sclien Formen, von denen er gezeigt hat, dass durcli sie allein Mathematik, Naturwissenschaft, Metaphysik, weil die Momente der Allgemeinheit und Notwcndigkeit ent- haltend, moglich sei. Zu diesem Zwecke unternimmt es Kant, einen Erfahrungsbegriff zu analysieren. „Dass alle unsere Erkenntniss mit der Erfahrung anfange, sagt er in der Einleitung zur Kr. d. R. V. ed. Hartenstein, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkennt- nissvermogen sonst zur Ausiibung erweckt werden, ge- schahe es nicht durcli Gegenstande, die unsere Sinne riihren und theils von selbst Yorstellungen bewirken, tlieils unsere Verstandesthatigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verkniipfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindriicke zu einer Erkenntniss der Gegenstande verarbeiten, die Erfahrung lieisst. Wenn aber gleich alle Erkenntniss mit der Er- fahrung anhebt, so entspringt sie darum dock niclit eben alle aus der Erfahrung“ (Einleitung p. 36). „Lasset nlim- licli von eurem Erfahrungsbegriffe eines Korpers, so fahrt er p. 39 fort, Alles, was daran empirisch ist, nach und nach weg: die Farbe, die Harte, die Weiche, die Schwere, die Undurchdringlichkeit, so bleibe doch der Raum Iibrig, den er (welcher nun ganz verschwunden ist) einnahm, und den konnt ihr nicht weglassen. Ebenso, wenn ihr von eurem empirischen Begriff eines jeden korperlichen oder nicht korperlichen Objekts alle Eigenschaften weg- lasst, die euch die Erfahrung lehrt, so konnt ihr ihm doch nicht diejenige nehmen, dadurch ihr es als Sub- stanz oder einer Substanz anhangend denkt (obgleich dieser Begriff mehr Bestimmung enthalt als der eines Objekts iiberhaupt.) Ihr miisst also, iiberfuhrt durch die Notwendigkeit, womit sich dieser Begriff euch auf- dringt, gestehen, dass er in eurem Erkenntnissvermogen a priori seinen Sitz habe.“ Ein Zweifaches hatte sich ihm durch diese Analyse ergeben, einmal, dass die Vor- stellung des Raumes und mit ihr als Zwillingsbruder, die der Zeit, a priori im Gemiite ihren Sitz habe, und dann ebenso gewisse, die Erfahrung bedingende Erkennt- nissformen oder Begriffe. Sinnlichkeit und Verstand sind somit die beiden streng von einander getrennten Fak- toren aller unserer Erkenntniss und gehoren, um selbige zu Stande zu bringen, unzertrennlich zu einander. In seiner transcendentalen Aestlietik beweist er nun, wie Raum und Zeit keine diskursiven, von der Erfahrung abgeleiteten Begriffe, sondern notwendige Anschauungs- formen des erkennenden Subjekts seien, die vor aller Erfahrung vorangehen miissten, um die Erfahrung erst moglich zu machen. Das Resultat der transcendentalen Aesthetik ist, dass Raum und Zeit als Formen des am schauenden und erkennenden Subjekts, empirische Realitat aber transcendentale Idealitiit liaben, d. h. die Dinge an sich, die uns ganz und gar unbekannt bleibeivgar nichts angchen, sondern nur fiir die Objekte der Erscheinungs- 16 welt Giiltigkeit haben. Somit waren die ersten aprio- ristischen Elemente, die Formen der Sinnliclikeit gefun- den. Es liandelte sich nun um die Herleitung der ebenso gewissen aprioristisclien Begriffe, die als Funktionen des Intellekts, im Yerstande ihren Sitz haben miissen. Kant recurriert hierbei auf die Urtlieile, die als Funktionen des Intellekts Einheit unter unsern Begriffen zu Stande bringen. Dieselben Geistesaktionen, die das Subjekt als denkende Intelligenz bei der Bildung von Urtheilen vollziebt, die¬ selben vollziebt es auck bei der Bildung von Stammbe- griffen; diese Funktionen sind beide Male dieselben, und somit werden gerade so viele Kategorien, d. b. auf Be¬ griffe .gebracbte Funktionen (Verbindungsweisen des den- kenden Intellekts) entsteben, als wie viele Urtlieile da sind. Wir finden nun, dass die Funktion des Denkens unter vier Titel mit je drei Momenten gebrackt werden konnen,*) d. b. dass die Urtheile sicli uns darstellen als Urtlieile der Quantitat, Qualitat, Relation, Modalitat, und somit wird es ebenso viele, also zwolf reine Stammbe- griffe des reinen Verstandes geben, welclie a priori auf Gegenstande der Erfabrung und Anscliauung geben. Hiermit ist nun aucli der zweite Faktor unserer Erkennt- niss, der Verstand gefunden und aus einem feststelienden Grundprincip, dem Vermogen zu urtheilen, mit Not- wendigkeit bergeleitet. Erscbeinungsobjekte als Produkte der Sinnliclikeit und Kategorien als Produkte des Ver¬ standes sind aber vollig ungleicbartig. Damit es nun moglich werde, die reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) auf Ersclieinungen anzuwenden, dazu dienen die transcen- dentalen Schemata, die eine vermittelnde Stellung zwi- scben Sinnliclikeit und Yerstand einnehmend, tbeils sinn- lich, tbeils intellektuell den Uebergang von Sinnlichkeit zu Yerstand bilden und so eine Subsumtion der sinn- licben Erscbeinungsobjekte unter die Kategorien ermog- *) Kr. d. R. V. ed. Hartenstein p. 100. 17 lichen. Diese Schemata, Produkte der Einbildungskraft, heziehen sich auf alle vier Kategorien, sind nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln und gelien nach der Ordnung der Kategorien auf die Zeitreihe (Zahl), Zeitinhalt, Zeitordnung und Zeitinbegriff. Aus der Anwendung dieser reinen Verstandesbegriffe zu synthetiscben Urtbeilen ergeben sicb nun endlicb nocli die Grundsatze des reinen Yerstandes, die nach der An- ordnung der Kategorientafel hergeleitet, nach dem Mo- mente der Quantitat Axiomen der Anschauung (alle Anscbauungen sind extensive Grossen); nach dem Mo- mente der QualitiLt Anticipationen der Wahrnehmung: (in alien Erscbeinungen hat das Reale, was ein Gegen- stand der Empbndung ist, intensive Grosse, d. i. einen Grad); nacli dem Momente der Relation Analogien. der Erfahrung, als der in notwendiger Yerknlipfung vorge- stellten Wahrnehmungen, (und zwar in dreifacher Gestalt: 1) Bei allem Wechsel der Erscheinung bebarrt die Sub- stanz und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt nocli vermindert; 2) Alle Veranderungen geschehen nach dem Gesetze der Verkniipfung der Ur- saclie und Wirkung; 3) Alle Substanzen, sofern sie im Raume als zugleicb wahrgenommen werden konnen, sind in durchgangiger Wechsel wirkung); nach dem Momente der Modalitat endlicb Postulate des empirischen Denkens sind: 1) Was mit den formalen Bedingungen der Er¬ fahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) iiber- einkommt, ist moglicli; 2) Was mit den materialen Be¬ dingungen der Erfahrung (der Empbndung) zusammen — hangt., ist wirklich; 3) Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestijnmt ist, ist (existirt) notwendig. — Dies ist nun der Vorrat, den unser Intellekt unab- hiingig von aller Erfahrung besitzt, die beiden Anschau- ungsformen von Raum und Zeit, als apriorische Formen der Sinnlichkeit, die zwolf Kategorien und die daraus entspringenden Grundsatze als apriorische Formen des 2 18 Yerstandes, die der Verstand als allgemeine Gesetze den Ersclieinungsobjekten vorschreibt. Erfahrung kommt nun allein so zu Stande, dass durch unsern Intellekt das, was vermdge der Affectionen der Sinnlichkeit durch die objektive Aussenwelt gegeben ist, also die subjektiven Empfindungsqualitaten durch die Funktionen der Syn¬ thesis, Reproduktion, Recognition in Erscheinungsobjekte vereinigt, in Raum und Zeit angeschaut und mit Hiilfe der Kategorien und allgemeinen Grundsatze zu einer fest organisierten, in notwendiger und allgem einem Zusarn- menhange stehenden Erfahrungswelt vereinigt werden. Somit haben die Kategorien keinen andern Gebraucli als lediglich zum Zweck der Erfahrung, dieselbe moglich zu machen. Die Dinge an sich, die der Welt der Dinge zu Grunde liegen, bleiben uns ganzlicli unbekannt und iiber sie liisst sich vermoge unseres Erkenntnissvermbgens nichts aussagen; denn auch die Empfindungsqualitaten, die auf Affektion unserer fiinf Sinne durch die Aussen¬ welt beruhen, sind ja nur subjektiv und vermogen uns fiber die wahre Beschaffenheit der Dinge nichts auszu- sagen. Nehmen wir somit den einen Faktor unserer Erkenntniss, nahmlich unsere subjektive Intelligenz hin- weg, so schwindet das ganze empirische Anschauungsbild vollkommen. Versucht nun aber unsere Vernunft, mit den ihr lediglich zum Zwecke der Erfahrung zu Gebote stehenden Mitteln fiber die die Erfahrung fibersteigenden transcendenten Vernunftideen, die Seele, die Welt, als Inbegriff aller Erscheinungen, und Gott, als den Urgrund aller Dinge, etwas auszusagen, so gerat sie notwendi¬ ger Weise in dialektischen Schein und Widersprfiche, die nun Kant in dem zweiten Theil der Kritik aufdeckt und widerlegt. Die Wissenschaft aber, deren Endabsicht mit aller ihrer Zurfistung eigentlich nur auf die Aufldsung derartiger Probleme, wie Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, gericlitet ist, heisst Metaphysik, deren Verfahren im An- fange dogmatiscli ist, d. i. die ohne vorangehende Prfifung des Yermogens oder Unvermogens der Vernunft zu einer 19 so grossen Unternelimung zuversichtlich die Ausfiihrung iibernimmt.*) Da nun grade darin der Hauptfehler des Dogmatismus liegt, und da Kant gezeigt hat, dass die apriorischen Anschauungs- wie Denkformen unseres In- tellekts lediglich zum Zweck der Erfahrung dasind, wahrend sie auf transcendente Ideen angewandt nur dialektischen Scliein hervorrufen, diese Yernunftideen iiberhaupt keinen konstitutiven, sondern nur einen regu- lativen Gebrauch zulassen, so ist nach ihm Metaphysik die Wissenschaft aller reinen Yernunftprincipien aus blossen Begriffen in Bezug auf das theoretische Erkennen aller Dinge, also kurz, die Wissenschaft von den aprio- ristischen Erkenntnissformen aller Dinge**) Das Resultat der Kantischen Philosophic also ist: Zu unserer sinnlichen Erkenntniss gehort ein zweifaches einmal die Welt der Dinge, dann unser intellektueller Faktor, der sich trennt in die beiden Gebiete der Sinn- lichkeit und des Verstandes; beide enthalten aprioristische Elemente, die Sinnlichkeit die Anscliauungsformen von Raum und Zeit, der Verstand die Kategorien und Grund- satze als Funktionen des Intellekts. Die Materie aller unserer Erkenntniss wird uns gegeben durch die subjek- tiven Empfindungsqualitaten, hervorgerufen durch die Affektionen unserer Sinne durch die Dinge. Diese werden nun durch die immanenten seelischen Funktionen zu Er- scheinungsobjekten vereinigt und durch die allgemeinen Gesetze (Kategorien und Grundsatze), die der Verstand der Erscheinungswelt vorschreibt, zu dem organischen Ganzen einer streng notwendigen Erfahrungswelt ver¬ einigt, wahrend die intelligible Welt, die Welt der Dinge an sich, uns total unbekannt bleibt. — - *) Kr. d. R. V. ed Hartenstein, Einleitung III. p. 40 ff. **) Kr. d. R. V. ed. Hartenstein p. 596. 2 * 20 II. Sehen wir nun zu, wie weit die Resultate der Kan- tischen Philosophie von der heutigen Naturwissenschaft, Pliysik und Physiologie bestatigt oder widerlegt werden. Von vornherein halten wir an der unleugbaren Thatsache fest, dass alle unsere Erkenntniss das Resultat sei aus zwei Faktoren, der Objektivitat und der Subjektivitat, die sicli fortwahrend einander bedingen und voraussetzen, sodass, wenn einer von beiden liinweggenommen wird, sofort das ganze empirisclie Anschauungsbild schwindet. Helmholtz sagt in seiner physiologischen Optik:*) „Unsere Anschauungen und Vorstellungen sind Wirkungen, welcbe die angeschauten und vorgestellten Objekte auf unser Nervensystem und unser Bewusstsein hervorgebracht liaben. Jede Wirkung hangt ilirer Natur nacb ab ganz notwendig sowolil von der Natur des Wirkenden, als von der desjenigen, auf welches gewirkt wird. Fine Vor- stellung verlangen, welcbe unverandert die Natur des Vorgestellten wieder gabe, also im absoluten Sinne wahr ware, wiirde heissen, eine Wirkung verlangen, welche vollkommen unabhangig ware von der Natur desjenigen Objekts, auf welches eingewirkt wird, was ein handgreif- licher Widerspruch ware. So sind also unsere mensch- lichen Vorstellungen, und so werden alle Vorstellungen irgend eines intelligenten Wesens, welches wir denken konnen, Bilder der Objekte sein, deren Art wesentlich mit abhangt von der Natur des vorstellenden Bewusst- seins, und von deren Figenthumlichkeiten mit bedingt ist.“ Die totale generelle Verschiedenheit und vollige Unvergleichbarkeit ferner zwischen den physischen Pro- cessen und den psychischen, welcbe Lotze in seiner medi- *) Helmholtz, pliysiolog. Optik III. p. 442 il. 21 cinischen Phychologie dargethan hat,*) notigt uns, den subjektiven Faktor noch niilier zu bestimmen und von dem geistigseelischen Process den total verschiedenen physischen Nervenprocess unserer Nervenapparate abzu- sondern, welcher mit den Faktoren der Aussenwelt in ununterbrochener Relation steliend, das geistige Prin- cip in uns anregt, unter sich wieder total unvergleichbare Empfindungen (bewusste Qualitiiten), Gefuhle der Lust und Unlust, und endlich Willensimpulse zu erzeugen, die mit den physischen Nervenprocessen nichts gemein haben. Zuriickschliessend also aus den Datis der Erfahrung, den Empfindungen, Gefiihlen, Willensimpulsen und der un- leugbaren Thatsache der Einheit des Bewusstseins bei allem VVeclisel der geistigen Elemente**) miissen wir als ein Postulat unseres Denkens neben der physisch mate- riellen Seite unseres Daseins, die zur Korperwelt gehort, und so gut wie die Objekte der Aussenwelt ein Phano- men unseres Bewusstseins ist, noch ein geistiges Prin- cip in uns annehmen, dessen Qualitiit uns zwar unbe- kannt, dem wir aber im Allgemeinen zunachst eine Er- regbarkeit von aussen und eine Selbstthatigkeit von innen zuschreiben miissen, das, angeregt von aussen aus sich bewusste Qualitiiten (Empfindungen), bewusste Zustande von Lust und Unlust (Gefuhle), bewusste Im¬ pulse des Wollens, die gegenseitig im innigsten Zusam- menhange stehen, erzeugt und hierdurch zunachst zum Bewusstsein vom Subjekt und endlich zur totalen Einheit des Bewusstseins gelangt. Die Faktoren unserer sinn- lichen Erkenntniss sind somit zunachst als metaphysischer Art unseres Weltbildes gewissermassen ein immaterielles geistiges Princip, eine Seele, mit der Fahigkelt, Empfin¬ dungen aus sich zu erzeugen und nach immanenten, in- tellektuellen Funktionen (Thatigkeitsweisen) dieselben zur Totalanschauung des Weltbildes zu gestalten; und *) Lotze, medicinisclie Psyckologie I. Cap. 2. 3. p. 66 -171. **) Lotze, ined. Psychol. I. C. 1. p. 9—66. 22 claim unabhangig von ihr pliysische, theils organische, pbysiologische, theils physikalische Processe, welclie letzteren in ununterbrochener Relation steliend die Seele zur Erzeugung cler Empfindungen und Anschauungen veranlassen; ahnlich wie Dr. Otto Liebmann in seinem kritisch ausserst scbarfen Buche: „Ueber den objektiven Anblick u von einem dreifachen Faktor des Anblicks, dem sensualen, intellektuellen und dem transcendenten spricht. Alle diese Faktoren der sinnlichen Erkenntniss sind ver- einigt in der objektiven Anschauung, unter der wir, um mit Helmholtz zu sprechen, *) die von sinnlichen Empfin¬ dungen begleitete Wahrnehmung verstehen. Die objec¬ tive Gesichtsanschauung soli somit die Grundlage fiir unsere weitere Entwicklung sein, und ibre Analyse soli uns zeigen, was auf Rechnung jedes der einzelnen Fak¬ toren kommt. ' Damit eine solche zu Stande kommen lcbnne, sind zunacbst zwei Elemente erforderlicli, der aussere Licbt- reiz und ein Auge, auf welches derselbe wirkt: physika¬ lische und organische Ursachen. Ueber die physikali- schen Ursachen gibt uns die Physilc Aufschluss, liber die organischen die Physiologie. Erstere lelirt und zwar mit Hypothesen, die, wenn auch eine an die Gewissheit sich sehr annahernde, aher doch nur relative Wahrheit darhieten: Durch Schwingungen (Unclulationen) eines un- sichtbaren, ausserst feinen Stoffes, des Aethers, welche ihrer Grosse und Frequenz nach verschieden sind, pflanzt sicli das Licht durch den Weltenraum fort. Mittelst des Prismas nun erkennen wir, class das weisse Sonnenlicht, jenes unhekannte physische Agens, nicht einfach, sondern zusammengesetzt ist aus den Farhen des Spektrums: Rot, Orange, Gelb, Griin, Blau, Violett, so dass also die verschiedenen Farben nichts als modificiertes Licht sind. Die korperlichen Ohjekte, als Systeme von Atomen, die *) Helmholtz, physiolog. Optik HI. p. 435. 23 sicli gegenseitig festhalten unci der allgemeinen Gravi¬ tation unterworfen sind, lassen nun entwecler die ein- zelnen Lichtstrahlen hindurch, sind clurchsichtig, oder lialten sie auf, oder werfen sie encllich zuriick, und dann liat der Korper die Farbe der jedesmal zuriickgeworfenen Lichtstrahlen, die ihm dann als permanente Eigenschaf- ten zukommen*) Nun weist ferner die Physik nach (cf. Helmholtz, physiologische Optik, Abschnitt II), class aucli nicht alle Aetherwellen lichterzeugend sind, sondern class die grossten von ihnen wesentlich Warmeempfindun- gen hervorrufen, wahrencl nur die Aetherschwingungen von mittlerer Grosse Lichtempfindungen hervorrufen, und unter diesen von mittlerer Grosse wieder nur die grossten die Empfindung rot, andere violett, noch andere grim. Hier- aus folgt also, dass die Farben, sowie die Lichtgrade, Hellig- keit und Dunkelheit, nicht etwas amObjekte selbstHaften- des sind, sondern dass sie modificiertes Licht sind, her- vorgerufen clurch die vom Object reflektierten Lichtstrah¬ len, die unser Auge afficieren und uns den Gegenstand als verschiedenfarbig erscheinen lassen, wahrend sie uns fiber die objektive Beschaffenheit des vom Liclite ge- troffnen Korpers gar nichts aussagen. Unsere Gesichts- wahrnehmungen enthalten demgemass auch nichts weiter, als in verschiedenen Formen gestaltete, verschiedene Licht-Farbenempfindungen. Damit jedoch dieses verschiedene Licht zu verschie- denen Farbenempfindungen wircl, dazu gehdrt ein Auge, auf welches dasselbe einwirkt, der organische Faktor der Sinnlichkeit. Fiinf von einander verschiedene Sinnes- werkzeuge oder Apparate besitzt unser Korper, die der Seele durch physische Nervenprocesse Erregungen zu- fiihren und sie so veranlassen, fiinf von einander generell verschiedene Qualitaten oder Bewusstseinszustande zu erzeugen. Jeder dieser Nervenapparate fiihrt der Seele *) Liebmann, objektiver Anblick § 5. p. 43 ff., cf. p. 56. 24 nur eigenartige Erregungen zu und notigt sie so, jedes- mal nur Empfindungen einer ganz eigenartigen, bestimm- ten Klasse zu erzeugen, das Auge also nur immer zu Lichtempfindungen, das Ohr zu Tonempfindungen.*) Das /Uige, ein soldier physischer Nervenapparat, wird von Helmholtz in seiner pliysiologischen Optik und in der Abhandlung „Neuere Fortsckritte in der Theorie des Seliens“ (cf. Liebmann) mit einer camera obscura ver- glichen, das die von einem Korper zuriickgeworfenen Licbtstrablen empfangt; durch sie veranlasst wird auf der Retina ein Bildchen gezeicbnet, das im Yergleicb zum aussern Objekte in umgekehrter Stellung sich be¬ findet. Alle Licbtstrablen, die von aussen eintreten, miissen, bevor sie zur Retina gelangen, die durchsichtige Hornbaut, die wassrige Feucbtigkeit, die Linse, den Glas- korper durcbdringen und werden bier zu verscliiedenen Malen gebrocben. Hinter dem .Glaskorper befindet sidi die Retina, in welche vom Gebirn ber der Sebnerv ein- tritt, und zwar so, dass die unmittelbaren Yerzweigungen des Sebnerven auf der Retina den dunklen, fiir den Licbtreiz unempfindliclien Fleck bilden. Grade der Pu- pille gegeniiber befindet sicb ferner der andere kleine gelbe Fleck (macula lutea), welcher die fur den Licht- reiz empfindlicbste Stelle der Retina, die Stelle des deut- licbsten Sebens ist. Die oberste Scbicbt der Retina, auf welche das Bildchen fiillt, und besonders die Stelle des deutlicbsten Sebens, enthiilt zalillose feine Endorgane, die Stabchen und Zap fen, die sicb dem Licht- und Far- benreize entgegenstrecken. Sie enden in einzelnen Seh- nervenfasern, die nun den empfangenen Reiz und Ein- druck isoliert zum Gebirn fortpflanzen. Gemass der Young - Helmboltz’scben Ansicbt gibt es nun dreierlei Arten von Stabchen und Sebnervenfasern. Reizung der *) Liebmann, objektiver Anbl. § 3. p. 30 if., cf. Johannes Mul¬ ler, vergleichende Physiologie des Gesiclitssinnes. Helmholtz, phy- siolog. Optik § 17. Lotze, med. Psych. § 17. 25 ersten erregt die Empfindung rot, Reizung der zweiten die des griinen, Reizung der dritten die Empfindung des violetten. Ausserdem muss angenommen werden, dass jede Spektralfarbe alle drei Arten von Fasern erregt, aber die einen schwach, die andern starl^ ; ; gleich starke Er- regung aller drei Faserarten gibt die Empfindung des weissen.*) „Ist nun also ein ganzes optisclies Bild auf der Netzhaut entworfen, sagt Helmholtz in der Ab- handlung „Neuere Fortschritte etc. p. 10 ff., so wird je- der Zapfen der Netzhaut nur von dem Liclite getroffen, welches ein entsprechendes kleines Flachenelement des Gesiclitsfeldes aussendet; die aus dem Zapfen entsprin- gende Nervenfaser wird also nur von dem Lichte dieses einen entsprechenden Flachenelementes in Erregung ge- setzt und empfindet nur dieses, wahrend durcli das Licht benachbarter Punkte des Gesiclitsfeldes andere Nerven- fasern erregt werden. Auf diese Weise geschieht es also, dass das Liclit jedes einzelnen hellen Punktes des Ge- sicbtsfeldes f(ir sich eine besondere Empfindung erregt, dass die gleiche oder verscbiedene Helligkeit verschie- dener Punkte des Gesichtsfeldes in der Empfindung un- terschieden und auseinander gebalten werden kann und dass diese verscliiedenen Eindriicke alle geson- dertzum Bewusstsein gelangen konnen.“ Ein iiusserer Lichtreiz also wirkt auf das Auge; dadurch werden zunachst in den Stabchen und Zapfen der Retina Veranderungen hervorgerufen, und diese werden dann von den Sehnervenfasern einzeln bis zum Centralorgan, dem Gebirn, geleitet. Erst indem diese Erregung der Seh¬ nervenfasern nun die Seele zur Reaktion notigt, wird in ihr durcli diese Stimulation die entsprechende Empfin¬ dung wach gerufen. Lotze bescbreibt diesen Yorgang *) Liebmann, objektiver Anblick § 5. p. 57 ff., cf. Helmholtz, pliysiolog. Optik § 20. 26 sehr genau.*) Er nimmt seeks verschiedene Stufen oder Glieder an, welche von einander verschiedene Bedingun- gen fur die Sinnesempfindung sind: das erste Glied der Kette ist der aussere mechanische, physische Reiz, ein physischer Bewegungsprocess, der ausserhalb der Gren- zen des animalischen Organismus auf ein fur ihn em- pfangliches und eigens disponiertes Sinnesorgan wirkt. Hierauf folgt als zweites Glied eine physische Veran- derung in dem Zustande oder der Thatigkeit des Sinnes- organs, auf welches gewirkt wird. Die Wirkung des aussern Reizes erlangt nun 3) ein empfangliches Nerven- ende und erregt in ilim eine Thatigkeit, den empfindungs- erzeugenden Nervenprocess. 4) Dieser Nervenprocess wird weiter durch die ganze Lange des Nerven mit einer gewissen messbar'en Geschwindigkeit zum Gehirn hinge- leitet. 5) Dort angelangt, irritiert dieser Nervenprocess auf eine uns total unbekannte Weise das geistige Prin- cip, die Seele, und ruft nach Lotze einen vielleicht un- bewussten Seelenzustand liervor, dem endlich als 6. Glied das bewusste Empfinden einer einfachen Sinnesqualitiit, Farbe, Ton, Geruch, Geschmack folgt und vom Subjekte percipirt wird. Diese physischen Nervenprocesse wer- den von Dubois-Reymond in seinem Buche „Untersuchun- gen iiber thierische Elektricitat “ als galvanische Stro- mungen bezeichnet, die fortwahrend die Sinnesnerven, aucli im unthatigen Zustande, durcheilen. So wenig wie sie mit den physischen Processen verglichen, geschweige identisch gesetzt werden konnen, so deutlich ist dock aucli, dass jedes Mai von dem physischen Nervenprocesse aus zu dem psychisclien Processe der Empfindung, ein bis jetzt nock unausgefiillter Sprung stattfindet. Aehnliche Vorgiinge natiirlicli, wie wir sie liier beim optischen Ap- parate, dem Auge, kennen gelernt liaben, finden bei den *) Lotze, med. Psychol. II, § 16. p. 173—181., cf. Liebmann. objektiver Anblick p. 28 ff. 27 iibrigen Sinnesnervenapparaten statt, woraus mit Siclier- heit hervorgeht, dass alle unsere Empfindungen, Farben, Tone etc. nur subjektiv zunachst und isolirt von der Seele hervorgerufen werden. Das Wichtigste hieruber hat Krause bereits, speciell auch iiber die vier anderen Sinne, in seiner „Lehre von demErkennen und der Er- kenntniss“ ed. von H. K. v. Leonhardi unter dem Ab- scbnitt „Aeusserlich-sinnliche Erkenntniss p. 263—323 dargethan. Yon hieraus ergeben sich mit zwingender Notwen- digkeit die weiteren Konsequenzen: So weit der Antheil der physisch-organischen Processe bei der Bildung der Gesiclitswahrnehmung; was nun folgt, gehort auf Rech- nung des intellektuellen, seelischen Faktors. Erfolgte namlich nichts weiter, so wiirden wir uns immer nur einzelner isolierter, augenblicklicher Empfindungen be- . wusst werden, und zwar stets nur innerhalb unserer selbst. Wie entsteht nun aus diesen isolierten Farben- empfindungen innerhalb unserer ein objektives Bild ausserhalb unserer, das wir anschauen, d. h. wie kom- men unsere Empfindungen in uns ausser uns hinaus und werden zu gestalteten Objektsbildern ausserhalb unserer? Wie entspringt aus diesen einzelnen sinnlichen Anschau- ungen ferner ein Erfahrungsbild, und wie vermogen wir uns mit diesen Erfahrungsbildern in der objektiven Welt zurecht zu finden? Der aussere Reiz sammt der Sinnlich- keit hatte uns immer einzelne isolierte Empfindungen ver- ursacht; es muss also hier noch ein Etwas hinzutreten, und dieses wird die spontane Thatigkeit der Seele sein, der intellektuelle Faktor, wie es Liebmann nennt.*) Zu - nachst ist es eine unleugbare Thatsache, dass wir beim Sehen nicht einzelne Empfindungen sehen, sondern Bil- der von Objekten, bestehend aus so und so viel einzelnen Farben — also Empfindungsqualitaten. *) Liebmann, objektiver Anblick II, § 6—8. 28 1st es nun wahrscheinlich, class in einem einzigen Zeitpunkte die Seele immer nur eineQualitat auffassenkann, class sie mitliin, um ein ganzes Bilcl, bestehend aus vielen Qualitaten, aufzufassen, Zeit brauclien unci das gauze Bild durchlaufen miissen wird, so folgt daraus, class beim Sehen von cler Seele die Summe der einzelnen (gleicli- zeitigen)Netzhautempfindungen in das Bild eines einzelnen anschaulichen Objekts vereinigt, und so zum Bewusst- sein gebracht wird. Diese Synthesis des Manigfaltigen gegebener gleichzeitiger Eindriicke vollzielit die Seele fortwahrend unbewusst. Docli niclit die gleiclizeitigen Sinneseindrucke werden beim Anschauen in einzelne Ge- sammtvorstellungen vereinigt, sondern die augenblicklicli gegenwartigen Anscliauungen werden auch mit vergangenen, die gegenwartig niclit melir empfunden werclen, vereinigt unci verkniipft. Dies ist aber nur dadurch moglich, class die empfundenen Qualitaten und Anschauungsbilder beim Aufhoren des Reizes unci cler Empfindung niclit verloren gelien, sonclern fortdauern und fort und fort reproduciert werden, um mit den folgenden Bildern in das Gemein- schaftliche eines einzigen vereinigt werden zu kbnnen. Neben cler Synthesis cles Manigfaltigen miissen wir also die Fahigkeit des Aufbewahrens und der Reprocluktion als^eine fur die Entstehung des Anschauungs- und Er- fahrungsbildes unumgangliche zweite Seelenfunktion an- erkennen, wenn anders unsere Erkenntniss nicht eine Augenblickserkenntniss der untheilbaren Gegenwart bleiben soil. Doch wir haben diese Eindriicke und Anscliauungen nicht immer alle gleichzeitig im Bewusstsein; ein ewiger Wechsel findet zwischen ihnen statt; wir sehen, class eine eben ins Bewusstsein eintretende Anschauung eine in cler Erinnerung aufbewahrte gleiche Vorstellung her- vorruft, diese wiedererweckt, und class die Seele diese beiden als identisch erkennt ocler im Gegentlieil als theilweise ocler ganz verschieclen. Wir erkennen hieraus einen dritten seelisclien Akt, den cler Recognition, auf 29 welchem ein grosser Theil unserer Urtheile beruht und die Moglichkeit der Orientirung in der objektiv vorhan- denen Welt. Endlich, wenn wir sehen, wie von zwei total ungleichartigen Vorstellungen im Falle der Wiederer- weckung der einen auch die andere mit ins Bewusstsein gezogen wird, so miissen wir, hierdurch veranlasst, nocb eine vierte reale Funktion der Seele anerkennen, die der Association, vermoge deren ungleichartige Empfindungs- bilder mit einander vereinigt, combiniert werden, und im Falle der Wiedererweckung auch mit einander wieder- erweckt werden. Diese vier mit einander in Verbindung stehenden Funktionen unseres seelisclien Erkenntnissver- mdgens, von Aussen her angeregt und bestimmt, bewir- ken nun, dass wir nicht einzelne Empfindungen wahr- nelimen, sondern Empfindungskomplexe, Anschauungs- bilder von Objekten in bestimmten Gestalten, unter einander in Verbindung gesetzt und zu dem Totalbilde einer empirisch konkreten Welt verwoben. Dass diesen vier realen Funktionen der Seele zunachst, damit Einzel- empfindungen und Empfindungscomplexe (Bilder) zu Stande kommen konnen, ein Hingerichtetsein, Aufmerk- samkeit der Seele auf den Reiz vorangehen miisse, ist wohl von selbst einleuchtend, da uns die. tagliche Er- fahrung lehrt, dass wir nur den kleinsten Theil von dem uns gleichzeitig Erregenden im Bewusstsein erfassen, wahrend der bei weitem grosste Theil uns entgeht. Bis jetzt jedoch sind alle diese Bilder nur noch subjektive Zustande unserer empfindenden Seele. Wir wiirden zu dem Bewusstsein einer von uns getrennten Welt, eines mundus praeter nos niemals kommen, wenn nicht die Seele ebenso aprioristisch, wie die 1 vorher be- sprochenen Funktionen, die Funktionen der Kausalitiit und Substantialitiit vollzoge. Was die Seele zunachst empfindet, sind ja nur ihre eignen innern Zustande. Dabei wiirde es aber immer verbleiben, wiirde sie nicht veranlasst, vermoge der Funktion der Ivausalitat auf eine von ihr verschiedene Ursache der Empfindung zu scliliessen. 30 Nur dadurcli allein kommt die Seele zu dem Bewusst- sein einer Welt neben ihr, die unabhangig von ihr be- steht, und von der sie sicli als ein eignes geistiges Wesen getrennt weiss. Ferner ist es otfenbar unserer Seele niclit anders mdglich, irgend welche Qualitat als realiter, wirklich vorhanden aufzufassen, als dadurcli allein, dass sie sie irgend welchem subsistierenden Etwas inharieren lasst, d. h. durch Anwendung der Funktion der Substantialitat auf ein von ihr getrenntes Etwas schliesst, dem diese Qualitiiten inharieren. So erst be- stehen alle diese subjektiven Qualitiiten, rot, gelb, suss, sauer, warm an einern Etwas, einem von dem Subjekt getrennten Objekt, und nun erst lieisst es: Ich sehe et¬ was Rotes, Gelbes, ich schmecke etwas Susses, wahrend es vorher heissen musste: Ich sehe rot, gelb, ich schmecke suss, sauer etc. Wir sehen also; dass alle diese Seelenfunktionen die alleinige Bedingung sind fur die Moglichkeit einer von der Seele und dem Subjekt getrennten, objektiven, empirischen Weltauffassung. *) Yor allem bestatigt dies Helmholtz in 'seinen Schriften. Mit unzweifelhafter Ge- wissheit spricht er von notwendigen psychischen Thatig- keiten, vermoge deren einzig und allein objektive An- schauungen und Vorstellungen entstelien konnen; er nennt sie unbewusste Thatigkeiten und vergleiclit sie mit unbewussten Analogieschliissen. „Die psychischen Thatigkeiten,“ sagt er, **) „durcli welche wir zu dem Ur- theil kommen, dass ein bestimmtes Objekt von bestimm- ter Beschaffenheit an einem bestimmten Orte ausser uns vorhanden sei, sind im allgemeinen nicht bewusste Tha¬ tigkeiten, s'ondern unbewusste. Sie sind in ihrem Resul- tate einem Schlusse gleich, in sofern wir aus der beob- *) Liebmann, objektiver Anblick § 8 p. 88—120. cf. Krause, Lehre von dem Erkennen und der Erkenntniss p. 262—323 und spec. p. 282—284 und Ruete, iiber die Existenz der Seele p. 32 — 90. **) Helmholtz, physiol. Opt. III. § 26 p. 430, cf. p. 427 tf. 448 ff. „Neuere Fortschritte in der Theorie des Sehens“ p. 77. 31 achteten Wirkung auf unsere Sinne die Vorstellung von einer Ursache dieser Wirkung gewinnen, wahrend wir in der That direkt dock immer nur die Nervenerregun- gen, also die Wirkungen wahrnehmen konnen, niemals die ausseren Objekte. Indessen mag es erlaubt sein, die psychischen Akte der gewohnlichen Wahrnehmung als unbewusste Scbliisse zu bezeichnen. Jene unbewuss- ten Analogieschlusse treten aber ferner, eben weil sie nicbt Akte des freien bewussten Denkens sind, mit zwingender Notwendigkeit auf und ihre Wirkung kann nicht durch Einsicht in den Zusammenhang der Saclie aufgeboben werden.“ Ueber das Kausalgesetz als einer aprioristischen Fu'nktion der Seele, sagt er*): „Besinnen wir uns fiber den Grund des Verfahrens (von Qualitaten auf Objekte zu schliessen) so ist es klar, dass wir aus der Welt un- serer Empfindungen zu der Vorstellung von einer Aussen- welt niemals kommen wiirden, als durch einen Schluss von der wechselnden Empfindung auf aussere Objekte als die Ursachen dieses Wechsels: wenn wir auch, nach- dem die Vorstellung der ausseren Objekte einmal gebil- det ist, nicbt mehr beachten, wie wir zu dieser Vor¬ stellung gekommen sind, besonders darum, weil der Schluss so selbstverstandlich erscheint, dass wir uns seiner als eines neuen Resultates gar nicht bewusst werden. Demgemass miissen wir das Gesetz der Kau- salitat, vermoge dessen wir von der Wirkung auf die Ursache schliessen, als ein aller Erfahrung vorausgehen- des Gesetz unseres Denkens anerkennen. Wir konnen zu keiner Erfahrung von Naturobjekten kommen, ohne das Gesetz der Kausalitat schon in uns wirkend zu haben, es kann also auch nicht erst aus den Erfahrun- gen, die wir an Naturobjekten gemacht haben, abge- leitet sein.“ *) Helmholtz, physiolog. Optik. III. § 26 p. 453. cf. p. 450, 452, 456. 32 Durch die bislier erwiesenen Seelenfunktionen sind wir aber erst genbtigt und befliliigt, eine von uns ge- trennte Welt, eine Welt praeter nos anzuerkennen, noch niclit eine Welt extra nos. In dem Gange unserer Er- kenntnisstlieorie waren wir ja so weit gekommen, dass wir sahen, die Seele stellt einzelne subjektive Qualitiiten vor, verbindet diese zu Anschauungen und Yorstellungen durch spontane Funktionen, kommt vermoge der Denk- funktionen der Kausalitat und Substantiality endlich zur Vorstellung einer neben ihr bestehenden materiellen Welt voll Objekten mit den herrlichsten Eigenscliaften. Dock wo befindet sich diese Welt? Ausserhalb im Raume ist die gewohnliche Ansicht. Wie kommt nun aber die Seele zu dieser Raumanschauung, da sie sich dock bloss subjektiver Qualitaten und Bilder bewusst ist, die in uns sind? Helmholtz sagt*): die Entscheidung iiber diese Fundamentalfrage ist einzig zu suclien auf dem Gebiete der Lelne von der Tiefenwahrnehmung des Gesichtsfel- des und vom binocularen Sehend. h. mit dieser Frage nach der Raumanschauung hangen innig zusam- men die andern Fragen: Wie konnen wir denn die Ob- jekte aufrecht sehen, da dock die Netzhautbilder umge- kehrt sind? Dann: Wie konnen wir das fixierte Objekt einfach sehen, da uns dock von ihm zwei Netzhautbild- chen gegeben sind, mithin doppelt empfunden wird? Endlich: Wie konnen wir nach der dritten raumlichen Dimension sehen und zwar sowohl kdrperlicli, plastische stereometrische Objekte, als aucli nahere und entferntere, oh wold die Netzhautbilder flachenhaft sind?**) Da wir beim Sehen die Objekte ausserhalb unserer sehen, wah- rend hingegen die Gesichtsempfindungen nur in uns selbst sind, k so folgt mit zwingender Notwendigkeit, dass eine Uebertragung der Empfindungen nach Aussen kin von *) Neuere Fortschritte i. d. Th. d. S. p. 55 If. **) Liebmann, objektiver Anblick ,§ 7. p. 6b—88. Lotxe, me- dicin. Psych. § 28—34. 33 cler Seele stattfindet, dass sie alle ihre eigenen Empfin- dungen und Empfindungsbilder nach aussen hin schaut und sicli dann erst des vollstandigen Anschauungsbildes bewusst wird. Eben weil dieser Akt der Translokation so schnell und von uns unbemerkt vor sicli gebt, kommen wir auch so schwer zum Bewusstsein davon, dass das, was wir ausserhalb sehen, nur die von der Seele pro- jicierten eigenen Empfindungen seien. Auf diese Weise wird ein dem Retinabildclien nach Anordnung und Gruppierung der empfundenen Qualitaten geometrisch ahnlicher Gegenstand nacli aussen gesetzt. Wie kommen wir nun aber dazu, den Gegenstand, trotzdem* dass das Netzliautbildchen verkehrt steht, doch aufrecht zu sehen? Helmholtz sagt*): Wenn auch die Stellen unseres Kor- pers, durch welche die Empfindungen uns reizen, ver- schieden sind, so folgt daraus noch nicht, dass wir das Objekt der Empfindung, was die Empfindung hervorruft, uns entsprechend raumlich getrennt denken miissen" Alle unsere Empfindungen, selbst die von raumlich aus- gedelmten Objekten werden in der Seele ja in intensive Zustande verandert und konnen nicht raumlich ausge- breitet zum Bewusstsein gelangen. „Was ist es nun, was noch hinzukommt zu der raumlichen Trennung der empfundenen Nerven, und in diesen Fallen die ent- sprechende raumliche Trennung in der Anschauung her¬ vorruft ?“ Lotze hat hierfiir die ausserst sinnreiche Lehre von den Lokalzeichen aufgestellt**), nach welcher die Seele zugleich mit der Qualitiit und Intensitat der Em¬ pfindung auch ein Gefiihl von der getroffenen Korper- stelle erhalte, also hier von der getroffenen Stelle der Netzhaut, die gereizt worden ist. Vermoge dieser Lo¬ kalzeichen allein wird es der Seele moglicli, bestimmte Empfindungen an bestimmte Stellen zu projicieren und so cine Anschauung von bestimmter Form und Gestalt *) Neuere Fortschritte in d. Th. d. Sehens p. 53. **) Lotze, med. Psychol. § 28—30. 3 34 hervorzubringen. Nur was auf die Seele einen Reiz aus- iibt, kajin von ilir empfunden werden; liiitte sie also niclit ein Gefiilil von einer bestimmten ortlichen Stelle der Empfindung, so konnte sie aucli niclit diese Empfin- dung an eine bestiminte Stelle im Raume projicieren. Die Seele projiciert nun in der gradlinigen Riclitung der einfallenden Strablen nach aussen, und dadurcli kommt das Bildchen, was auf der Netzhaut verkehrt ist, ausser- halb des Sehenden wieder aufrecht zu stehen, oder wie Liebmann sagt: „Das Aufrechtstehen entstelit dadurch, dass jeder belle Punkt auf der Netzhaut durch den Ivreuzungspunkt der Richtungslinien gradlinig nach aussen verlegt wird.*) Wir haben aber zwei Netzhautbildchen und selien docli nur ein Bild. Das Netzhautbildchen ist flachenhaft und docli sehen wir drei Dimensionen, Lange, Breite, Tiefe. Wie ist es also moglich, dass zwei perspektivische und flachenhafte Netzhautbilder von zwei Dimensionen sicli vereinigen in ein korperliches Anschauungsbild von drei Dimensionen? Helmholtz weist nach, dass die beiden Netzhautbilder von korperlichen Objekten verschieden, wahrend sie von flachenhaften identisch' sind. Die erstere Thatsaclie beweist vollstan- dig die Erfindung des Stereoskops. Ebenso sicher weist er nach, dass die Eindriicke und Empfindungen der beiden Netzhautbilder in der Empfindung niclit in einen ununterscheidbaren Eindruck verschmelzen, sondern ge- trennt bleiben miissen. **) Wenn es also feststeht, dass von beiden Augen her gleiclizeitig zwei unterscheidbare Eindriicke unversclimolzen empfunden werden, und dass ihre Verschmelzung zu dem einfachen Anschauungsbilde der korperlichen Welt niclit durch einen vorgebildeten Mechanismus geschehen kann, so muss es durch einen Akt der Seele geschehen, und dieser ist: dass beide *) Objektiver Anblick p. 74. Helmholtz, neuere Fortschritte i. d. Th. d. Seliens p. 67 tf. 35 Netzhautbildchen an einen unci denselben Ort im Aussen- raum projiciert, nach Aussen versetzt werden. Sind nun aber die Netzhautbildchen nicht identisch, sondern verscbieden, so konnen sie aucb beim Hinaus- , versetzen nicht congruent sicli decken, sondern miissen bintereinander in verschiedenen Ebenen zu stehen kommen, und sorait sind wir gezwungen, die dritte Di¬ mension, aucb die Tiefe wahrzunehmen, und somit Kor- per von clreifacber Dimension.* *) Aus allem diesen konnen wir wohl mit Sicherheit schliessen, class es eine wesentlicbe Funktion unserer Seele sei, die Empfindungs- und Anschauungsbilcler aus sich liinaus zu versetzen, und zwar wegen der Verschiedenlieit der Bilder in einer dreifachen Dimension, Lange, Breite, Tiefe anzuschauen, class also die Raumanscbauung als eine Funktion unserer Seele subjektiv ist. Hierzu nebme man nocb, class zu- naclist die Grundmaasse aller unserer Raummessungen und Raumbestimmungen auf gesellschaftlicber Ueberein- kunft beruben, ferner, class alle unsere Zeitanschauungen, das Frtiber und Spater, die einzelnen Zeitabschnitte und Zeiteintheilungen erst allmahlich entstanden und zu ver- schieclenen Zeiten verschieden waren. Lotze sagt hierzu: „Es war indessen auch keineswegs unsere Absicht, aus jenen Lokalzeichen die Fabigkeit der Seele, Raum iiber- haupt anzuschauen, ocler ilire Notigung abzuleiten, das Empfundene in cliese Anscbauung aufzunehmen. Wir setzen vielmehr voraus, dass es in der Natur der Seele Motive gibt, um cleren willen sie einer raumlichen Anschauungsform nicht nur fahig ist, sondern auch zu ihrer Anwendung auf den Inhalt der Empfindungen gedrangt wird; und weder jene Fabigkeit, noch diese Notigung suchten wir aus den vorausgesetzten psycho- logischen Verhaltnissen jener Lokalzeichen zu erklaren,**)“ *) Liebinann, objektiver Anblick p. 78 ff. *) Medicin. Psychol. § 28 p. 334. cf. Liebmann, objektiver An¬ blick, p. 105 ff. 3 * 36 ferner p. 335: „Fiir alle unsere psychologisclien Betrach- tungen reiclit die Vorstellung hin, dass die Rauman- schauung ein der Seele urspriinglich und a priori an- gehoriges Besitztlmra sei, das durch aussere Eindriicke niclit erzeugt, sondern nur zur bestimniten Anwendung proypciert wird. Wir ineinen damit niclit, dass der un- endliche nach drei Richtungen ausgedelmte Raum von selbst ein immerwahrender Gegenstand unseres Bewusst- seins sei, den wir etwa seit unserer Geburt in Gedanken anstierten, begierig ihn mit Bildern zu filllen. Wir ineinen nur, dass die urspriingliche Natur unseres Geistes uns dazu treibt, unsere Empfindungselemente in raumlichen Lagen zu ordnen, und dass eine spatere Reflexion auf die unendliche Anzahl solcher Anordnungen, die wir unbewusst vorgenommen haben, uns aucli die mehr oder minder lebhafte Gesammtanschauung des Alles umfassenden, unendlichen Raums zum Bewusstsein bringt.“ Der physisch-psychische Vorgang bei der Ge- sichtsanschauung ist also folgender: Durch die physischen Vorgange ausserhalb unser, die vom Korper reftektierten Lichtstrahlen, die in unsere Augen eindringen, wird auf den Stabchen und Zapfen der Retina ein Bildchen in umgekehrter Stellung gezeiclmet. Die Erregungen der einzelnen Stabchen und Zapfen nun pflanzen sick isoliert durch die Nervenfasern zum Gehirn fort stimulieren dort die Seele und rufen in ihr einzelne Empfindungen (in¬ tensive Zustande) hervor. Zugleich mit der Empfindung hat die Seele (nach der Lotzesclien Hypothese von den Lokalzeichen der Empfindung) ein Bewusstsein von der erregten Retinastelle. Gemiiss dem nun werden die ein¬ zelnen Empfindungen durch die seelischen Funktionen der Synthesis und Reproduktion in das Bild eines Ein- zelobjektes vereinigt und durch die Raumfunktion als ein dem Retinabildchen nach bestimmter Anordnung und Gruppierung der empfundenen Qualitaten geometrisch ahnlicher Gegenstand nach Aussen in aufrechter Stel¬ lung versetzt; und zwar, weil die Bildchen beider Re- 37 tinen, unvereinigt und nicht congruent, als ein Objekt von dreifacher Dimension, Lange, Breite, Tiefe ange- schaut. Vermoge der Funktionen der Causalitat und Substantiality endlich kommt sie zum Bewusstsein dieses von ihr getrennten Etwas, das von der Sprache mit Namen belegt, nun als ein objektiver Gegenstand vor ibr stelit, von dem sie sich bewusst ist, dass er der Trager und Erzeuger aller der Eigenschaften ist, die in dem Begriffe dieses Objektes vereinigt sind. Gehen wir nun aber nocli einen Scbritt weiter, um zum vollstan digen Abschluss der Totalauffassung zu ge- langen. So viel steht durcb vorangehende Untersuchung test’, dass alle unsere Empfindungsqualitaten subjektiv sind, vermittelt durch den aussern Reiz und durcli die physische Fortptlanzung der dadurch bewirkten Nerven- erregungen zum Gehirn als dem Centralorgan und der Seele. Miissen wir somit zugesteben, dass die iiussere sinnliche Welt eine Erscheinungswelt sei, bedingt durcb den intellektuellen seeliscben Faktor, so durfen wir auch vor der letzten Konsequenz nicht zuriick scheuen, auch unsern Leib, der zur sinnlich materiellen Welt gehort, als ein Phanomen unserer Seele aufzufassen, der seinem eigentlichen Wesen nach, ebenso wie die ausse materielle Welt, uns total unbekannt bleibt. Existierte nur ein Menscb auf der Erde, so wiirde dieser von den innern Theilen seines animalischen Organismus keine Yorstel- lung bekommen; er wiirde sie niclit wahrnehmen, und sie existierten desbalb fur ihn nicht. Das Gehirn, sowie das Auge sind unter den Ilanden des Pbysiologen ebenso gut Objekte der Beobacbtung und Forschung, wie das Liclit und die Farben, der Aether, die Luft fiir den beo- bachtenden Naturforscher. Die Aussagen hieriiber be- ruhen ebenso gut auf subjektiven Empfindungsbildern wie die liber jeden beliebigen Gegenstand. Zerlegt in seine primitivsten Grundelemente liefert er uns dieselben Grundatome, die wir fur das Constitutive der materiellen Korperwelt erkennen miissen. Docb die Aussagen iiber 38 tliese letzten Grundelemente sind ja ebenfalls subjektiv mid beruhen auf subjektiver Affektion. Siclier aber muss ilinen ein Etwas zu Gninde liegen, dessen walire Qua- litiit uns nur unbekannt bleibt, von dem wir aber be- haupten miissen, dass es existiere, und von dessen Wirk- samkeit auf sicli selbst und auf uns unser empirisches Weltbild abhangen muss. Wollen wir nicht in den Ficbfeschen Idealismus zuriickfallen, nacli welcliem das Icli das Nicht-Ich setzt, so miissen wir diesem unbekann- ten Etwas ein von der Anerkennung des seelischen Prin- cips unabhangiges, absolutes Sein zueikennen. Die Geognosie, Palaontologie und Geologie lehren uns, dass es wahrscheinlich einmal Zeitpunkte gegeben bat, wo der Erdball von Menscben nocb nicht bewohnt war; oder denken wir uns einen Moment, wo alle Menscben mit einem Scblage auf der Erde vernichtet wiirden, was ist der Erfolg? Im ersten Falle existierte nocb kein mensclilickes Weltbild, im zweiten Falle wiirde das durcli den Zeitverlauf bervorgerufene objektive Erfabrungsbild von der Welt verschwinden, jedocli aber immer nur das durcli den seelischen Faktor mitbestimmte menscblicbe Pild. Zuriick bleibt stets das von dem seelischen Faktor unabhangige, in Wirksamkeit verharrende Etwas. Stebt es nun aber fest, was Helmholtz in seiner physiologischen Optik dartliut, dass nur korperliche Objekte verscbie- dene Bilder auf den Netzhauten hervorrufen, vermoge deren die Tiefenanschauung erzeugt wird, stebt es ferner fest, was Herbart so betont, dass wir in der Auffassung der empirischen Formen streng gebunden sind und nicht willkiirlich verfabren konnen, (denn sonst miissten grade so viele Formen in uns bereit liegen, als in wie vielen uns die Objektivitat erscheint), so werden wir jeden- falls diesem wirksamen unbekannten Etwas ein unbestimmtes, abstraktes Nebeneinander, Zu- gleich, Nacheinan der zugesteben miissen, durcli welches wir zu einem bestimmten raumlichen Nebeneinander, Zugleicb, Nacheinander unse- 39 rer Empfindungsquali taten gezwungen werden, dem wir uns nicht cntziehen konnen, sondern das uns aufgedrungen ist. *) Fassen wir nun das Ganze unserer Untersuchung zusaramen, so finden wir, dass im grossen Ganzen und im Wesentlichen die Kantische phychologisch-metaphy- sische Grundanscliauung von unserer lieutigen Physio-, logie und Naturwissenschaft bestatigt wird. Als Aus- gangspunkt unseres Weltbildes, als metaphysischen Ort desselben miissen wir unser seeliscbes Princip setzen, dessen Qualitat uns zwar unbekannt ist, dem wir aber, riick- schliessend aus den Thatsachen der Erfabrung, zunachst die Fahigkeit zusclireiben miissen, unter sieli wieder unvergleichbare Empfindungen, Gefuhle der Lust und Unlust, endlich Willensimpulse zu erzeugen. Ausgeriistet mit den immanenten Funktionen (Thatigkeiten) der Syn¬ thesis, Reproduktion, Recognition, Association, der Kau- salitat und Substantiality, endlich der Raum- und Zeit= funktion vermag sie, von Aussen angeregt, den gesamrn- ten Empfindungsstoff zu dem Totalbilde der empirischen Welt zusammenzufassen und durcb Denken, als einem seeliscben Akt der Verbindung von Begriffen, in welchem implicite die des Trennens, Vergleichens, Abstrabierens entbalten sind, dasselbe immer weiter auszubilden und zu immer umfassenderen und abstrakteren Begriffen zu gelangen. Angeregt zu diesen Empfindungen wird die Seele durcb organiscbe und physische Processe ausser- halb ihrer, fiber die uns Physiologie und Physik Auf- scbluss geben, die aber in ihrem letzten Endresultat ebenfalls nicbts als Phanomene unseres Bewusstseins sind, denen aber ein total unbekanntes Etwas als Trager derselben zu Grunde liegen muss. Und so werden wir wobl mit Helmboltzens Worten diesen Theil unserer Un- *) Cf. Krause, Lelire vom Erkennen und der Erkenntniss p. 360 if. 40 tersucliung bescliliessen konnen, class alle unsere Yor- stellungen nichts als Zeichen (Symbole, Biltler) sind fur die Objekte, deren Art nicht willkiirlicb gewahlt ist, sondern uns durch die Natur miserer Sinnenorgane und unseres Geistes aufgedrungen ist.*) III. Yon bier aus endlich wollen wir nun weiter selien, in [wiefern die Einwiirfe und Tadel, die ibm von den beiden auf ihn folgenden Mannern Hegel und Herbart gemacbt werden, berecbtigt oder nicht bereclitigt sind. Ilegels Einwiirfe, die er Kanten an verschiedenen Orten seiner Logik und Encykloplidie macbt, wurzeln zunachst in seiner total monistisclien Grundanschauung der Dinge gegenilber der dualistischen Kants. Im Wesentlichen gestaltete sich das Verbaltniss bei Kant so: Das unrnit- telbar Gewisse und Walire, das die absolute Notwen- digkeit und Allgemeinheit enthalt, ist der subjektive Er- kenntnissfaktor mit seinen Anschauungs- und Denkformen, den wir bei alien Menschen als Bedingung der Mog- liclikeit der Erfahrung voraussetzen miissen; wahrend hingegen die Materie der Erfahrung, das zweite Bestand- stiick in unserer Erkenntniss, ebenfalls nur subjektiv, beruhend auf Affektionen eines uns total unbekannten Dinges, uns iiber das wahre Wesen desselben nichts aussagt und mit den Denk- und Anschauungsformen nichts zu schaffen hat. Es trcten sich also zwei Ele- mente entgegen, das subjektive Erkenntnissvermogcn und die ebenso subjektive Empfindungsmaterie, her- riihrend von einem unbekannten „Dinge an sich. u Dieser Dualismus der Principien ist der niichste und hiirteste *) Helmholtz, psysiolog. Optik § 26 p. 446. 41 Angriffspunkt. Auf Schelling basierend gilt Hegeln die Identitat von Denken und Sein als die erste und festeste aller pliilosopliischen Erkenntniss. Das Denken, das bis dahin, weil an die Objektivitat gebunden, nur ein end- liches, bescliranktes war, muss von dieser seiner Schranke befreit und zum absoluten Denkprocess, losgelost von irgend welclier Subjektivitat, erlioben werden. Auf diese Weise, durch vollige Erhebung, Ueberwindung und Ver- neinung des objektiven Faktors, des Wirkenden bei der Wirkung im Empfindungs- und Denkprocess, gewinnt Hegel das einheitlich monistische Princip, die logische Idee, den Begriff, der die Grundlage alles Daseins, der Objektivitat wie Subjektivitat, in beiden, Natur wie Geist gleich wirksam ist, so dass die Denkfunktionen, die nacli Kant ja nur ein subjektiver Process, nacli Hegel ebenso Grundlage der Natur als Objektivitat sind, ja die ganze Natur nichts als eine korperliche Entfaltung, ein objek- tiver Wiederscliein dieser einer logischen Idee ist. Das Logische ist somit also das belebende Princip in aller Weltentwicklung, eben so wirksam in den einzelnen Subjek- ten, wenn vielleicht auch unbewusst, wie in der Natur als der Idee in ihrem Anderssein, wie im Geiste als der Idee in ihrem „Zuriickgekehrtsein in sich.“ Hierin gipfeln nun alle die Einwiirfe und wohl auch Tadel, die er Kanten in seiner Encyklopadie bei Gele- genheit einer kritischen Priifung seiner Philosophie macht.*) Dass sich in der Erkenntniss die Bestimmun- gen der Allgemeinheit und Notwendigkeit finden, sei nichts anderes, als ein vorausgesetztes Faktum, fiir welches die Kantische Philosophie nur eine andere Er- klarung als die gewohnliche gebe (§ 40); ein ahnlicher Einwurf, wie der, man konne das Erkenntnissvermogen nicht vor dem Erkennen untersuchen. Als oh nicht auch Hegel mit seinem subjektiven Erkenntnissvermogen das *) Hegel, gesammelte Werke B. VI, Encyclopaedic I. § 40 ff. 42 Erkennen untersucht hatte, unci niclit auch er nur eine andere Erklarung cles realen, thatsack lichen Bestandes gegeben hatte. Die Allgemeinlieit unci Notwendigkeit in unserer Erkenntniss ist niclit ein vorausgesetztes, sondern ein thatsachliches Eaktum in unserer Erkenntniss, fiir welches wir eine Erklarung zu fordern bereclitigt sind, zumal wir ja docli von unserem Standpunkte aus nichts anderes als Erklarungen der real objektiven Welt geben konnen, und kein Pbilosoph bis jetzt aucb etwas Anderes versucht bat. — Hierber gehdren ebenso die Einwiirfe, die er Kan- ten maclit iiber die Trennung der Erfahrungselemente in Form und Inhalt und die Nachweisung cler Denkbe- stimmungen als reinweg subjektiver. „Diese Kritik geht jedoch nicht auf clen Inhalt unci das bestimmte Verlialt- niss clieser Denkbestimmungen gegen einander selbst ein, sondern betrachtet sie nacb clem Gegensatz von Subjek- tivitat und Objektivitat iiberliaupt u (§ 41). Dieser Ge¬ gensatz von Subjektivitiit und Objektivitat existierte ja bei Hegel nicht, cla die eine logische Idee das Wirksame in beiden und ebenso subjektiv wie objektiv ist. Eerner die Tadel iiber das Kant’scbe „Ding an sich“, das bei Hegel, insofern eine reale Erkenntniss des absoluten Wesens gefordert und vorbanden ist, sicli gestaltet zu den einfacben realen Wesenheiten, die dargestellt werden in seiner Logik. „Das Ding an sich“ — und unter clem Dinge wird auch der Geist, Gott befasst — driickt den Gegenstand aus, insofern von Allem, was er fiir das Be- wusstsein ist, von alien Gefuhlsbestiminungen, wie von alien bestimmten Gedanken clesselben abstraliiert wird. Es ist leiclit zu seben, was iibrig bleibt, das vollige Ab- straktum, das ganz Deere, bestimmt nur noch als Jen- seits; clas Negative der Vorstellung, des Gefiihls, cles bestimmten Denkens u. s. f. (Encyclop. g 44). Die Feh- ler des Kantsclien „Dinges an sich“ liegen klar am Tage; sie .sind oft genug, und in neuester Zeit beson- ders von Liebmann in seinen Schriften „Kant und die 43 Epigonen“ und „Objektiver Anblick“ p. 155 dargethan worden. An letzterer Stelle kritisiert es Liebmann fol- gendermassen: Das „Ding an sicb u soil niclit im Raume (also nirgends), niclit in der Zeit (also nie), vorhanden sein, und dennoch existieren; ferner soli es weder Ding nocli Eigenschaft, weder Ursach noch Wirkung sein, da die Kategorien der Subsistenz und Kausalitat niclit dar- auf anwendbar sind; dennoch „afticiert es die Sinnlich- keit“, iibt also eine Wirkung aus; ferner darf es weder wirklich, noch moglich, noch notwendig, weder Eins noch Yieles, weder reell, noch Niclits sein, denn aucli die Ka¬ tegorien der Modalitat, Quantitat und Qualitat, sind ja nacli Kant nicht darauf anzuwenden. Dennoch ist es, wirkt es, afficiert es, muss es gedacht werden.“ Es ist also ein Unding. Um so weniger werden wir daher der Forderung Hegels beistimmen konnen, der § 46 sagt: „Es tritt fiir uns das Bediirfniss ein, diese Identitat, oder das „Ding an sich“ zu erkennen“ und nun diese Erkennt- niss findet in den durch den dialektisclien Process in Fluss gedachten Denkbestimmungen. Im Gegentheil liaben wir gesehen, wie die realen Faktoren unserer Er- kenntniss zwei sind, der seelische Process innerhalb des Subjekts, und die organisch-physischen Processe ausser- lialb desselben, durch welche veranlasst, die Seele zu der Empfindungsmaterie gereizt wird, die in das Ge- sammtbild der empirischen Welt vereinigt wird; wie aber grade fiir uns dadurch die Unmoglichkeit eintritt, das wahre Wesen der objektiven Welt zu erkennen, und wir uns mit einem unbekannten Etwas als Trager des Welt- ganzen begniigen miissen. Grade das Charakteristikum der Hegelschen Philosophic, die einseitige Hervorhebung des intellektuellen Faktors und die totale Vernachlassigung des realen Faktors ist auch ihr Fehler. Er lost das Denken vollig von dem Subjekt los und erhebt es zum absoluten, selbstandigen Process, so dass nicht ein Sub¬ jekt da ist, welches denkt, und nicht ein „Was u , welches gedacht wird. Es sind die Kantschen immanenten Denk- 44 bcstimmungen, welche durcli den von der Empiric ab- straliierten dialektischen Process des Werdens in Fluss gebraclit, die Grundlage des Weltganzen bilden. Grade hierin, weil Hegel den Widerspruch auf die Autoritat der Erfahrung bin (im Begriff des Werdens) sogar als hohere Vernunftwahrheit gelten lasst, wirft Herbart ihm Empirismus yor, und wohl mit Recht. Fur uns kann das Denken nur ein immanenter seelisclier Process des Verbindens, Trennens, Vergleichens, Abstra- hierens sein, ausgefiihrt yon einem Subjekt, das denkt, bedingt durch die Beschaffenheit eines Objektes, das da gedacht wird, so dass wir uns in unserem Denken nacli der Beschaffenheit des Gedacliten richten miissen. Nicht der intellektuelle Faktor allein ist das Constitutive der Weltanschauung, sondern in jedem Momente und in jedem Akte unseres Erkennens sind Subjekt und Objekt unzer- trennlich vereinigt und einander bedingend. Denken und Sein sind nicht identiscli, sondern es sind zwei von einander geschiedene, aber unzertrennlich zusani- mengehorige Faktoren unserer Erkenntniss, die in ihrem Verein erst das sinnlich empirische Anscliauungsbild ge- ben. So wie unser Intellekt sich in ewig feststehenden Gesetzen bewegt, so miissen wir auch fiir die objektive Erscheinungswelt unwandelbar feststehende Gesetze an- nehmen, in denen das Gesammte des Universums berulit. Die Hegelsclien Begritfsbestimmungen, die er uns in sei¬ ner objektiven Logik gibt, sind nichts als leere Abstrak- tionen ohne Inhalt, mit der Anforderung, die letzten Endprincipien des Daseins zu erschliessen. Hierin gipfelt dann auch, dass Hegel alles Fiihlen und Wollen nur be- trachtet als untergeordnete Stufen, als sich entwickelnde Formen des absoluten Denkens, die zu iiberwinden sind, eine Ansicht, der wir um so weniger beistimmen konnen, als wir von vorn herein genbtigt waren, ein seelisches Princip anzunehmen mit der Fahigkeit, Empfindungen, Zustande der Lust und Unlust und Willensimpulse zu erzeugen. 45 Innig mit dieser seiner monistischen Grundanscliau- ung der Dinge ferner verwaclisen sind dann die Einwiirfe, die er Kanten macht zunachst dariiber, dass er die Denk- bestimmungen, die Kategorien, betrachtet als Mittel zu einem bestimmten Zwecke, namlich zum Erkennen. Er sagt:*) „Sonach konnen wir dann viel weniger dafiir lial- ten, dass die Denkformen, die sich durch alle unsere Yorstellungen, diese seien bloss theoretisch oder enthal- ten einen Stoff, der der Empfindung, dem Triebe, dein Willen angehort, hindurchziehen, uns dienen, dass wir sie, und sie nicht vielmehr uns im Besitz haben.“ Ebenso wenn er ferner in der weitern Folge Kant tadelt, dass die Dinge sich nach unsern Denkbestimmungen richten sollen, und nicht vielmehr umgekehrt. Er sagt (p. 16): ,,Ebenso, wenn wir von den Dingen sprechen wollen, so nennen wir die Natur oder das Wesen derselben ihren Begriff, und dieser ist nur fur das Denken; von dem Be- griff der Dinge aber werden wir noch viel weniger sagen, dass wir sie beherrschen oder dass die Denkbestimmun¬ gen, von denen sie der Komplex sind, uns dienen, im Gegentheil muss sich unser Denken nach ihnen beschriin- ken und unsere Willkiir und Freiheit soil sie nicht nach sich zurichten wollen.“ Und doch sahen wir, wie durch die physischen Processe der Natur, die Aether- und Luft- scliwingungen, die Cohasionsverhaltnisse der Materie, im Zusammenliang mit den organischen Processen unserer Nervenapparate das Yorstellungsvermogen unserer Seele stimuliert wird, einzelne, isolierte Empfindungen zu erzeugen, die mit den Processen ausserhalb ihrer unvergleichbar sind. Besasse die Seele die Fahigkeit allein, auf Anre- gungen von Aussen Empfindungen zu erzeugen, so bliebe es bloss bei einem Augenblicksbewustsein. Nur vermoge der Funktionenen der Synthesis, Reproduktion, Recogni- *) Yorrede ztir 2. Ausgabe der objektiven Logik p. 1G. (Ges. Werke B. III.) 46 tion, Association kommt die Seele zu ganzen Erapfin- dungs- und Anschauungsbildern, vermdge der Funktionen der Kausalitiit und Substantiality und der Raum- und Zeitanscliauung zur Vorstellung einer Welt praeter et extra nos. Alle diese Funktionen dienen uns somit ge- wisser Massen dock, sind die notwendigen Bedingungen fiir die Moglichkeit einer Erfahrung iiberhaupt. — Wich- tiger fiir Hegeln noch sind dann die Einwiirfe, die er Kanten ferner macht, die Denkbestininmngen nur als iiussere Formen betracbtet zu haben, die nur an dem Gehalt, niclit der Gelmlt selbst sind (p. 17 ff.). Er sagt p. 19: „Was wir als Anfang der Wissenschaft, dessen holier Wert fiir sicli und zugleich als Bedingung der wahrhaften Erkenntniss vorhin anerkannt worden ist, angaben, die Begriffe und die Momente des Begriffs iiber- haupt, die Denkbestimmungen zunachst als Formen, die von dem Stoffe verschieden und nur an ihm seien, zu behandeln, diess gibt sich sogleicli an sicb selbst als ein zur Wahrheit, die als Gegenstand und Zweck der Logik angegeben wird, unangemessenes Verhalten kund. Denn so als blosse Formen, als verschieden von dem Inhalte, werden sie in einer Bestimmung stehend ange- nommen, die sie zu endliclien stempelt, und die Wahr¬ heit, die in sich unendlich ist, zu fassen unfahig macht (cf. p. 27 der Vorrede zur Logik). Diese Einwiirfe aber konnten nur erhoben werden von einer Anschauung aus, die Denken wie Sein identisch haltend und eine absolute Erkenntniss der letzten Endprincipien beanspruchend, diese in den logischen Kategorien findet, sodass die Denk¬ bestimmungen, die logischen Funktionen niclit als Be¬ dingungen der Moglichkeit der Erfahrung iiberhaupt, sondern das innere Getriebe, der lebendige Impuls aller Entwicklung sind. Der Humesche Scepticismus jedoch hat uns zur Geniige belehrt, wie wir niclit anders konnen, als in dem uns dargebotenen Erfahrungsstoffe von der Materie, die auf Affektionen von aussen beruht, das ver- bindende Element, gewisse Synthesen, die Formen abzu- 47 sondern, die wir, weil sie in der. Erfahrung nicht anzu- treffen sind, dem auffassendenSubjektezuschreiben miissen. Wenn wir sie in Folge dessen als bloss logiscbe subjek- tive Funktionen betrachten miissen, die dazu dienen, das gegebene Manigfaltige der sinnlichen Emplindung zu einem gesammten Erfahrungsbilde zu verweben, so kann darin kein unangemessenes Verfahren liegen, sondern dies sind die notwendigen Konsequenzen der Analyse eines Erfalirungsbegriffes. Wenn hierdurch veranlasst diese Formen uns allerdings nicht in Stand setzen, bis auf den tiefsten Grand des Weltganzen zu dringen, son¬ dern uns immer ein unbekanntes Etwas zuriickbleibt, unsere Erkenntniss also immer nur eine subjektive wer- den und bleiben kann, so liegt die Schuld nicht in der Erkenntniss und deren Darstellung, sondern eher in der kosmischen. Einrichtung, vermoge deren wir auf physische Processe (Anregungen) von Aussen immer nur mit einer subjektiven Empfmdungsqualitat antworten konnen, die uns iiber das wahre Wesen der Welt doch nichts aussagt. Alle diese Einwiirfe endlich — iiber die Trennung des Erfahrungsstoffes in Form und Inhalt, liber die Subjek- tivitat und Endlichkeit der Formen, und die daraus ent- springende Unmoglichkeit, „die Dinge an sich“ zu erken- nen —, linden ihren Abschluss schliesslich in der Ansicht Hegels, nach welcher die Logik nicht eine formale Wis- senschaft ist, die uns mit den unabweisbaren Formen des Denkens bekannt macht, sondern wesentlich Metaphysik, welche die logisclie Idee in ihrem reinen „an und fiir sich Sein“ enthalt, die sich vermoge des negativen Mo- mentes, das zu ihrer Natur gehort, durch den dialekti- schen Process rein aus sich entwickelt. Machdem er (Einleitung zur Logik p. 27 ff.) die formale Logik des- wegen getadelt, dass sie von allem Inhalte abstrahiere und nur die Regeln des Denkens lehre, was beruhe auf der ein fiir alle Mai vorausgesetzten Trennung des In¬ halts der Erkenntniss und der Form derselben, oder der 48 Wahrheit und Gewissheit, wodurch zwei von einander ge- trennte Spharen entstunden, eine objektiv fertige Welt und ein Denken, das sicli daran zu erfullen habe, und das somit in seinem Empfangen und Formieren des Stoffes nicht liber sich hinauskomme, also etwas Unvollendetes, Unfertiges sei, fahrt er p. 31 fort: „Die Kritik der For- men des Verstandes hat das angefuhrte Resultat gehabt, dass diese Formen keine Anwendung auf die Dinge an • sich haben. Dies kann keinen andern Sinn haben, als dass diese Formen an sich selbst etwas Unwahres sind. Allein indem sie fur die subjektive Vernunft und fur die Erfahrung gelten gelassen werden, so hat die Kritik keine Aenderung an ihnen Selbst bewirkt, sondern lasst sie fiir das Subjekt in derselben Gestalt, wie sie sonst fiir das Objekt galten. Wenn sie aber ungeniigend fiir das „Ding an sich“ sind, so miisste der Verstand, dem sie angehoren sollen, noch weniger dieselben sich gefallen lassen und damit vorlieb nehmen wollen u (cf. p. 37). Dieser Tadel fallt fiir alle die, fiir welche die Logik nicht Metaphysik, sondern eine formale Wissen- schaft ist, welche uns mit den Regeln des Denkens, als eines seelischen Processes der Verbindung in Urtheilen und Schliissen bekannt maclit. Hieran hat auch die for¬ male Logik so gut ihren Inhalt, wie die absolute meta- physische Logik Hegels. Das Denken, weil nur subjektiv, kann deswegen sicher doch niclits Ungeniigendes oder gar Mangelhaftes sein, sondern wir kennen gar kein an- deres, Denken, als nur ein subjektives, nach gewissen feststehenden Gesetzen, wahrend hingegen die objektive Aussenwelt physisclie Processe sind, die nur durcli unsern subjektiven Faktor als das, was sie sind, erkannt wer¬ den. Alle diese Einwiirfe und Tadel somit, die wir bis- her betrachtet haben, beruhen auf der monistischen Grundanschauung Hegels, nach welcher die Logik we- sentlich als Metaphysik, die eine sich entwickelnde lo- gische Idee, den Grund alles Daseins, suhjektiven wie ohjektiven enthalt. Der zweite Theil unserer Unter- 49 suchung aber hat uns hinlanglich bewiesen, wie die 11 a- turwissenschaftlichen Thatsachen uns zwingen, von diesem einen logischen Processe, der in seinen letzten Endprin- cipien nichts als abstrakte Begriffe obne Inlialt und jegliche Bedeutung darstellt, abzustelien und der Natur ihre Selbstandigkeit zu vindicieren: fur wen also diese einseitige Ueberliebung des intellektuellen Faktors, dieser absolute Denkprocess keine objektive Gtiltigkeit hat, fur wen das Denken niclit dieser absolute Process, sondern subjektive seelische Akte sind, fiir den konnen auch diese Einwiirfe Hegels gegenliber Kanten keine maassgebende Bedeutung und Gtiltigkeit haben. Anderer Art aber sind die Einwiirfe, die Hegel Kanten maclit liber die Herleitung der Kategorien, ihrem notwendigen Nachweis und Zusammenhang. „Bekannt- lich, sagt er § 42 der Encyklopadie, hat es die Kantsche Philosophie sicli mit der Auffindung der Categorien sehr bequem gemacht. Ich, die Einheit des Selbstbewusst- seins, ist ganz abstrakt und vollig unbestimmt; wie ist also zu den Bestimmungen des Ich, den Kategorien zu kommen? Gliicklicherweise finden sich in der gewohn- lichen Logik die verscliiedenen Arten des Urtheils bereits enipirisch angegeben vor. Urtheilen aber ist Denken eines bestimmten Gegenstandes. Die verscliiedenen sclion fertig aufgezahlten Urtheilsweisen liefern also die ver- schiedenen Bestimmungen des Denkens. Der Fichte- schen Philosophie bleibt das tiefe Verdienst, daran er- innert zu haben, dass die Denkbestimmungen in ihrer Notwendigkeit aufzuzeigen, dass sie wesentlich abzuleiten sind.“ Ebenso, wenn er (Logik, Einleitung p. 32) sagt: Jene Kritik hat die Formen des objektiven Denkens nur vom Ding entfernt, aber sie im Subjekt gelassen, wie sie sie vorgefunden. Sie hat dabei namlich diese Formen niclit an und fiir sich selbst, nach ihrem eigenthiimlichen Inlialt betrachtet, sondern sie lemmatisch aus der sub- jektiven Logik geradezu aufgenommen, so dass von einer Ableitung ihrer an ihnen selbst, oder auch einer Ablei- 4 50 tung derselben als subjektiver, logisclier Formen, noch weniger aber von der dialektischen Betraclitung dersel¬ ben die Rede war. u Ungerechtfertigt sind diese letzteren Tadel, dass Kant die Formen des Denkens ohne Wei- teres vom Ding entfernt und in das Subjekt iibertragen babe, ohne sicli weiter Recbenschaft dariiber zu geben. Das hat Kant nicht gethan; im Gegentheil leuchten mit strengster Evidenz die Griinde bei ilirn hervor, warttm die Formen dem Subjekt, und zwar allein deni Subjekte zuzuschreiben sind. Alle unsere Erkenntniss wird zu- nachst bewirkt durch die Sinnlichkeit, die uns diese Materie der Tlrfahrungserkenntniss liefert. Diese kann aber nur dann zu einem geordneten empirischen An- schauungsbilde werden, wenn vom Subjekt gewisse Syn- thesen ausgehen, welclie das Manigfaltige der einzelnen Empfindungen zu Gesammtbildern verbinden. Alle diese Formen sind daher als wesentliche Funktionen nothwen- dige Bedingungen fiir die Erfahrung, und sie sind allein, weil die Sinnlichkeit uns dieselben nicht liefern kann, dem Verstande zuzuschreiben. Gerechtfertigter aber je- denfalls sind die Einwiirfe betretfs der Ableitung und Herleitung der Denkbestimmungen aus dem Subjekt, dem Aufzeigen ihrer immanenten Nothwendigkeit, womit Kant es sicli zu leicht gemacht hat. Allerdings liesse sicli gleich von vorn herein zur Entschuldigung Kants anfiihren, dass es ilirn nicht um einen genetischen (im Sinne Lockes vielleicht physiologischen) Nachweis der Denkfunktionen zu thun war, sondern dass im Wesent- lichen sein Hauptbestreben daliin ging, das aprioristische Besitzthum der reinen Vernunft nacli einem einheitlichen Princip, dem Vermogen zu urtheilen, darzulegen, so dass es ihm begegnen konnte, dass er iiber die Urtheile, deren Entstehung und Anordnung, leichter hinwegging. Ohne nun alier Ilegel beistimmen zu konnen, der das Ableiten und das Aufweisen der Notwendigkeit vermoge des dialektischen Processes haben will, miissen wir die Einwiirle gegen diesen Tlieil der Kantschen Lelire doch 51 anerkennen. Kant recurriert bei cler Analyse der aprio- ristischen Formen einfacli zuriick bis auf die Tafel der Urtbeilsformen. Woher aber die Urtheile entspringen, und ob die Arten der Urtheile, die in der Tafel ent- halten sind. gerechtfertigt sind, ihre Anordnnng und Zahl, lasst er ganz unberiicksichtigt. Er nimmt die Ur¬ theile so auf, wie er sie vorgefunden und fiihrt die ganze Stelle ein mit folgenden Worten*): „Wenn wir Yom Inhalt eines Urtheils iiberhaupt abstrahieren und auf die blosse Verstandesform darin Acht haben, so fin- den wir, dass die Funktionen des Denkens unter vier Titel gebracht werden konnen, deren jedes drei Momente unter sich enthalt. Die Anordnung nach Quantitat, Qualitat, Relation, Modalitat ist sicher schon eine falsche, aber auch die Zahl der Urtheilsarten wird sich nicht festhalten lassen. Im Wesentlichen werden wir nur zwei Arten von Urtlieilen anzunehmen haben, die kategorischen und hypothetisclien, von denen jedes wieder, je nach dem Inhalte dessen, was gedacht wird, qualitativ oder quantitativ sein kann, hervorgerufen durch die Fahigkeit unserer Seele, Aehnlichkeit und Unahnlichkeit, Gleich- lieit und Verschiedenheit mehrerer Yorstellungen wieder zu erkennen. — Noch mangelhafter ist dann jedenfalls die Art und Weise, wie Kant von den Arten des Urtheils zu den Kategorien als den reinen Stammbegriffen des Verstandes kommt. „Dieselben Funktionen, welche den verschiedenen Yorstellungen in einem Urtheile Einheit geben, die geben auch der blossen Synthesis verschiede- ner Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche allgemein ausgedriicktdie reinen Verstandesbegriffe heissen. Auf solclie Weise entspringen grade so viele reine Ver¬ standesbegriffe, welche a priori auf Gegenstande der An¬ schauung gelien, als es in der vorigen Tafel logische Funktionen in alien moglichen Urtlieilen gab; denn der Yerstand ist durch gedachte Funktionen vollig erschopft *) Kr. d. R. V. ed. Hartenstein p. 100. 4 * 52 and dadurch sein Yermogen giinzlich ausgemesse:n.*)“ Ohne den tiefern Grund angegeben zu sehen, warum ge- rade aus den logischen Funktionen der Urtheile Yer- standesbegriffe entsteben sollen, ist es aucli unmbglich, ajle diese Kategorien festzuhalten. Versteht man unter Kategorien oder Stammbegriff des Verstandes eine ganz universelle Denkform oder Denkfunktion, die durchaus urspriinglich, weder aus der Erfahrung noch aus ur- spriinglicheren Anlagen abgeleitet sein darf, so konnen wir deren nur zwei, die der Kausalitat nnd der Substan¬ tiality festhalten, ohne deren Vorhandensein, wie gezeigt worden ist, gar keine Erfahrung zn Stande kommen konnte. Alle iibrigen erweisen sich, wie Liebmann klar dargethan hat,**) als mehr oder weniger unpcht. Diese ganze Partie der Kantischen Kritik ist kein wissenschaft- licher Nachweis, sondern mehr eine Yersicherung, die er gibt, und die Einwiirfe, die ihm hier gemacht wer- den, sind daher wohl berechtigt. Die notwendige Her- leitung der Kategorien, der wissenschaftliche Nachweis, wie durch sie und einzig durch sie eine Erfahrung zu Stande kommen konnte, fehlt hei ihm ganz. Wir werden die Schwache der Kantischen Kritik in diesem Punkte um so mehr anzuerkennen haben, wenn wir sehen, wie ihm dieselben Einwiirfe auch von dem antipolarischen Gegner Hegels Herbart gemacht werden. In seiner Metaphysik, bei Gelegenheit einer Kritik des Kantianismus, tadelt Herbart Kanten wegen derselben Punkte:***) „Die ganze Deduktion Kants liegt in den Worten: „so finden wir! Ein sclilechtes Fundament fiir eine Lehre, welche das Vermogen des Yerstandes aus- messen wollte! Gesetzt aber, die bekannte Tafel der Urtheilsformen hatte wirklich, was sie nicht hat, wesentlich innern Zusammenhang: so musste noch ein Sprung go- *) Kr. d. R. V. ed. Hart. p. 106. **) Liebmann, objektiver Anblick p. 120—126. '**) Herbarts Metaphysik ed. Hart.enstein I. § 35 ff. p. 122. 53 maolit werden, wenn Urtheilsformen der leeren Logik sicli in metaphysische Erkenntnissbegriffe verwandeln sollten.“ In der That sielit man bei Kant niclit ein, wie wir auf einmal von den logischen Funktionen im Urtheilen zu den Kategorien kommen, die dieselben Arten der Verbindung enthalten sollen. Ein unausge- fullter Sprung findet statt und dies mochte vielleicht auch der Grand dafiir sein, dass Kant so viele Kate¬ gorien annimmt, die gar niclit fiir Kategorien gelten konnen. Der wissenschaftliche Nacliweis felilt, und hierin sind die Einwlirfe beider Philosopher, Hegels wie Her- barts, die dock sonst in iliren philosophisclien Anschau- ungen sicli gegeniiber stehen, Kant gegeniiber bereclitigt. Ob nun aber die iibrigen Einwlirfe Herbarts ebenso be- rechtigt sind. wird das Folgende zeigen. Herbart, der sicli selbst als Kantianer bezeiclmet, steht in manchen Bezieliungen, durch die Behauptung der Nichtidentitat von Sein und Denken, der Unerkennbarkeit der Qua- litaten der Realen, der Unerreichbarkeit einer spekula- tiven Gotteserkenntniss, Kant ungleich naher als Hegel, in anderen aber aucli um so entfernter. Die Gebiete, in denen sie sicli am schroffsten gegeniiber stehen, sind nachst der Etliik wolil die psychologischen und im Zu- sammenhang damit die metaphysisclien Fragen. Daliin werden daher folgerichtig auch zunachst die Einwlirfe sicli richten. Den ersterwahnten berechtigten Einwiirfen gegen die Kantische Kategorientafel stehen zunachst die gegen die ganze psychologische Grundanschauung Kants. Grade entgegengesetzt der Herbartsclien Ansicht von der Seele als einem einfachen, realen Wesen oline jeg- liclie Anlagen und Yermogen ist die Kantsche Annahme zunachst eines Yorstellungsvermogens mit Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft. „Die psycholo- gisclien Voraussetzungen, sagt Herbart*), nacli welchen *) Lehrbuch zur Einleitung in die Pliilosopliie § 150, p. 233. 54 die verscliiedenen Seelenvermogen aDgenommen sind, und- worauf die gauze Kritik des Erkeimtnissvermdgens ge- baut ist, sind selbst als Auffassungen der Tliatsacken des Bewusstseins in jedem Punkte unsicher und veil von Erschleichungen. In die liieraus gebildeten Begriffe von Seelenvermogen misclien sicli die Erklarungen, welcbe wir hinzudenken und der Wahrnehmung unvermerkt un- terschieben. Daliin gehort Kants Yoraussetzung, dass zur Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen eigne Hand- lungen des Gemiiths, mithin Seelenvermogen noting seien; wahrend die Erfahrung das schon Yerbundene, aber niemals eine ganz robe, formlose Materie des Gegebenen, noch weniger eine Handlung des Yerbindens eines nocli formlosen Stoffes zu erkennen giebt.“ (Cf. Metaphysik I. § 33). Hierzu vergleiche man, was Herbart Psycho- logie als Wissenschaft § 152, p. 109 sagt: „Die Seele bat keine Anlagen und Vermogen, weder etwas zu em- pfangen noch zu produciren.“ Die Grundanschauung, die Herbarts Psychologie von Anfang bis Elide beherrscht, ist: Die Seele ist so gut wie die iibrigen Realen, auf die er in der Metapbysik gekommen ist, ein einfaclies, reales Wesen, oline irgend welcbe urspriingliche Anlagen und Fahigkeiten, sondern wird allein durcli die Einwir- kungen und Storungen der iibrigen Realen, welche durcli ibr zufalliges Zusammensein die Objekte der materiellen Welt bilden, zu Selbsterhaltungen genbtigt, welcbe die Yorstellungen bilden. Diese Yorstellungen als Selbster¬ haltungen der Seele bilden die Grundlage unseres ganzen geistigen Empfindungs- Gefubls- Willensleben. Sie werden, indem sie einander widersteben, zu Kraften, die sicli gegenseitig bemmen oder unterstiitzen, und so ins Gleicb- gewiebt bringen. Gehemmte Vorstellungen werden niebt vernichtet, sondern nur zuriickgedrangt, verdunkelt, sie verwandeln sich in ein Streben vorzustellen, *) an welches *) Psychologie als W. 11 , 12 p. 16. sich die Gefiihle der Lust mid Unlust kniipfen. „Fiihlen und Begehren sind zunachst Zustande der Vorstellungen, und zwar grosstentheils wandelbare Zustande der letzte- ren,*) hervorgerufen durch die Hindernisse oder Be- giinstigungen, die beim Wiederemporkommen gewisser Vorstellungen von andern ihnen herbeigebracht werden. „Diese Begiinstigung ist eine Bestimmung dessen, was im Bewusstsein vorgeht, aber keineswegs eine Bestim- mung irgend eines Vorgestellten, sie kann also nur ein Gefiibl heissen, ohne Zweifel ein Lustgefuhl.“ **) Und ebenso ist beim Begehren. und in dessen hochster Po- tenz beim Wollen, eine Vorstellungsmasse die herrschende, durch welcbe der handelnde Wille des Menscben be- stimmt wird. „Dieses Streben der Vorstellungen nahmlich, sagt Herbart,***) ist das, was unter dem Namen Be- gebren, Leben, Trieb, reale Thatigkeit falschlich als eine zweite, urspriingliche Qualitat, als ein eignes Vermbgen, neben das Vorstellungsvermbgen gestellt wurde. u I)iese Mechanik des Geistes, dieser Wechsel der Vorstellungen. das gegenseitige Hemmen nnd Empor- helfen, das Herrscben irgend einer bestimmten Vorstel¬ lungsmasse ist das, was Herbart an die Stelle der ur- sprimglicben Seelenvermogen gesetzt ha ben will. So be- wundernswertb auch das einbeitlicbe Gauze seiner psy- chologischen Anscbauung ist, so ist doch wohl eine unlaugbare Thatsache, selbst wenn wir alle Vermogen der Seele negiren wollten, dass wir ibr auch nacb Herbart die Fahigkeit zuschreiben mussen, sich gegen die Ein- wirkungen der andern Realen selbst zu erbalten, und hierdurcb die Vorstellungen hervorzurufen. Besasse sie diese Fahigkeit nicht, die ja doch auch eine sich aussernde Wirksamkeit ist, so horte dadurch das ganze geistige *) Psychologie als W. 33, p. 29. **) Psychologie als W. 37, p. 32. ***) Lehrbuch zur Einleitung i. d. Ph. § 15 S, p. 262 . 56 Leben auf. Ausserclem muss die Seele ja dock aucli gegen die Einwirkungen verschiedener Eealen sick ver- schieden verhalten, um die generell verschiedenen Em- pfindungen der Farben, Tone etc. bervorzubringen. So ganz olme Faliigkeiten ist also aucli die Seele nacli Herbart niclit. Ausserdem sagt ja dock dieser selbsU Gefiihle sind Zustande und zwar wandelbare Zustande der Vorstellungen, also zunachst nicht dasselbe, was Vorstellungen sind, sondern Zustande, die von der gros- sern Hemmung oder Freiheit der Vorstellungen ablian- gen; besiisse also die Seele die Fahigkeit nicht, durcli den Lauf der Vorstellungen bewirkt, sicli zu diesen Zu- standen der Lust und Unlust zu bestimmen, so konnte sie derselben aucli niclit inne werden. Endlich diirfen wir wollen nicht mit vorstellen und Willen nicht mit Vorstellungsmasse verwechseln, so miissen wir der Seele aucli die Ealiigkeit zuschreiben, durcli Vorstellungsmassen, die gegen einanden reagieren, Ueberlegungen, die mit ein- ander kampfen oder sicli aussohnen, veranlasst, Willens- impulse zu erzeugen, durcli welclie vorgesetzte Zwecke erreicht werden. Wir selien also, dass wir trotz der Mechanik des Geistes, dem Sinken und Wiederaufsteigen der Vorstellungen, deni gegenseitigen Hemmen und Be- freien, doch wegen der generellen Verschiedenheit der einzelnen Zustande der Seele die Faliigkeiten zuschreiben miissen, diese von einandcr gesonderten, aber doch durcli einander bedingten und von einander abhangigen Zu¬ stande des Empfindens, Fiihlens, Wollens zu erzeugen. Was nun aber die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand anlangt, so miissen wir durch die Thatsachen der Erfahrung genotigt zunachst der Seele die Fahigkeit zuschreiben, auf Reize von Aussen her Empfindungen zu erzeugen, was nach Herbart die Selbsterkaltungen sind. Alle diese Empfindungen, oder Selbsterhaltungen der Seele gegen die Storungen anderer Eealen wiirden aber doch immer nur trotz der Einheit der Seele Einzelem- pfindungen bleiben, einzelne bewusste Zustande, gienge 57 4 nicht von der Seele eine Thatigkeit aus, welche diese einzelnen Empfindungen in das anschauliche Bild eines Ganzen vereinigte. Ferner wiirden dies immer nur be- wusste Zustande innerhalb der Seele, dieses einfachen Bealen sein, sie wiirde durch die einfachen Selbsterlial- tungen nie zu dem Bewusstsein einer von ihr getrennten Aussenwelt gelangen. Hier stehen sich beide Philosophen, Herbart und Kant, schroff entgegen. Herbart trennt wic Kant gradeso den Inlialt des Erfahrungsstoffes von der Form, behauptet aber, dass die Seele im Besitze von gar keinen angebornen Formen und Funktionen sei. In seiner Einleitung zur Philosophic § 122 p. 156 ff. sagt Herbart: „Die Betrachtung der Dinge mit mehreren Merkmalen haben wir so weit gefiihrt, dass der Begriff von dem Dinge selbst als dem unbekannten Besitzer mehrerer Eigenschaften zum Vorschein kam. Dahin treibt uns die zwar ratselhafte, aber dennoch unleug- bare Form des Gegebenen, nach welcher die Materie desselben (die einfachen Empfindungen) nicht einzeln, sondern in bestimmten Gruppen -an getr often wird; — „wir finden uns also gebunden, nur die bisherigen Komplexio- nen fur gegeben gelten zu lassen, und diess lieisst eben so viel, als sie sind uns wirklich gegeben." — Ueber den Ivausalbegriff sagt er § 123 p. 159 ff. „Die Erfahrung bringt uns dahin, dass wir aus allem, was zugleich ge- schieht, einiges Vorhergehende herausheben, um es mit einigem Folgendem zu vcrbinden; und dass wir alles iib- » rige, gleichzeitig Vorhergehende, als fur jenes bestimmte Folgende unbedeutend und mit ihm nicht zusammen- hangend ansehen, dagegen aber das herausgehobene Vor¬ hergehende und Folgende als unzertrennlich betrachten. Noch mehr: diese herausgehobene Folge von Er- scheinungen finden wir wieder, und erwarten sie wieder in der Zukunft. Fragen wir nun nach dem wahrgenom- menen Bande, welches die Unzertrennlichen zusammen- lialte, wahrend es die zufalligen Nebenumstande zur Seite lasse, so vermissen wir freilich dessen Erscheinung; 5S es ist weder fur sicb all ein, noch in dem Verbundenen sichtbar. Versuchen wir aber, statt des bisber angenom- menen Bandes ein anderes unterzuscbieben, — versuchen wir also, aus gewissen Yorzeichen andere Erfolge statt der bisherigen zu erwarten (als ob es einerlei ware, welche Ursachen man welchen Wirkungen zueignen wollte) — so linden wir uns aueb bier genotbigt, es beim Alten zu lassen; d. b. wir miissen also auch hier das Band der Erscbeinung fur ein gegebenes gelten lassen, wenn wir schon nicbt begreifen, wie es kann ge- geben sein.“*) I)azu vergleiche man, was Herbart Psy¬ ch ologie p. 109 sagt: „Die Seele ist keine tabula rasa in dem Sinne, als ob darauf fremde Eindriicke gemacht werden konnten; auch keine in urspriinglicher Selbst- tbatigkeit begriffene Substanz, in Leibnizens Sinne. Sie bat urspriinglich weder Vorstellungen, nocb Gefuhle, noch Begierden; sie weiss nicbts von sicb selbst und nicbts von den Dingen; es liegen auch in ihr keine Formen des Anschauens und Denkens, keine Gesetze des Wollens und Handelns; auch keinerlei, wie immer ent- fernte, Vorbereitungen zu denselben. u Alle Formen also, sie mogen sein, welche sie wollen, empiriscke, wie aprio- rische nach Kant, sind durch die Erfahrung gegeben. Was die empiriscben Formen anlangt, so bat Herbart sicher Recbt. Wir sind total in unsern empirischen An- schauungsbildern gebunden, wir konnen nicbt irgend einer beliebigen, in einer bestimmten Form gegebenen Sum me von Empfindungsqualitaten, die das Gauze eines empirischen Anscbauungsbildes ausmacben, irgend welche von uns gewahlte Form hinzuthun, sondern miissen die Form, in welchen die Empfindungsqualitaten sicb uns darbieten, annehmen, sie ist uns oktroyirt. [Inter den- *) Cf. Einleitung in d. Philosophie § 149, 150, § 23. Allg. Metaphysik § 32— 39. Psychologie als Wissenschaft p. 49, 109, 255. 5 ( J selben Umstanden werden dieselben Empfindungsquali- taten in denselben empirischen Formen uns gegeben. Jene feststehenden empirischen Formen mlissen herriihren von den Kelationen und Wirksamkeiten jenes unbekann- ten Etwas, das unabhangig von uns Trager der Welt- entwicklung ist. Aber Herbart iibersah, dass alle diese Empfindungsqualitaten, alle diese Selbsterhaltungen, wenn auch von andern Realen erregt, dock nur subjec¬ tive einzelne Zustande des einen Realen, der Seele sind. Wie aber kommen die Yorstellungen als Selbsterhaltun- gen aus ihr hinaus, und sie zum Bewusstsein einer von ihr getrennten Welt? Einzig und allein durch die see- lischen Funktionen der Kausalitat und Substantialitat, durch welche sie auf ein von ihr unabhangiges Etwas schliesst, das Grund und Trager der Empfindungsqua¬ litaten ist. Einzig und allein dadurch, dass sie vermoge der Eunktion der Raumanschauung die Empfindungsbilder der Netzhaut in einer der Grosse und Lage des Bildchens entsprechenden Weise aus sicli herausprojiciert. Alle die einzelnen Empfindungsbilder mussten sonst subjektive Zustande ihrer selbst bleiben. Hier aber tritt uns trotz alledem immer noch der Einwurf entgegen, wie solle man sicli denken, dass die Seele im Besitze solcher Be- grifie und Formen sei, zumal Begriffe ja doch nur Pro- dukte der abstrahierenden Thatigkeit des Denkens seien? Gewiss darf man sich das Verhaltniss nicht so vorstellen, als schaute die Seele fortwahrend den absoluten Raum und die absolute Zeit an, und als ware sie im Bewusst¬ sein dieser abstrakten Begriffe. Was sie vollzieht, sind die Funktionen der Raum- und Zeitanschauung und die Funktionen der Kausalitat und Substantialitat, gewisse Thatigkeitsweisen, welche die Sprache allmahlich mit diesen Namen bezeichnet hat. Erst allmalich und nur in geringer Anzahl kommen die Menschen zu dem Be¬ wusstsein des absoluten Raumes, als der nacli drei Rich- tungen bin sich erstreckenden Ausdehnung, und der ab¬ soluten Zeit, als dem absoluten Nacheinander. Ein nur 60 gcringer Theil der Menschen hat eine Yorstellung von dem Begriffe der Kausalitat, obwolil die Seele fortwahrend diese Funktion vollzieht. Somit also miissen wir dock darauf zuriickkoramen, dass gewisse Thatigkeitsweisen der Seele immanent, von aussen her zu ilirer Wirk- samkeit angeregt, die einzigen Bedingungen fiir die Mog- lichkeit der Erfahrung sind. Der andere Theil der Einwiirfe ist wesentlicli me- taphysischer Art., Indem Herbart iilinlich wie Hegel den Intellekt, das Denken, iiber das Moment der Anschauung erhebt, findet er in den durch die Erfahrung gegebenen Begriffen Widerspriiche, mit deren Beseitigung sich nun die Philosophie zu beschaftigen hat. Philosophie ist daher fiir ihn wesentlicli Bearbeitung der Begriffe. Diese widersprechenden Begriffe sind der Begriff des Dinges mit melireren Merkmalen, der Begriff des Dinges mit wechselnden Merkmalen, der Begriff der im Raum aus- gedelmten Materie, und endlich der Begriff des in der Zeit beharrenden Ich. Diese Widerspriiche sind aus den Formen der Erfahrung hinwegzuschaffen, sodass jene Be¬ griffe an sich logisch richtig und widerspruchslos werden. Da jene ferner sich linden in der Spluire des Gegebenen, dieses aber nur Schein ist, dem ein wahres Reale zu Grunde liegen muss, so kommt es darauf an zu finden, wie wir das wahrhaft Reale denken miissen, ■ damit sich aus ihm jene Widerspriiche erklaren und beseitigen lassen. Den Kantschen Begriff des Seins,*,) als der ab- soluten Position, auf das wahrhaft Reale anwendend, findet Herbart, dass das Reale, damit es die absolute Position vertragen konne, sein mussel) schlechthin posi- tiv und affirmativ, oline Einmischung von Ncgationen. 2) schlechthin einfach. b) alien Begriffen der Quantitiit schlechthin unzuganglich. 4) wie viel es aber sei, bleibt durch den Begriff des Seins ganz unbestimmt.**) Durch *) Kr. d. E. V. ed Hartenstein p. 435—440. **) Metaphysik ed. Hartenstein § 205—208. 61 diese einfachen realen Wesen, die durch die gegebenen Widerspriicbe und den Begriff* der absoluten Position ge- funden sind, ist es nun moglicb, alle die durch die Er- fabrung gegebenen Widerspriicbe zu erklaren. Beim Be- grifte des Dinges mit vielen Merkmalen sind wir genotigt, eine Einlieit zu denken, die dock nab or betrachtet cine Viellieit von sinnlic.ben Merkmalen ist. Da jeder Scbein auf absolutes Sein hindeutet, so miissen zur Erklarung der vielen Eigenscbaften auch viele Reale angenommen werden. Das Ding mit vielen Eigenscbaften wird somit zu einem Komplex vieler realer, einfacber Wesen, die durch ihre Verbaltnisse zu einander und zu uns das her- vorbringen, was wir sinnlicbe Eigenscbaften nennen. Damit es aber moglich ist, dass diese vielen sinnlichen Eigenscbaften zur Einbeit verkiiiipft erscheinen, muss ein Reales angenommen werden, welcbes als Urgrund mit alien iibrigen Realen, und diese mit ibm, in Yerbindung und Zusammenhang stebt. Aus diesem Ideengange er¬ klaren sich nun die gegen Kants Metapbysik erbobenen Einwurfe. „Aber wenn Kant den wabren Begriff des Seins besass (und daran ist nicbt zu zweifeln), so sagt Herbart,*) wie bat er ibn gebraucbt? Was bat er als seiend gesetzt? Darnach sucbt man in seiner ganzen Lelire vergebens. Sie hat keinen Rubepunkt ausser alien- falls in ihren Glaubensartikeln.“ Und ferner § 39 der Metapbysik: „Die alte Metaphysik bat dieses Problem (namlich der Dinge mit bestandigen und wechselnden Merkmalen) nicbt vollstandig erkannt, viel weniger es geborig bebandelt. Aber die Kantscbe Kritik, weit ent- fernt, sie daran zu erinnern und ihr das Geschaft zu erleicbtern, bat vielmehr sie vollends davon abgelenkt und selbst die \ r orbereitungen, welcbe schon gemacbt waren, wieder in Vergessenheit gebracbt. Das eigentlicb metapbysiscbe Wissen ist durcli Kant nicbt von der *) Metapliysik § 32. p. 118. 62 Stelle gckommen. Die Fragen darnach sind aucli niclit aufgeboben, niclit beseitigt worden, sie stehen noch, wie sie gestanden haben und warten auf AntwortA Doch Kant bat die Veranlassung gar niclit gebabt. wie Her- bart, den Begriff der absoluten Position in einer solcben Weise zu gebraucben, da er Widerspriiche in den Er- fabrungsbegriffen gar niclit kannte, wesbalb es notig gewesen ware, ein vielfaclies Reale anzunehmen. Diese Realen als „Dinge an sicb“ bleiben aber ebenso, wie bei Kant, ihrer wesentlichen Qualitat nacli unbekannt. Der Fortscbritt und die Verbesserung durch Herbart ware dann, dass anstatt des Kantscben „Dinges an sich,“ eines unhaltbaren Begriffs, durcb eine formelle Yerviel- faltigung viele Etwas, Reale, angenommen werden, die, Produkte des abstrabiereiiden Denkens, ibremlnbalte nacli unbekannt, also Abstraktionen olme Inbalt sind. Abge- seben davon, dass wir der psycbologiscben Anscbauung Herbarts von der Seele als einem einfacben Realen oline jeglicbe Anlagen und Fabigkeiten niclit beistimmen konn- ten, geraten aucli in metapbysiscber Hinsicbt die Realen dadurcb in Widersprucb, dass sie raumlos und docb Raum bildend sein sollen.*) Yielleicbt behaupten wir niclit zu viel, wenn wir grade liierin zwiscben Hegel und Herbart trotz ihrer sonstigen Gegensatzliclikeit eine gewisse Aebnlicbkeit an- erkennen miissen, berubend auf einer einseitigen lleber- bebung des intellektuellen Faktors gegeniiber der Sinn- licbkeit und einem daraus entspringenden monistiscben Grundzug, der in psycbologisclier wie metapbysiscber Hinsicbt beide Systeme beherrscbt, sodass derselbe Ein- wurf, der die Hegelscben Denkbestimmungen trifft, dass sie leere Abstraktionen ohne ein ,,Was u sind, vielleicbt auch Herbarts Reale trifft. Unsere metapbysiscbe Erkenntniss ist somit aucli + ) cf. Liebmann, Kant und die Epigonen ]). Ill —139. ♦ — 03 — heute nocli niclit weiter vorgeriickt, sofern bei aller em- pirischen wie spekulativen Forschung, die in ihrem letzten Endresultat dock stets von deni subjektiven Fak- tor mitbestimmt ist, bleibt uns stets, allerdings niclit ein Kantsclies „Ding an sich u , aber docb ein Etwas zurlick, iiber dessen qualitative Natur etwas auszusagen, uns jegliclie Mittel felilen. Wir werden somit aucb diesen Einwiirfen Herbarts gegen Kant, dass er die Metaphysik niclit getordert und seine ricbtige Erkenntniss nicht be- nutzt babe, niclit beistimmen konnen und als letztes End¬ resultat wolil dies festhalten miissen: dass mit Abrechnung jener Partie der Herleitung, Anordnung, Anzahl der Denkfunktionen, wo die Ein- wiirfe beider Manner, Hegels wie Herbarts gerecht- fertigt sind, und des „Dinges an sich,“ sonst im Wesentliclien die metaphysische Grundanschauung Kants nocli heute gilt. Seiner dualistisclien Grundanschauung der Dinge im Uebrigen beitretend miissen wir durch die Resultate der Naturwissenschaften bewogen, von den pliy sisch-organischen Processen ausserlialb und innerhalb unser, denen als Trager ein seiner Qualitat nacli unbekanntes Etwas zu Grimde liegt, das in einem abstrakten Ausser-, Keben-, Nacheinander und dadurch in ununterbrocliener Relation stehend unser seelisches Princip absondern, das angeregt, vonaussenEmptindungen, Gefuhle, Willensimpulse erzeugt. Als einem lebendigen, bewegenden Princip miissen wir diesem zweiten Faktor unserer Erkenntniss, obwohl seiner Qualitat nach unbekannt, dock zum Zwecke der Erf ah rung' eine Erregbarkeit vonaussen uud Selbstthatigkeit von innen zuschreiben, die da gipfeltin den Funktionen der Synthesis, Keproduktion, Recognition, Association, der Kausalitat und Substantiality (letztere bewussten und unbewussten Scliliissen vergleichbar), endlich der Raum- und Zeitfunk- tion, wodurch es zur Erkenntniss einer sinnlich real objektiven Welt gelangt. Im Denken, als einem seelischen Akt der Verbindung, v des Trennens, Vergleichens, Ab- 04 strahierens werden diese Begriffe, von der Spraclie niit Xamcn belegt, zu Urtheilen und Schliissen vereinigt und durch die Thatigkeit -des Abstrahierens zu immer ab- strakteren und umfassenderen Begriffen ausgebildet. Durch Aufmerksamkeit auf ilire eigenen geistigen Thii- • tigkeiten endlich gelangt die Seele in den Besitz von den Vorstellungen des Yorstellens, Fiihlens, Wollens, Denkens, /weifelns, Glaubens etc., die uns liber das essentielle We- sen derselben nicbts aussagen, sondern nur Manifesta- tionen ilires eignen innern Lebens sind. Somit stelit im grossen Ganzen und Wesentlichen aucb heute noch die psycliologisch-metaphysische Grund- anscliauung Kants als ein unerschiitterlicher Fels mitten im Gewoge der Stiirme test. Leipzig, Druck von A. Edelniann, LTniyerBitats-Buchtlruckei*. 3 0112 072869727